Erschienen in Ausgabe: No 89 (07/2013) | Letzte Änderung: 25.06.13 |
von Bernd Ehlert
Der hypothetische Realismus der modernen Naturwissenschaft erhebt den
Anspruch, Kants Transzendentalphilosophie in ihrem Kern durch die evolutionäre
Erkenntnistheorie widerlegt zu haben, wie es etwa Gerhard Vollmer mit seinem
Buch „Evolutionäre Erkenntnistheorie“ vollzieht. Insbesondere von
philosophischer Seite wird das entschieden bestritten, wobei beide Seiten sich
gegenseitig grundsätzliche Fehler vorhalten. Jedoch verwenden die beiden
Neurobiologen Humberto R. Maturana und Francisco J. Varela in ihrem Buch „Der
Baum der Erkenntnis“ mit dem Untertitel „Wie wir die Welt durch unsere
Wahrnehmung erschaffen – die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens“
die Evolutionstheorie zur grundsätzlichen Bestätigung von Kant und seinem
Idealismus, d.h. ganz eindeutig sind die Fronten nicht. Lassen sich diese
Widersprüche auflösen, die darin nicht nur das Verhältnis zwischen Geistes- und
Naturwissenschaft betreffen, sondern auch das alte Leib-Seele-Problem? Bei
achtsamer Betrachtung lässt sich ein Denkfehler im hypothetischen Realismus zu
einer umfassenden Lösung hin aufdecken, wobei die moderne Naturwissenschaft
sogar selbst die Begründung für ihren Denkfehler liefert. Das daraus sich
ergebende Verhältnis von Realismus und Idealismus sowie die grundsätzlichen
Fragen nach dem Wesen dieser Welt und unseres Seins und Verhaltens darin können
mit Hilfe der noch aus der Antike stammenden sogenannten »negativen Theologie«
weitestgehend und in diesem Sinne objektiv gestützt werden. Diese negative
Theologie, die hierbei die Religion als unseren weitesten Orientierungsrahmen
mit einbezieht und darin aufklärt, ist eine undogmatische Erkenntnistheorie
(des Absoluten, Einheitlichen oder Göttlichen), die aber leider durch die
Inquisition im Mittelalter mit Meister Eckhart ihr Ende fand.
Das Weltverständnis von Kant
Kants Transzendentalphilosophie trennt in der Erkenntnis von
Gegenständen zwischen Erscheinung und „Ding an sich“, und zwar so, dass wir die
eigentliche Realität nach Kant weder erkennen noch überhaupt kennen. Er stellt
fest: „Was die Dinge an sich sein mögen, weiß ich
nicht und brauche es nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als
in der Erscheinung vorkommen kann (Kant 1787, B332-333). Wir erkennen demnach
die Dinge ausschließlich in der »Brille« unserer Anschauungsformen, die „a
priori und also vor aller Bekanntschaft mit den Dingen, ehe sie nämlich uns
gegeben sind“ die Grundlage und Voraussetzung unseres Erkennens bilden. Mit
anderen Worten, nicht nur die Farben der Dinge sind demnach keine real
existierenden Eigenschaften, sondern auch die Dinge selbst bzw. die gesamte von
uns erkannte Welt ist dann nicht das unabhängig von unserem Erkennen
existierende Reale, sondern besitzt nur ein erscheinungshaftes Wesen, einschließlich
unseres eigenen Seins. Das heißt nicht, dass es überhaupt kein Reales,
Absolutes oder nach Kants Worten „Ding an sich“ gibt, aber dieses regt die
Erkenntnis nur an, die Dinge der Welt genauso wie etwa die Farben im Erkennen
hervorzubringen, die dann ausschließlich in unserem Erkennen und Bewusstsein
existieren. Kants Philosophie gehört damit dem Idealismus oder Subjektivismus
an.
Die Entwicklung des Realismus in der modernen Naturwissenschaft
Die moderne Naturwissenschaft hat bei einem zu Kant diametral
entgegengesetzten Verständnis begonnen,dem sogenannten »naiven Realismus«. Darin wird angenommen, dass die Welt
in ihrer Gesamtheit real genauso existiert, wie wir sie erkennen, so dass unser
Erkennen ein reines Abbilden dieser Realität ist. Während bei Kant die Real-
und Erkenntnisstrukturen oder -kategorien überhaupt nicht übereinstimmen, tun
sie das beim naiven Realismus in vollkommener Weise.
