Erschienen in Ausgabe: No 89 (07/2013) | Letzte Änderung: 20.06.13 |
Ein Interview von Yasmin S., Mohammed F. und Nora Ama
von Nora Knobloch
Mohammed
Attian wird von den Demonstranten des Tahrir-Platz zärtlich und
hochachtungsvoll „Vater der Revolutionäre” genannt. Seit Beginn der
Revolution hat er sein Zelt auf dem Tahrir-Platz aufgeschlagen und hat
ihn im Gegensatz zu den Demonstranten seitdem nicht mehr verlassen. Er
gibt der demonstrierenden Jugend weisen Rückhalt in brenzligen
Situationen, und rät ihnen, was zu tun ist, wenn sich Schlägertrupps
unter die Demonstranten mischen in die Masse oder die Polizei brutale
Eingriffe plant. Er kommt aus der Stadt Kafr El Sheikh im Süden Ägyptens
und kampiert für die Revolution in Kairo auf dem Tahrir-Platz. Nur in
Ausnahmefällen verlässt er Kairo, um seine Frau und seine neun Kinder zu
besuchen. Für ihn sind alle Menschen des Tahrir-Platzes seine Kinder.
Seine Plakate sind bekannt durch die Weisheit ihrer Einfachheit, die in
entscheidenden Situationen passende Worte zu finden scheinen und der
Jugend aus der Seele sprechen. Er ist die friedenstiftende Kraft, wenn
er versucht, die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten
mit Worten zu schlichten sowie emotionaler Dreh- und Angelpunkt für die
Demonstranten des Tahrir-Platz.
Meine
Freunde und ich besuchten Muhamed Attian am 4.4.2013 bei
Sonnenuntergang in seinem Zelt auf dem Tahrir-Platz und sprachen mit ihm
über die ägyptische Revolution, Religion und seine persönlichen
Erlebnisse und Ansichten unter dem alten und neuen Regime.
Wenige
Wochen zuvor wurde er von der Polizei für wenige Tage inhaftiert. Als er
frei kam, wurde er auf dem Platz von unbekannten Gruppen mehrere Male
brutal zusammengeschlagen und versucht umzubringen, sodass er ins
Krankenhaus kam und seitdem schwach ist und Medikamente nehmen muss.
Wir
brachten Attian Tüten voller Obst und Wasser als Gastgeschenk, da wir
das für angebracht hielten. Scheu traten wir in sein Zelt auf der Mitte
des Tahrir-Platzes ein, begrüßt von zwei seiner ‘Söhne’ , die ihn
freiwillig und unentgeltlich beistehen und bewachen, der eine Jurist,
der andere Arzt. Ganz in sein schwarzes Gewandt gehüllt saß dort
Mohammed Attian, ernst und ausgemergelt, jedoch mit stahlblauen Augen;
fast gehört Mut dazu, in sie zu schauen, so klar und direkt blicken sie
einen an. Im Zelt befanden sich ausschließlich ein paar gebrachte
Blumen, Schlafmatten, auf denen sich nun seine Begleiter ausruhten, und
einige Plastiktüten mit Wasser. In seinem Schoß lag sein aktuelles
Plakat, dass er uns noch im Gespräch erklären wird. Er bat uns, uns
neben ihn auf den Boden zu setzen. Durch die Missverständnisse der
Sprachverwirrung hatten wir das Diktiergerät bereits angeschaltet, er
forderte, dass wir es wieder ausschalten – später erfahre ich, dass er
sich lediglich erstmal in Ruhe eine Zigarette anstecken wollte. Mit
eindringlicher Ruhe und Güte schaut er uns an und fragt mich als nicht
zu übersehende westliche, junge Frau in seinem Zelt, woher ich komme.
Auf meine Antwort erwidert er warm: ” Ich sehe, du bist Mensch. Das
reicht mir.”
Nora: Wie nimmst du die Muslimbruderschaft wahr? Wie kann die ägyptische Jugend in dieser Situation weitermachen?
