Erschienen in Ausgabe: No 96 (02/2014) | Letzte Änderung: 24.01.14 |
von Heike Geilen
Wissen
Sie eigentlich, wie viel Sie wert sind?
Was
für eine Frage! Als ob man ein Menschenleben mit Geld aufwiegen könnte, werden
Sie entrüstet ausrufen. Doch der abscheulich-absurde materielle Wert, der
wahrlich tagtäglich durch Rentenversicherungsanstalten, Krankenkassen oder der
Börse "ermittelt" wird, soll nicht Gegenstand der Betrachtung sein.
Lenken Sie Ihre Überlegungen also eher auf den ideellen und den inneren Wert.
Allerdings lässt sich auch da keine spontane Antwort aus dem Ärmel schütteln,
unterliegt dieser doch einer äußerst individuellen Einschätzung. Für jemand
ganz spezielles sind Sie wahrscheinlich alles, für die allermeisten jedoch
nichts. Daher soll die Frage noch etwas spezifiziert werden: Welchen Wert haben
Sie für sich selbst? Auch hier wird man wahrscheinlich nicht viel weiter
kommen. Denn was versteht man eigentlich unter selbst? Hirn und Herz, Denken
und Fühlen, Körper und Verstand? "Was ist überhaupt das 'Selbst', was das
Ich... und wer bin ich?"
Unsere
Psyche ficht einen ständigen Lebenskampf. Unser ganzen Fühlen, Denken, Streben
und Hoffen dreht sich, auch wenn wir es nicht bewusst wahrnehmen, permanent um unseren
Eigenwert. "Wir stürzen uns auf 'Erkenne dich selbst'-Tests und zahlen
viel Geld für die Suche nach dem unbekannten Selbst und den wahren Werten. Wir
fahnden nach unserem virtuellen Selbst im Internet und stürzen uns mit
voyeuristischer Gier auf Einträge in Facebook. Wenn es um Selbstwert geht, ist
aber nicht nur dessen Art, sondern mehr noch das rechte Maß entscheidend. Der
gesunde, gesellschaftlich verträgliche Selbstwert ist in der Mitte zwischen
Selbstlosigkeit und Egoismus, zwischen Minderwertigkeitskomplexen und
übersteigertem Selbstvertrauen, zwischen Demut und Stolz, zwischen
Selbstverleugnung und Anspruchshaltung angesiedelt.", weiß Dr. Reinhard
Haller, Arzt, Psychotherapeut und einer der renommiertesten Gerichtspsychiater
Europas. Um die Übersteigerung des Wertes unseres Selbstseins geht es in seinem
Buch. "Zu hoher Selbstwert führt zu Verhaltensstörungen,
Beziehungsproblemen und letztlich oft zu Vereinsamung. Die Frage des Narzissmus
ist eine Frage des Selbstwertes.", so Haller.
Narzissmus
und all sein Gefolge wie Hochmut, Eitelkeit, Hysterie und Gier gewinnen immer
mehr an individueller und gesellschaftlicher Bedeutung. Unsere Wahrnehmungen,
Beurteilungen, Einstellungen und persönlichen Ausrichtungen sind zunehmend
narzisstisch geprägt. Werden wir tatsächlich immer ichbezogener und
selbstverliebter? Spiegeln sich in Selbstdarstellung und Gefühl der eigenen
Grandiosität vielleicht gar gesellschaftliche Grundstimmungen wider? Gehört zu
modernen Lebensprinzipien die Eigenidealisierung und Entwertung anderer dazu?
Ist es vielleicht gar möglich, den virtuellen Narzissten aus den im Internet zu
findenden Spuren zu synthetisieren? Reinhard Haller setzt sich in seinem Buch
intensiv mit dem Begriff dieser psychologischen Grundeinstellung und Psychomacht
ersten Ranges auseinander, diesem unstillbaren Wunsch nach Anerkennung und
Bewunderung mit einhergehender übertriebener Einschätzung der eigenen
Wichtigkeit. Das unrühmliche Resultat: Zu Tage tritt zumeist ein in seiner
emotionalen Intelligenz verkümmerter Mensch mit einem äußerst fragilen
Selbstwertgefühl.
Haller
hält der Gesellschaft und jedem Einzelnen einen Psychospiegel vor das Gesicht,
der die schönen und hässlichen, aufdringlichen und bescheidenen,
verheißungsvollen und gefährlichen, faszinierenden und abstoßenden Ausprägungen
und Funktionen des Narzissmus schonungslos vor Augen führt. Natürlich kann sein
gut und flüssig lesbares Buch auch keine "Kochrezepte" oder fertigen
Lösungen zum Umgang mit Narzissten bieten. Doch seine schonungslose Offenlegung
dieser Persönlichkeitsstörung, die er mit zahlreichen Fallbeispielen aus seiner
eigenen Praxis untersetzt, könnte als psychologische Gebrauchsanweisung dienen,
um den Narzissmus unserer Mitmenschen möglichst unbeschadet zu überstehen.
Zudem hilft sie, die allgemeine gesellschaftliche Egozentrik, die mittlerweile
zu einem Massenphänomen geworden ist, gelassener zu ertragen. Allerdings bleibt
ein beunruhigendes Gefühl zurück. Denn nicht das Vorkommen des Narzissmus ist
alarmierend, "sondern dass er als Lebensform gesucht wird und als soziale
Grundeinstellung den Zeitgeist bestimmt." Wo, so fragt man sich nach der
Lektüre, sind die einstigen Ideale des Menschen - Vorsicht, Verzicht oder
Solidarität - geblieben? Sie scheinen vollkommen durch Selbstsicherheit, Konsum
und Selbstbezug verdrängt worden zu sein. Daher wird letztendlich eines klar:
Unsere Gesellschaft braucht mehr "unnarzisstische" Menschen und
wieder ein Stück "Antinarzissmus".
Reinhard Haller
Die Narzissmusfalle
Ecowin
Verlag (April 2013)
208
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3711000371
ISBN-13:
978-3711000378
Preis:
21,90 EUR
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