Im kritischen Realismus ist der naive Realismus widerlegt worden, da
erkannt worden ist, dass manches, was wir in der Welt wahrnehmen, nicht real,
objektiv und unabhängig von unserem Erkennen in dieser Welt vorhanden ist, sondern
erst subjektiv in unserem Empfinden und Erkennen hervorgerufen wird. Dazu
gehören die Empfindungen und Sinneswahrnehmungen von Farben, Klängen, Geschmack
oder Wärme. Farben sind nicht Teil der realen Welt, sondern sie werden durch
bestimmte Wellenlängen des Lichtes in unserem Erkennen hervorgerufen und
existieren somit ausschließlich dort (wobei im Verständnis von Kant auch das
Licht mit seinen Wellenlängen den Erscheinungen zuzuordnen ist). Wie
naturwissenschaftliche Forschungen ergeben haben, ist dabei das Erkennen einer
Farbe nicht einmal stets oder ausschließlich von einer bestimmten Wellenlänge abhängig.
Wenn ein weißes Blatt Papier bei verschiedensten Beleuchtungen betrachtet wird,
wobei die vom Papier reflektierten Wellenlängen je nach Farbe des einfallenden
Lichts sehr verschieden sein können, wird das Papier von uns doch stets in
derselben Farbe »weiß« wahrgenommen (vgl. Lorenz 1987, 22).
Andere neuronale Mechanismen sorgen in ähnlicher Weise dafür, dass etwa
die Form eines Gegenstandes bei der Betrachtung von verschiedenen Seiten her
stets als dieselbe wahrgenommen wird, obwohl das Netzhautbild dabei sehr
verschiedenartig ausfällt. Dasselbe gilt für die Größe eines Objektes, die wir
als konstant annehmen, obwohl auch hierbei das Netzhautbild je nach
Entfernungen differiert. Konrad Lorenz schreibt zu diesen „Konstanzphänomenen“:
„Diese in unserer Wahrnehmung sich abspielenden und unserer Selbstbeobachtung
völlig unzugänglichen Vorgänge gleichen der bewußten Abstraktion und
Objektivation auch darin, das sie es uns ganz wie diese möglich machen,
bestimmte Gegebenheiten unserer Umwelt als »Dinge« oder Objekte wiederzuerkennen“
(Lorenz 1987, 23).
Als reale Objekte „wiederzuerkennen“ und zu rekonstruieren, oder
überhaupt erst als solche ausschließlich als Sein im Erkennen wie bei der
Farbwahrnehmung zu konstruieren? Obwohl sich der naturwissenschaftliche
Realismus zweifellos sehr stark in Richtung auf einen Idealismus zu entwickelt
hat, wehrt sich nicht nur Lorenz strikt gegen die letzte Konsequenz dieser
Entwicklung, nämlich die Vorstellung, dass unser Erkenntnisvermögen die von uns
erkannten „»Dinge« oder Objekte“ letztlich zur Gänze hervorbringt oder als
Konstanzphänomene konstruiert und wir von der eigentlichen Realität so wie im
Idealismus rein gar nichts erkennen. Lorenz bringt das Problem folgendermaßen
anschaulich auf den Punkt: „Dem philosopisch unvorbelasteten Menschen erscheint
es völlig abwegig, zu glauben, daß die alltäglichen Gegenstände unserer Umwelt
nur durch unser Erleben Realität erhalten. Jeder gesunde Mensch glaubt, daß die
Möbel auch dann in seinem Schlafzimmer stehen, wenn er selbst zur Tür
hinausgegangen ist“ (Lorenz 1987, 27). Glaubt er auch, dass die Farbe »grün«
dann noch am Blatt des Baumes haftet, wenn er nicht mehr hinsieht?
Auch Vollmer wendet sich strikt gegen einen Idealismus und führt dazu
mit dem hypothetischen Realismus konkret aus, wie Kant durch die
Evolutionstheorie widerlegt wird. Diese Argumentation lautet, dass es für das
Individuum gelten mag, dass dort die sinnlichen Anschauungsformen von Raum und
Zeit von Kant in apriorischer Weise vor aller Erfahrung mit den Dingen zum
Tragen kommen, weil sie, als »Brille«, angeboren sind. In dieser Hinsicht auf
das Individuum gilt, dass die Erkenntnisstrukturen „nicht nur unabhängig von
aller (individuellen!) Erfahrung [sind], sondern sie liegen vor aller
Erfahrung, sie machen Erfahrung (z. B. dreidimensionale Erfahrung) [oder
Farben] überhaupt erst möglich“ (Vollmer 1998, 127). „In diesem Sinne gibt es
also ein synthetisches Apriori!“ (Vollmer 1998, 127).