Attian:
Diese Regierung ist nur eine Hürde auf der Straße der Revolution, um
sie zurückzuhalten oder zu stoppen. Die Mitglieder der
Muslimbruderschaft und Salafisten sind nicht vollkommen schlecht, denn
auch diese sind unsere Söhne und Töchter. Ägypten braucht seine Jugned
und nicht seine Nutznießer. Unsere Aufgabe ist es jetzt, unsere Söhne
und Töchter zurückzugewinnen, denn das Ziel des Regimes der
Muslimbruderschaft, des alten Regimes unter Mubarak oder jedlichem
anderen “bösen” System ist es, den Thron Ägyptens zu stürzen. Dieser
Thron ist auf vier Pfeilern errichtet: dem Militär, der Polizei, der
Jugend und den religiösen Menschen.
Sie befinden sich auf dem Weg,
diesen Thron zu stürzen und das kann Ägypten nicht zulassen. Die Jugend
Ägyptens sowie Muslimbrüder und Salafisten sind alle unsere Söhne und
Töchter. Wenn Blut vergossen wird, oder es gar zu einem Bürgerkrieg
kommt, wird nicht das System um die Opfer trauern, sondern die Bürger
Ägyptens selbst.
Ich habe keine Angst, dass die Mitglieder der
Muslimbrüder Ägypten zerstören werden – ich bin besorgt um die Häupter
der Muslimbruderschaft und ihre Milizen. Sie wollen unseren Kindern ihr
Verständnis von Religion beibringen – aber Religion hat nichts mit der
Muslimbruderschaft zu tun.
Ich möchte betonen, dass ich nicht von
den Mitgliedern der Muslimbruderschaft rede, sondern von den Häuptern.
Wie ich bereits sagte, ist es eine Hürde, die das alte Regime auf die
Straße der Revolution gelegt hat, um die Ägypter gegeneinander
aufzuhetzen.
Heute steht die Jugend nicht mehr geschlossen als eine
Bewegung hinter der Revolution, sondern es gibt verschiedene Bewegungen.
Die Jugend Ägyptens wurde gespalten, und die Einzigen, denen diese
Spaltung nützt, sind bestimmte Personen des alten und des neuen Regimes.
Wir sollten unsere Taten nicht durch bloße Vorgaben begründen – Gott
gab uns ein Gehirn, um zu denken und um zu entscheiden, was wir für
richtig und was für falsch erachten. Wir dürfen diesen externen Vorgaben
nicht blind folgen, denn der Preis dafür ist das Leben unserer Kinder.
Attian
deutet auf sein aktuelles Plakat, das er vor sich liegen hat. Darauf
stehen in großen arabischen Schriftzeichen die acht Schritte, von denen
Attian glaubt, dass sie die Revolution wieder auf einen richtigen Weg
führen werden. Er beginnt, sie uns nach und nach vorzulesen und zu
erklären.
Attian: Damit Frieden einkehrt und das Blutvergießen ein Ende hat, müssen wir:
1) Die Regierung stürzen – die alte und die neue Regierung – sie zur
Rechenschaft ziehen und uns das wiederholen, was was uns gestohlen
wurde: Wenn unser Geld, was gestohlen und geschmuggelt wurde innerhalb
und außerhalb Ägyptens, zurück in den Staatssafe gebracht würde, wären
wir auf keinen Kredit des IWF (Internationaler Währungsfond) angewiesen.
Der Betrag, den wir vom IWF bekommen, ist deckungsgleich mit dem
Bankkonto eines beliebigen kriminellen Kopfes des alten Regimes.
2)
Die Jugend versöhnen und wiedervereinen – ob Muslim oder Christ, die
gesamte ägyptische Jugend soll sich wiedervereinen, denn wie ich sagte:
Ägypten braucht seine vereinte Jugend, denn die Jugendlichen sind
diejenigen, die Ägypten wieder aufbauen.
3) Die Kirche und die Moschee wird uns durch Worte der Liebe leiten und nicht durch das heilige Schwert.
4)
Religion sollte moderat sein, denn Prophet Mohammed sagte, dies sei der
beste Weg – wir sollten Extremismus stoppen, denn Extremismus kann
leicht zu Terrorismus führen. Terrorismus, Extremismus und Menschen, die
deswegen töten, denken alle, sie würden im Namen Gottes handeln.
5)
Die Polizei sollte den Menchen dienen, denn dies ist die Ursprüngliche
Aufgabe der Polizei. Jetzt ist die Polizei privatisiert wie jedes andere
privatisierte Unternehmen.
