Erschienen in Ausgabe: No 89 (07/2013) | Letzte Änderung: 20.06.13 |
von Heike Geilen
"Die Erinnerung an ein bestimmtes Bild ist nichts
anderes als Trauer um einen bestimmten Augenblick", schrieb Marcel Proust.
Auch Patricia Mante-Proust, seine Großnichte (er war der Onkel ihrer
Großmutter) und Verwalterin seines Nachlasses, empfindet eine solche
"Trauer". Sie bezeichnet ihn sogar als Mangel. Denn anders als der -
neben Joyce und Kafka - wichtigste Mitbegründer der literarischen Moderne hat
sie nicht die Fähigkeit, "die Kraft der Worte zu nutzen, um die Zeit
zurückzudrehen, um diesen 'Augenblick' zu leben". Diese Möglichkeit, in der
es ihr vergönnt gewesen wäre, diesen Mann kennenzulernen, der es so einzigartig
verstand, auf manchmal gnadenlose Weise die mondäne Gesellschaft zu skizzieren.
Sie wählt einen anderen Weg. Doch nicht um die Neuschreibung der Biografie des
literarischen Genies geht es Patricia Mante-Proust, sondern sie schöpft
vielmehr aus Kindheitserinnerungen und taucht sehr persönlich in die Lebensgeschichte
ihrer Familie ein. Gewissermaßen gleicht ihr Abriss eher einem Biss in eine Petit
Madeleine, diesem in Lindenblütentee getunkten Gebäckstücks, das Marcel Proust
in seinem Jahrhundertroman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit"
als Schlüssel zur Vergangenheit diente. "Mit einem Mal war die Erinnerung
da", steigen Stadt und Gärten von Combray vor dem geistigen Auge auf....
In dem vorliegenden Prachtband gelingt der Herausgeberin ein
wunderbarer Blick auf den französischen Schriftsteller, seine Familie, seine
Zeit und natürlich sein herausragendes Œuvre.
In sechs Kapiteln (Kaleidoskop eines Lebens / Portraits in Worten und Bildern /
Freuden und Tage / Über das Leben / Die Düfte, Farben und Klänge in der Sprache
der Sinne vereint / Ein Kunstwerk wie ein Kleid) findet sie gemeinsam mit den kompakten
Texten von Mireille Naturel, Generalsekretärin der Société de Marcel Proust, die
als verbindendes Element kongenial eingesetzt werden, einen ganz eigenen Weg
der Annährung an ihren berühmten Vorfahre. Entstanden ist ein auserlesenes, aufschlussreiches
und anspruchsvoll konzipiertes Panoptikum eines der wichtigsten französischen
Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Das Buch erfährt sich nicht als
chronologische Abhandlung seiner Lebensdaten, sondern es gleicht vielmehr einem
Kaleidoskop, ist Zettelkasten und Bilderfundus in einem und spielt, ähnlich wie
es Marcel Proust in seinen Texten tat, mit dem Leser. Kurze biografische Einzelabrisse,
Zeitsprüngsel aus seinem Leben, wechseln sich mit Auszügen aus seinem großen
Hauptwerk ab. Man wandelt durch Auteuil und Illiers, steigt die berühmte Treppe
im Hause von Tante Léonie in Illiers-Combray empor, betrachtet den Kirchturm
von Saint-Jacques (Saint-Hilaire im Roman) mit den Augen der Großmutter, die
darin die Verkörperung jener "Abwesenheit von Gewöhnlichkeit, Anmaßung
oder Kleinlichkeit, die sie auch an der Natur - sofern sie nicht von
Menschenhand, wie z. B. dem Gärtner meiner Großtante, verdorben wird - und an
echten Meisterwerken liebte und ob ihres positiven Einflusses schätzte",
sah. Der Leser sitzt mit dem Schriftsteller im Grand Hôtel von Cabourg, bereist
seine Inspirationsquelle - die Normandie -, wandelt durch diverse Salons oder
wird in das Geheimnis seines Zimmers eingeweiht. Ganz so wie sein Autor selbst,
der, "etwas von Mercutio und Puck an sich [hatte]: Stets verfolgte er
mehrere Gedanken gleichzeitig, entschuldigte sich gewandt für seine
Zuvorkommenheit, war von ironischen Bedenken geplagt, von Natur aus komplex,
hochgradig empfindsam und zart." (Léon Daudet: Salons et Journaux)
So schließt denn diese wundervolle Ausgabe wie sie begann
und zwar mit Betrachtungen der berühmten Weißdornhecke. Und genau wie die Liebe
Prousts zu dieser Blüte, so öffnen sie vielleicht auch dem Leser den Weg zu seinem
Werk. Ein Buch für Proust-Liebhaber, aber auch solche, die es werden möchten. Vielleicht
schließen sie sich hernach gar der
großen Zahl der Verehrer aus der ganzen Welt an und pilgern fortan gemeinsam Jahr
für Jahr Mitte Mai zu den Weißdornhecken nach Illiers, um ihrem Idol ihre Hochachtung
zu zeigen und einen Moment der Verbundenheit zu zelebrieren. Oder aber sie
schlagen dieses unglaublich repräsentative, großformatige Werk auf und ergötzen
sich an Bild und kompetent-informativem Text. Doch Vorsicht: "Wenn es nach
mir geht, sind sie nicht meine Leser, sondern Leser ihrer selbst; mein Buch ist
nur so etwas wie ein Vergrößerungsglas, wie eines von denen, die der Optiker
von Combray einem Käufer reicht; mit meinem Buch liefere ich ihnen das
Hilfsmittel, damit sie in sich selbst lesen können." (Marcel Proust: "Die
wiedergefundene Zeit")
Patricia Mante-Proust (Hrsg.),
Mireille Naturel
Marcel
Proust in Bildern & Dokumenten
Edition
Olms (September 2012)
192
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
3283012172
ISBN-13:
978-3283012175
Preis:
49,95 EUR
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