Auf diese relative Bestätigung von Kant folgt dann mit Hilfe der
Evolutionstheorie, die ja Kant noch nicht gekannt hat, die Widerlegung seiner
Transzendentalphilosophie. Denn in der Evolution sind die Erkenntnisstrukturen
letztlich gerade nicht unabhängig von aller Erfahrung, da die
Erfahrungsunabhängigkeit und das Apriori zwar für das Individuum gilt, aber
nicht für die Art, d.h. diese Anschauungsformen oder diese »Brille« sind in der
Evolution phylogenetisch erworben, „weil sie sich in Anpassung an diese
Welt und an diese Gesetze evolutiv herausgebildet haben“ (Vollmer 1998, S.
129). Bei Kant ist auch das, was wir sinnlich als in Raum und Zeit separiertes
Sein der Welt anschauen oder erfahren restlos durch die Erkenntnis und unsere
»Brille« bedingt, so dass wir die eigentliche Realität eines „Ding an sichs“
weder in der begrifflichen Erkenntnis noch in der sinnlichen Erfahrung kennen,
während Vollmer feststellt: „Der Versuch Kants, die Strukturen der Erfahrung
und die Strukturen der Erkenntnis in eins zu setzen und daraus die Gesetze der
Erfahrungswelt zu begründen, ist somit gescheitert“ (Vollmer 1998, 130). Die
Entwicklung des Realismus in Richtung eines Idealismus überwindet so letztlich
nicht den Widerspruch zum Idealismus, sondern endet im hypothetischen Realismus
der heutigen modernen Naturwissenschaft.
Die Mängel des hypothetischen Realismus
Der Hauptvorwurf besonders von geisteswissenschaftlicher Seite an die
Vertreter des hypothetischen Realismus im Zusammenhang mit der evolutionären
Erkenntnistheorie lautet, dass in dieser evolutionären Erklärung unserer
Erkenntnisstrukturen ein Zirkel vorliegt (vgl. Vollmer 2003, 217 ff.). Denn
diejenigen Strukturen unserer Erkenntnis, die mit Hilfe der Evolutionstheorie
erklärt oder abgeleitet werden, werden dazu zuvor als Postulat vorausgesetzt,
nämlich eine reale Welt in den grundlegenden Strukturen unseres sinnlichen
Anschauungsvermögens (vgl. Vollmer 1998, 34). Es wird also das in Zeit und Raum
separierte Sein der Welt als real vorausgesetzt, in dem dann in Zeit und Raum
eine Evolution gesehen wird, deren Ergebnis die sinnlichen Anschauungsformen
von Zeit und Raum als Anpassung an die zuvor postulierte oder vorausgesetzte
Realität sind. Auf grundsätzlich dieselbe Weise könnte so auch das reale Sein
der Farben postuliert werden, so dass sich letztlich wieder ein naiver
Realismus ergibt.
Ein weiterer Mangel liegt in der fehlenden oder nicht eingelösten
Unterscheidung der vom hypothetischen Realismus behaupteten verschiedenartigen
Strukturen (reale und subjektive) in der Welt. Zunächst besteht die Haupt- oder
Grundfrage bei Vollmer darin: „Wie kommt es, daß Erkenntnisstrukturen und reale
Strukturen (teilweise) übereinstimmen?“ (Vollmer 1998, 54). Die Antwort der
evolutionären Erkenntnistheorie darauf lautet ganz allgemein, dass sich im
evolutionären Prozess die Erkenntnisstrukturen an die postulierten Realstrukturen
angepasst haben. Demnach liegt eine „partielle Isomorphie (Strukturgleichheit)“
(Vollmer 1998, 119) zwischen Real- und Erkenntniskategorien bzw. -strukturen
vor bzw. wird postuliert. Der Mangel liegt jedoch darin, dass vor der
Beantwortung der von Vollmer formulierten Haupt- oder Grundfrage zunächst
einmal unterschieden werden müsste, was eigentlich subjektive Erkenntnisstrukturen
und was objektive Realstrukturen sind. Dann könnte erst beantwortet werden, ob
und inwieweit sie übereinstimmen. Bei Vollmer wird dagegen erst pauschal die
Frage nach der Übereinstimmung beantwortet und dann wird erst sehr vage nach
der (im Grunde nur postulierten) Unterscheidung der Strukturen gefragt.