Die Polizei dient nun bestimmten
Menschen und Machthabern des alten Regimes und deshalb ist das Phänomen
des “bullying” (=mobben, schikanieren, terrorisieren) weit verbreitet
und deswegen sind wir noch immer in einem solchen Chaos. Wenn sich die
Polizei auf ihre ursprüngliche Aufgabe zurückbesinnen würde, würdest du
keinerlei Kriminelle, Bettler und Räuber sehen.
6) Wir sollten unsere
eigene Verfassung niederschreiben und einen Präsidenten wählen, der uns
repräsentiert. Wir sollten eine Verfassung niederschreiben, der die
Mehrheit zustimmt, denn diese sollte über Jahrzehnte erhalten bleiben,
ungleich dem Präsidenten, den wir alle 4 Jahre neu erwählen können. Wir
können einen anderen Präsidenten wählen, wenn wir nicht mit ihm
einverstanden sind und wir können ihn wiederwählen, wenn wir mit ihm
einverstanden sind.
Und der Präsident sollte nicht nur eine kleine
Gruppe repräsentieren, wie es jetzt der Fall ist – wir wollen einen
Präsidenten, der von allen Ägyptern geliebt und respektiert wird.
7)
Das Militär schützt das Land, die Grenzen und den Luftraum. Illegale
Waffen, Terrorismus und Drogen kommen von außerhalb über die Grenzen.
Wenn das Militär das Land, die Armee die Grenzen und die Luftwaffe den
Luftraum schützen würde – nur dann können wir alle in Sicherheit leben.
8)Vergiss
alle egoistischen Ziele und konzentriere dich auf das Wohl Ägyptens.
Seit dem Beginn der Revolution scheint jeder nur sein perönliches Ziel
zu verfolgen. Manche erstreben hohe Positionen oder gar die
Präsidentschaft. Das ist einer der Gründe, weshalb die Revolution
verlangsamt ist. Wenn wir nur alle unsere persönlichen Interessen und
kategorischen Forderungen vergessen würden, dann – und nur dann – wird
die Revolution Blüte tragen.
N: Mursi wurde von der
Mehrheit gewählt, weil er versprach, die Forderungen der Revolution zu
erfüllen – warum hat er dieses Versprechen nicht eingehalten? Wie können
wir sicher sein, dass es der neue Präsident besser macht, wenn Mursi
zurücktritt?
Attian: Zuerst einmal: du sagtest, die
Mehrheit wählte Mursi – das stimmt nicht. Mursi wurde nur von einer
bestimmten Gruppe Menschen gewählt, er bekam fast 6 Millionen Stimmen –
andere 7 Millionen erkaufte er sich. Er spielte auf den Saiten der Mägen
der bedürftigen Menschen, um sich ihre Stimmen zu erschleichen (=er
instrumentalisierte ihren Hunger).
Diese bedürftigen Menschen leben in den Slums und haben keine Ahnung von Politik und staatlichen Angelegenheiten.
Mursi spielte auf den sensibelsten Saiten des Menschens – Hunger und Armut.
Er bekam fast 13 Millionen Stimmen von 52 Millionen Wählern. Das
bedeutet, dass nur ein viertel der Wähler für Mursi stimmten – und er
kann nicht nur für diese 13 Millionen Präsident sein.
Deshalb
scheitert er – auch wen er gute Absichten hätte und das Beste für
Ägypten wollte, würden die restlichen dreiviertel versuchen, ihn zu
stoppen.
Als Mursi seine Rede auf dem Tahrir-Platz hielt, nachdem er
die Wahl gewonnen hätte, sagte er: „Ich danke Gott und bin dankbar für
die Revolution. Ich werde zusammen mit euch die Ziele der Revolution
verfolgen, die Revolution geht weiter!”
Zu diesem Zeitpunkt nahmen
wir ihn eher as Anführer einer Revolution wahr, und nicht als Präsident.
Wären die Ziele der Revolution erreicht worden, würden wir ihn als
unseren Präsidenten ansehen und respektieren. Wenn er an der Verfolgung
dieser Ziele scheitert, brauchen wir ihn nicht und werden nach einem
anderen Präsidenten streben, der diese Ziele erreicht. Das war unsere
Vereinbarung anfangs. Mursi schwor diesen Eid hier auf dem Tahrir-Platz,
im Verfassungsgerichtshof und der Polizeizentrale. Er schwor den Eid
dreimal – jedoch “die Worte der Nacht schmelzen in den Morgen”
(arabisches Sprichwort).
Viele Ägypter hätten nie gedacht, dass sie
einmal vor jemand religiösem Angst haben müssten – jedoch zeigte sich,
dass Religion für Mursi nur ein Mittel zum Zweck ist, oder dass er
vielleicht sebst gar nur ein Opfer ist, wie wir alle. Es zeigte sich,
dass er nicht seine eigenen Worte spricht, sondern die derer, die über
ihm stehen.
Er ist ein Teil des Spinnennetzes oder sogar selbst ein
Opfer, das sich nicht befreien kann. Damit ist er nicht alleine – wir
sind alle gemeinsam gefangen in diesem Spinnennetz.
Er ist entweder
gemeinsam mit uns in diesem Spinnennetz oder in den Tentakeln eines
Oktopusses gefangen, oder er war von Anfang an ein Teil davon – oder gar
selbst ein Tentakel des Oktopusses.
Wir haben mit diesem Spiel nichts zu tun, warum fangen sie uns also in ihr Netz ein?
Wenn wir gesehen hätten, dass Mursi Fortschritte macht, hätten wir ihn
sicher unterstützt, was wir sehen sind jedoch Rückschritte – also ist es
unsere Pflicht, ihn zu stoppen und jemand anderem die Chance zu geben,
uns auf den richtigen Weg zu führen.
N: Du sagtest. du seist nicht besorgt um die Muslimbruderschaft, jedoch steht diese hinter Mursi…
Attian: unterbricht
Wenn ich sage Muslimbruderschaft, ist das nur ein Oberbegriff für eine
Gruppierung, die seit 1928 existiert. Wir sorgen uns jedoch um unsere
Söhne und Töchter der Muslimbruderschaft; um die Jugend, die in den
ländlichen Gegenden lebt, die nichts außer Arbeit und Beten kennt. Ich
nenne sie ‘mosayyareen’ (=Puppen, Mitläufer). Ich sage diesen: Ihr seid
gefangen in den Tentakeln eines Oktopusses und es wird euch und alle
Ägypter zu Tode erdrücken. Ihr werdet die Opfer sein und das Volk wird
um euch weinen.
Ich rate dieser Jugend, sich an die Familie und
Freunde zu wenden und zu versuchen, selber zu denken. Sie soll
verstehen, dass das Gebilde des Spinnennetzes oder des Oktopusses eine
Zerstörung des Nahen Osten planen könnte, was zu einer Zerstörung der
Welt führen würde. Viele Menschen wissen, dass Extremismus und
Terrorismus für die Welt gefährlich sind. Wenn also Ägypten den
schlimmen Vorkommnissen nicht mehr alleine entgegen treten kann, könnten
andere Länder eingreifen.
Das alles kann zu einem dritten Weltkrieg
führen – ich würde nicht sagen, dass die Muslimbruderschaft die
Zündschnur ist, sondern vielmehr Extremismus und Terrorismus. Die
Muslimbruderschaft ist eine bekannte Vereinigung und diese Fraktion hat,
wie ich sagte, Hintergedanken, die sich zum Schlechten hin bewegen,
nicht zum Guten.
Jeder, der fordert, einer bestimmten Partei
beizutreten oder sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, um in den
Himmel zu kommen, ist im Unrecht – das Himmelreich und die Religion
haben nie jemandem Anweisungen zu Gewalt, Brutalität und Extremismus
gegeben.
Jede göttliche Botschaft ruft auf zu Liebe, Frieden,
Gerechtigkeit und Toleranz. Keine Religion hat je Gewalt impliziert,
sonst wären ihr die Menschen nie gefolgt. Islamisten wollen aus der
Religion eine gewalttätige Religion machen – aus dieser Religion, die
wir vielleicht besser kennen als sie, denn wir kennen Gott und Religion
von Natur aus.
Wir wissen, es gibt dort einen Gott, der das
Universum erschuf, all die Planeten, die um die Sonne kreisen. Niemand
hat je davon gehört, dass einer dieser Planeten je von seiner Bahn
abweicht oder mit einem anderen Planaten kollidiert – es muss einen
göttlichen Schöpfer für dieses Universum geben, denn kein menschliches
Wesen kann etwas derartiges kreieren.