Bei dieser postulierten teilweisen Strukturgleichheit und ihrer
Unterscheidung stellt Vollmer fest: „Wir können subjektive und objektive
Bestandteile der Erkenntnis nicht mehr so klar trennen, wie es Kants System
tut“ (Vollmer 1998, 128). Dennoch geht Vollmer von der Möglichkeit dieser
Trennung aus, was ja jeder über einen naiven Realismus hinausgehende Realismus
auch fordert, da es sich um völlig verschiedenartige Strukturen handelt.
Vollmer stellt aber nur ganz allgemein die Aufgabe an die zukünftige Forschung:
„Einerseits sind die subjektiven Strukturen aufzufinden, die unsere
Erfahrung mitbestimmen und überhaupt erst möglich machen. [...] Andererseits
sind die objektiven Strukturen herauszuarbeiten, die unsere Welt
aufweist. Das ist eine Aufgabe der (experimentellen und theoretischen)
Wirklichkeitswissenschaften“ (Vollmer 1998, 130).
Zu dieser Forschung bzw. zu der Vermischung von realen oder objektiven
und subjektiven Strukturen in unserer Welt kann Vollmer aber keinerlei klare
Ergebnisse oder Beispiele vorlegen, die auf diese empirische Weise den
hypothetischen Realismus mit seinem Postulat bestätigen würden, sondern er
stellt lediglich etwa hinsichtlich der subjektiven Strukturen fest, dass deren Auffinden
zwar „schwierig, aber doch nicht prinzipiell unmöglich“ ist (Vollmer 1998,
128). Stets bleibt es zudem noch beim hypothetischen Charakter des Wissens,
d.h. eine über das Hypothetische hinausgehende Erkenntnis wird es Vollmer nach
hier sogar niemals geben: „Wie gut unsere Erkenntnisse die Wirklichkeit
'treffen', läßt sich im hypothetischen Realismus und in der evolutionären
Erkenntnistheorie niemals genau und beweisbar angeben“ (Vollmer 1998, 137).
Die Widerlegung des hypothetischen Realismus durch die moderne
Naturwissenschaft selbst
Dieses stets und gesetzmäßig nur hypothetische Wesen im Erkennen des
angeblich Realen ist nicht ohne Weiteres einsehbar. Reale und darin
substantielle Dinge sind von subjektiven und darin geschaffenen Anschauungen,
Erkenntnissen usw. doch grundsätzlich und qualitativ verschieden. Warum soll
das in einer Welt, in der beides nebeneinander existiert, nicht eindeutig und
beweisbar unterscheidbar sein, nicht einmal mit naturwissenschaftlichen
Hilfsmitteln und dazu noch als ein „niemals“? Nur vollkommen gleichartige Dinge
oder Strukturen können niemals unterscheidbar sein, aber doch nicht welche, die
eine grundsätzlich andere Natur oder Wesensart besitzen.
In diesem Sinne ist schon der Ausdruck „hypothetischer Realismus“ widersinnig.
In einem Realismus sollte das Reale ohne Weiteres als solches erfahren, erkannt
und dann auch vom Nicht-Realen eindeutig unterschieden werden können, und zwar
mindestens so eindeutig und einfach, wie wir ein materielles Sein, etwa einen
Stein, von dem Wort oder Begriff »Stein« unterscheiden können. Warum gibt es
trotz der großen Erfolge der modernen Naturwissenschaft bisher kein einziges
Beispiel, bei dem eindeutig festgestellt und erkannt werden kann, dass es sich
hierbei um eine reale Struktur handelt? Wenn das Reale, an das sich unsere
subjektiven Erkenntnisstrukturen ja im Evolutionsprozess angepasst haben
sollen, von uns heute nicht als dieses Reale erfahren, erkannt und vom
Nicht-Realen unterschieden werden kann, macht dann die Unterscheidung zwischen
dem realen Sein und den subjektiven Strukturen überhaupt noch Sinn?
Genau das wird auch in einer Gegenargumentation von v. Weizäcker zum
hypothetischen Realismus deutlich, wenn dieser sagt: „Ich schlage statt dessen
die Ansicht vor, daß 'real' und 'Realität' sinnlose Vokabeln sind, durch deren
vollständige Elimination sich an allen positiven Erkenntnissen der
Naturwissenschaft überhaupt nichts ändert. Das sollte klar werden, wenn wir
bedenken, daß Realität, von der wir wissen können, Realität für uns ist, und
Realität, von der wir nicht wissen können, per definitionem in unserem Wissen
nicht vorkommt...Wenn das Bewußtsein ein Spiegel ist, so kennen wir die
Rückseite des Spiegels nur gespiegelt“ (Vollmer 2003, 307).