Muslime oder Menschen jeder
anderen Religion, alle glauben, dass jemand Großes hinter dieser
Schöpfung steckt, und das ist Gott. Die Menschen können Religion nicht
mit Gewalt und Waffen anreichern, die Menschen werden eine solche
Religion eher hassen, als an sie zu glauben.
Ich wünschte, die
Jugend, die Gott wirklich kennt und liebt, würde ihren Mitmenschen diese
Religion bescheiden und sanft überbringen – das würden die Menschen
begrüßen, denn es wird zu ihnen sanft und ohne Brutalität gesprochen.
Wenn du jedoch jemandem begegnest, der dich unwirsch, gewaltsam zwingt
zu beten und dir mit Schlägen droht, entwickelst du Widerwillen
entwickeln und wirst nie richtig beten wollen. So bringt man die
Menschen nur dazu, die Religion zu hassen.
Ich traue der Jugend der
Muslimbruderschaft und der Salafisten, ich kenne viele von ihnen
persönlich. Sie haben viel Energie und Stärke und können sehr produktiv
sein. Sie würden nie stehlen, betrügen oder bestechen, denn sie sind
Gott treu und kennen ihre Religion. Ich beschuldige sie jedoch, nicht
ihren Glauben , ihre Energie und Intelligenz zu nutzen, um ihrem Land
und allen Ägyptern zu dienen.
Die Jugend Ägyptens könnte
zusammenarbeiten mit all ihren Brüdern und Schwestern, um Ägypten wieder
aufzurichten, statt nur bestimmten politischen Parteien und Ideoligien
hinterherzulaufen. Gemeinsam können wir Ägypten wieder errichten und
wiederherstellen in seiner besten Form. Wir sollten nie blind jemand
anderem und seinen Vorhaben folgen, ohne zu hnterfragen, was die
Konsequenzen dieses Vorhabens sind.
N: Wie entwickelt sich aktuell die Meinungsfreiheit und die journalistische Freiheit?
Attian:
Die heutige Situation unterscheidet sich nicht von der Situation unter
dem alten Regime, ich denke nicht, dass sich irgendetwas verändert hat,
es besteht die gleiche Unterdrückung von Freiheit und
Meinungsäußerungen. Die Umstände verschlechtern sich, das System ist
immer noch das selbe, nur trägt es jetzt einen Bart, statt zu
modernisieren. Jedoch sollten die Medien diese Unterdrückung nicht
akzeptieren und nicht aufhören, die Wahrheit zu sagen – egal, unter
welchen Umständen. Selbst wenn die Regierung sie abschalten würde, das
Volk würde hinter ihnen stehen (…)
Was ich sagen will: Das System
versucht, jeden zu unterdrücken, der die Wahrheit vermitteln möchte. Die
Regierung verfolgt Strategien, einige Journalisten und Zeitungen zu
terrorisieren, sodass die andern abgeschreckt werden und garnicht erst
versuchen, das Wort zu erheben. Wir dachten, es herrsche Freiheit nach
der Revolution, jedoch finden wir das Gegenteil vor. Wenn wir einmal die
Ziele der Revolution durchgesetzt haben, wird es mehr Freiheit geben.
Jetzt versuchen sie noch, die Stimme der Freiheit zu unterdrücken.
N: Was passierte, als du festgenommen wurdest? Berichtest du uns von dieser Erfahrung?
Attian:
Es gab drei Versuche, mich zu ermorden. Sie wollen die Stimme der
Freihet und Wahrheit töten, und sie wissen, dass ich der Vater der
Revolutionäre bin. Wenn meine Söhne zur Arbeit gehen, bin ich der einzig
verbleibende auf dem Tahrir-Platz. Sie versuchten, mich zu beseitigen,
denn sie wissen, ich repräsentiere die Revolution. Zuerst wollten sie
mich manipulieren und dies scheiterte, also versuchten sie, mich
umzubringen – was ebenfalls scheiterte. Es ist sehr dumm von ihnen, mich
töten zu wollen, denn sie wissen, dass nur Gott über unser Leben
entscheidet.
Am Tag meiner Inhaftierung war ich alleine auf dem
Tahrir-Platz; zuvor griffen sie die Demonstraten aus dem Hinterhalt an,
sodass diese Panik bekamen und flüchteten, mache wurde festgenommen. So
war ich gänzlich alleine auf dem Platz und sie nahmen mich auf sehr
brutale Art und Weise fest. Sie attackierten mich brutal mit ihrem
Schlagstöcken und schleiften mich mit. Daraufhin brachten sie mich und
die anderen Demonstranten zu verschiedenen Polizeistationen. Ich
verweilte den nächsten Tag im Gefängnis, in der nächsten Nacht wurde ich
dann verhört. Sie beschuldigten mich, schreckliche Dinge getan zu
haben, wie dem Besitz unzugelassener Waffen, Versuch der Stürzung der
Regierung, das Behindern von Sicherheitsdiensten, dem Anzünden von
Regierungsgebäuden und Behinderung des Verkehrs. Dabei wissen sie genau,
dass meine einzigen Waffen Papier und Stift sind. Und die ägyptische
Flagge, wie du hier siehst.
Als ich inhaftiert wurde, verbreiteten
meine Söhne und Töchter diese Nachricht über ganz Ägypten, sodass jeder
Bescheid wusste. Das machte der Regierung oder dem System solche Angst –
vor mir haben sie keine Angst, jedoch vor meinen Söhnen und Töchtern ,
der ägyptischen Jugend, dass sie mich am nächsten Tag nach Sonnenaufgang
freiließen. Sie ließen mich unter der Bürgschaft von 1000 L.E. frei
(ca. 125 Euro), um mich unter Kontrolle zu haben. Sie wussten genau,
dass ich nicht schuldig ob auch nur eines Vorwurfs war. Meine Söhne und
Töchter zahlten diese Bürgschaft für mich, ich weiß bis heute nicht, wo
sie das Geld hergenommen haben. Ich wusste nichts über die Bürgschaft,
bis ich freigelassen zurück auf den Tahrir-Platz ging, dort wurde ich
über das Geld unterrichtet. Meine Söhne und Töchter zahlten die
Bürgschaft aus Liebe und Sympathie zu mir, sie zahlten das Geld ohne
nachzudenken. Wenn ich gewusst hätte, dass es diese Bürgschaft gab,
hätte ich mich entschieden, im Gefängnis zu bleiben – denn freigelassen
zu werden durch eine Bürgschaft heißt, dass eine Schuld besteht. Dies
kann jederzeit wieder gegen mich verwendet werden und ich kenne keine
Anwälte und war noch nie zuvor vor Gericht.
Jeder weiß, wer ich bin,
wer der Vater der Revolutionäre ist, wofür ich stehe und was ich seit
Beginn der Revolution fordere. Ich habe die Demonstranten nie ermutigt,
Brand zu stiften, zu kämpfen oder zu töten. Wir gehen auf den
Tahrir-Platz – bereit, aus Liebe zu unserem Land zu sterben – und nicht,
umzu töten oder Brand zu stiften. Die Demonstranten – meine Söhne und
Töchter – bauten dieses Zelt für mich, nachdem die Schlägertruppen der
Regierung mein altes Zelt verbrannt hatten. Sie verbrannten mein Zelt,
an und auf dem ich all meine Plakate und Schilder gestapelt hatte, wie
ich es immer tat (siehe Bild 3). Sie verbrannten das Zelt mit allen Plakaten und Schildern, anschließend prügelten sie auf mich ein.
N: Hat seit deinem letzten Gefängnisaufenthalt dich nochmals jemand versucht, anzugreifen und festzunehmen?
Attian: Nachdem
ich freigelassen wurde, dachten sie sich, die einzige Möglichkeit mich
loszuwerden ist, mich zu töten. Schlägertruppen kamen dreimal hier auf
den Tahrir-Platz und brannten die Zelte nieder und attackierten mich und
meine Söhne dreimal. Diese Menschen kommen in Gruppen, tragen
unauffällige, normale Kleidung und erledigen ihre Mission in ein paar
Minuten.