Dieses Gegenargument spielt auf das Buch „Die Rückseite des Spiegels“
von Konrad Lorenz an, dem nach diese Rückseite identisch mit unseren
Erkenntnisstrukturen ist. Lorenz stellt diese Rückseite des Spiegels „in eine
Reihe mit den realen Dingen [.], die er spiegelt: Der physiologische Apparat,
dessen Leistung im Erkennen der wirklichen Welt besteht, ist nicht weniger
wirklich als sie“ (Lorenz 1987, 33). Dagegen hält v. Weizäcker wie viele andere
Philosophen sowohl die scheinbar realen Dinge unserer Erkenntnis als auch den
Erkenntnisapparat selbst für „gespiegelt“, so dass wir die eigentliche Realität
gar nicht kennen und es von daher sinnlos ist, sie zu unterscheiden und zu
benennen. Der hypothetische Realismus kann diese postulierte Unterscheidung
zumindest ganz eindeutig nicht empirisch nachweisen.
Vollmer hält dieses sich auf die Transzendentalphilosophie stützende
Gegenargument von v. Weizäcker für „einen grundsätzlichen Fehler“ (Vollmer
2003, 307) mit der Begründung, dass die Theorien der modernen Physik (nämlich
dass Raum und Zeit voneinander unabhängig sind, dass der Raum euklidisch bzw.
nicht gekrümmt ist, dass Ereignisse immer Ursachen haben usw.) unsere
sinnlichen Alltagserfahrungen als falsch hinstellen. Das dürfte Vollmers
Auffassung nach der Transzendentalphilosophie gemäß nicht möglich sein, da
Theorien, soweit sie empirisch prüfbar, geprüft und bestätigt sind, durch die
Strukturen der apriorischen Anschauungsformen, Kategorien und Grundsätze der
Transzendentalphilosophie geprägt sein müssten (vgl. Vollmer 2003, 306-309).
„Danach dürften erfahrungswissenschaftliche Theorien den Strukturen von
Wahrnehmung und Erfahrung niemals widersprechen; sie könnten sie immer nur
bestätigen“ (Vollmer 2003, 307). Da die moderne Physik mit ihren Theorien an
den Grenzen der Welt unserer anschaulichen Sinnes- oder Alltagserfahrung nun
aber eindeutig widerspricht und sie als falsch hinstellt, ist damit im
Verständnis von Vollmer die Transzendentalphilosophie widerlegt, d.h. wegen
dieses Widerspruchs können die Dinge unserer anschaulichen Wahrnehmung daher
nicht a priori durch die »Brille« unserer Anschauung gegeben sein, sondern
müssen eben real vorliegen. Das würde so dann auch den Begriff „real“
rechtfertigen, auch wenn das für uns nur stets hypothetisch erkennbar ist.
Vollmer meint hier also einen durch die Theorien der Physik
aufgedeckten Widerspruch in der Transzendentalphilosophie von Kant zu sehen,
auf die sich v. Weizäcker stützt, so dass wegen dieses Widerspruchs die Transzendentalphilosophie
und damit auch das Argument von v. Weizäcker falsch sein müsse. Doch diese
Theorien der modernen Physik und ihre Bedeutung können auch ganz anders und
darin viel einleuchtender interpretiert werden, so dass darin nicht nur ein
grundsätzlicher Fehler von Vollmer vorliegt, sondern dass hierbei die Erkenntnisse
der modernen Naturwissenschaft selbst in Form der von Vollmer angeführten
physikalischen Theorien den hypothetischen Realismus widerlegen!
Diese Theorien der modernen Naturwissenschaft sind nämlich dann nichts
anderes als das, was zuvor Vollmer gefordert hat, nämlich konkret:
„Andererseits sind die objektiven Strukturen herauszuarbeiten, die
unsere Welt aufweist. Das ist eine Aufgabe der (experimentellen und
theoretischen) Wirklichkeitswissenschaften“ (Vollmer 1998, 130). Die
Wirklichkeitswissenschaften haben hier an den makro- und mikrokosmischen
Grenzen der Welt die objektiven Strukturen herausgearbeitet. Normalerweise,
also in unserer Alltagswelt bzw. im Mesokosmos, stimmen geprüfte
erfahrungswissenschaftliche Theorien mit der anschaulichen Erfahrung stets überein,
so wie auch von Vollmer festgestellt. An den Grenzen unserer Welt, also im
Mikro- und Makrokosmos, widersprechen sie jedoch unserer Alltagserfahrung,
nämlich dadurch, dass sich etwa ein Teilchen plötzlich als Welle erweist, dass
Raum und Zeit ineinander übergehen, die Kausalität aufgehoben ist usw. Die
dinglichen und von uns sinnlich wahrgenommen Strukturen der Welt verschwimmen
hier sozusagen und lösen sich auf. Was heißt das?