Um fair zu sein, muss ich sagen: ich weiß nicht, ob sie
Teil der Muslimbruderschaft, der Polizei oder etwas anderem sind. Sie
wissen genau, was in Band gesteckt und wer angegriffen werden soll,
alles passiert in wenigen Minuten und wenn sie ihre Mission erfüllt
haben, warten Autos auf sie, um sie schnell wegzubringen. Diese Gruppen
sind keine geläufige Diebe oder Schlägertruppen, denn diesen würde es
nichts nützen, eines meiner Schilder und damit die Idee zu stehlen oder
zu verbrennen. Warum sollten Diebe diese Zelte niederbrennen, oder
versuchen, einen alten Mann wie mich zu töten?
Das letzte Mal, als
diese unbekannten Gruppen auf den Tahrir-Platz kamen, schlief ich im
Zelt und ein Sohn kam zu mir, weckte mich (seine Nase war gebrochen und
sein Gesicht blutüberströmt) und sagte: “Hilf mir, Vater, Schläger sind
hier, stecken die Zelte in Brand und schlagen meine Brüder.” Ich rannte
aus meinem Zelt, um die Schläger aufzuhalten und sah, wie sie die Zelte
in Brand steckten; wenn ein Zelt noch nicht brannte, steckten sie es mit
Hilfe des Feuers eines anderen an. Ich ging zu einem Mann von ihnen und
fragte ihn: “Warum tust du das, mein Sohn?” und ich ohrfeigte einen von
ihnen. Nachdem ich das tat, attackierten sie mich und schlugen auf
meinen Kopf ein, bis ich ohnmächtig wurde. Sie versuchten mich
umzubringen, sie stachen zehnmal mit Messern auf mich ein. Gott sei dank
blieb ich vom Schlimmsten verschont: Ich habe immer meine Plakate und
Stifte bei mir, in den Taschen meiner Kleidung – denn es ist alles, was
ich habe. Zudem trug ich 2 ‘galabeya’ und einen Morgenanzug. So kam es,
dass mich die Stiche, die auf meinen Oberkörper zielten, nicht ernsthaft
verletzten. Alle Stiche wurden von meinen Papieren aufgehalten – mein
Papier und Stift hat mich beschützt und mir das Leben gerettet. Jedoch
trug ich in der unteren Hälfte meines Körpers Blutergüsse davon – an
meinen Knien, Armen und Hüften. Meine Söhne brachten mich in ein
Krankenhaus, und als ich zurückkehrte, brauchte ich Stunden, um mich an
das Geschehene zu erinnern.
N: Von manchen Gruppen wird das Gerücht verbreitet, dass die Zelte des Tahrir-Platz voller Waffen sind. Stimmt das?
Attian: Das
System hat immer Schlägertruppen gegen uns genutzt seit Beginn der
Revolution, das alte wie das neue Regime. Das alte Regime schickte die
Gruppen zu uns, das war allen bekannt. Diese Schlägertruppen konntest du
an ihren Gesichtern erkennen – sie waren ehemalige Gefangene,
Straßenkinder oder sogar wenige Mädchen – möge Gott ihnen den richtigen
Weg weisen. Das jetztige Regime schickt jedoch eine andere Art von
Gruppen, diesen ist es nicht anzusehen, sie tragen ihre Bärte gestutzt
und schöne, saubere Kleidung. Sie sind die jungen Menschen, die das
System heute schickt, um uns zu verletzten oder zu töten. Heute kannst
du sie nicht mehr erkennen. Sie sehen gut aus und verhalten sich übel,
ihre Schwerter und Messer sind alle neu und sehen alle gleich aus, genau
wie ihre Gewehre. Als hätten sie sie erst kurz vor dem Angriff gekauft,
um den Vater der Revolutionäre und seine Kinder zu attackieren.
N: Wie bewahrst du deinen inneren Frieden?
Attian:
Ich erhalte ihn durch etwas, was die meisten von uns vergessen haben:
Liebe. Liebe kann Wunder vollbringen, besonders die Liebe zu deinem Land
und deinen Menschen, es ist so etwas Großartiges. Jeder Mensch kann
Wunder vollbringen, wenn er sein Herz von Hass befreit und von ganzem
Herzen liebt.
N: Wie unterstützt du deine Familie finanziell und wie finanzierst du dein Essen und Leben auf dem Tahrir-Patz?
Attian:
Zuersteinmal: Ich habe neun Kinder – 4 wunderbare Jungen und fünf
wunderschöne Mädchen. Mein ältester Sohn, Nour El-Deen – Gott segne ihn –
ist Landwirt und er arbeitet und trägt die Verantwortung für die
Familie für mich momentan. Montasser Be-Allah studiert
Ingenieurwissenschaften, Mahammed studiert Architektur und die anderen
studieren alle in unterschiedlichen Fachgebieten und Semestern. Also
alles ist gut, danke Gott. Ich brachte meinen Kindern bei, immer
zufrieden und glücklich damit zu sein, was sie haben und nicht nach
Dingen zu streben, die wir nicht ermöglichen können. Meine Kinder können
ein ganzes Jahr in einem Paar Hosen und einem Hemd verbringen, und ein
Paar Schuhe hält für sie zwei bis drei Jahre. Wir sind immer zufrieden
mit dem, was wir
haben.
Die Leute denken, ich lebe auf dem
Tahrir-Platz und mir wird Geld und Essen geschenkt – das ist nicht wahr.
Meine Familie und ich, wir sind sehr einfache Menschen. Wenn wir eines
Tages Lust auf etwas anderes zu Essen haben, essen wir
KartoffelSandwiches, statt Falafel-Sandwiches, mehr können wir uns nicht
leisten. Meine Kinder glauben an Gott und sind ihm treu, und meine
Kinder glauben an mich und das, was ich hier tue. Sie können damit
umgehen, dass ich nicht immer bei ihnen bin – denn sie wissen, dass ich
hier bin aus gutem Grund – die Zukunft meines Landes. Und mein Sohn
trägt dazu bei, indem er die Verantwortung der Familie übernimmt.
N: Glaubst du an einem Erfolg der ägyptischen Revolution?
Attian:
In gewisser Weise haben wir etwas erreicht: Durch die Liebe zueinander.
Liebe ist stärker als jede Waffe. Revolutionäre lieben einander und
diese Liebe beängstigt das alte, wie das neue Regime, denn ihnen mangelt
es an Liebe. Sie haben Waffen und Macht, aber sie kennen keine Liebe.
Wenn sie die Liebe kennen würden, liebten sie dieses Land und würden für
das Wohl dieses Landes arbeiten. Nur Gott und die Liebe hat uns
geholfen, etwas zu erreichen.
N: Was wünschst du dir?
Attian:
Ich wünsche, Ägypten wiederzufinden, das vermisste Ägypten. Ägypten ist
nicht verloren und wird es nie sein. Es ist nur vermisst und verzerrt
und leider sind es die Söhne Ägyptens selbst, die das Antlitz Ägyptens
verzerren. Natürlich nicht alle Söhne und ich möchte damit nicht sagen,
dass alle Söhne schlecht sind, denn alle Ägypter sind gute Menschen.
Aber sie sind etwas unartig, sie müssen ihre Lektion lernen und erst
dann werden sie die Deformation, die sie anrichten stoppen. Ägypten wird
wiederauferstehen; an dem Tag, an dem wir Ägypten finden werden, nehme
ich mein Zelt und kehre zurück zu meiner Familie.
Mit
diesen Worten nickte Attian und langsam zu und wir schalteten das
Diktiergerät aus. In der knappen Stunde, die wir im Zelt verbracht
haben, kamen immer wieder Menschen zu ihm herein, die ihn besuchen oder
einmal sehen wollten, ihm bewegt die Hände und den Kopf küssten. Wenn
lautes Stimmergewirr, Schreie oder Schüsse auf dem Platz zu hören waren,
wurde dies direkt von einem seiner Begleiter überprüft, um seine
Sicherheit zu wahren.
Als wir uns verabschiedet hatten und
herausgingen, kamen meiner Freundin Tränen vor Rührung. Auf halbem Weg
lief uns ein Begleiter Attians hinterher und brachte die Tüten mit Obst
und Wasser zurück. Danke, jedoch könne sein Vater es nicht annehmen, da
es den Anschein erwecke, er sei mit Geschenken bestechlich. Dem weißen
Mädchen ließ er ausrichten, dass er obwohl er wusste, dass ich keine
Ägypterin sei, das Gefühl hatte, als sei auch ich seine Tochter.
Was
wir für ein Glück hatten, diesen Menschen zu treffen und mit ihm ein
Gespräch führen und aufzeichnen zu dürfen, wurde uns erst im Nachhinein
klar.
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