Vollmer verwendet dieses Ergebnis der Wirklichkeitswissenschaften wie
oben beschrieben als Argument gegen Kant. Die Verwendung dieser physikalischen
Erkenntnisse als Argumentation zur Bestätigung von Kant würde dagegen lauten,
dass sich hier an den Grenzen der Welt die als real vorausgesetzten dinglichen
Strukturen praktisch auflösen, und das heißt nichts anderes, als dass es
dadurch gar nicht die von Vollmer und dem hypothetischen Realismus postulierten
realen Strukturen sein können! Eine reale Struktur ist stets real und kann sich
nicht unter bestimmten Bedingungen auflösen – ganz im Gegensatz zu der idealen
Struktur eines von neuronalen Mechanismen unter bestimmten Bedingungen
hervorgerufenen „Konstanzphänomens“, wie etwa der Farbwahrnehmung. Es wäre
somit dasselbe, als würde mikrokosmisch untersucht, was Farbe eigentlich ist,
wobei sich die Wahrnehmung »Farbe« in Wellenlängen des Lichts auflösen würde.
Die moderne Physik kann die vom hypothetischen Realismus postulierten
objektiven oder realen Strukturen nicht nur nicht finden, sondern in dem
Ergebnis dieser Forschungen erweist sich das Postulat realer Strukturen in dem
von uns erkannten dinglichen oder materiellen Sein der Welt eindeutig als
falsch.
Die über unser anschauliches Vorstellungsvermögen hinausgehenden
mathematischen Theorien vermitteln an diesen Extremstellen, dass unsere
gegenständlichen Anschauungen hier versagen. Dieses Versagen oder dieser von
Vollmer hier erkannte Widerspruch ist dabei im idealistischen Verständnis kein
Argument gegen die Transzendentalphilosophie, sondern ganz im Gegenteil dafür. Es
ist sozusagen ganz normal, wenn etwa die Farbwahrnehmung als „Konstanzphänomen“
bei bestimmten Bedingungen versagt. Es liegt im Wesen der (apriorischen)
Bildung von Konstanzphänomenen, dass sie nur unter bestimmten Bedingungen
entstehen und existieren, und zwar denen unserer Alltagswelt oder des
Mesokosmos. Es liegt hier die auch von Vollmer selbst in seinem Buch angeführte
„Fähigkeit der Gestaltwahrnehmung [vor], mehr oder weniger komplexe Strukturen
aus dem Ereignisstrom herauszulesen oder selbständig zu bilden“ (Vollmer 1998,
53). Wenn sich diese „Gestalten“ oder „Konstanzphänomene“, egal ob als Farbe
oder als in Zeit und Raum separiertes gegenständliches Sein, bei bestimmten
Bedingungen auflösen und so als relativ und subjektiv geschaffen erweisen, so wird
auf diese Weise das wahre Wesen dieser Erkenntnisse bzw. der Einfluss unseres
Erkenntnisvermögens aufgedeckt, nämlich dass sie nicht real sind.
Interessant ist dabei auch, was diese physikalisch-mathematischen
Theorien weiter aussagen. Sie sagen gerade nichts weiter aus, sondern lösen im
Grunde nur die uns gewohnten fundamentalen dinglichen Strukturen auf, ohne
dabei das »Dahinterstehende« als Realität eindeutig zu erkennen oder irgendwie
zu fassen, und sei es nur als mathematische Theorie oder Formel. Diese Theorien
lösen sich schließlich ebenfalls im Dickicht komplexer und paradoxer
Vorstellungen auf, was nichts anderes heißt, als dass die eigentliche Realität
für uns nicht erkennbar ist, so wie von Kant angenommen.
Das konstruktive Nebeneinander von Realismus und Idealismus
Die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse oder Ergebnisse haben sich
seit dem naiven Realismus auf den Idealismus zubewegt und ergeben heute
faktisch und sozusagen durch die empirischen physikalischen Ergebnisse an den
Grenzen unserer Welt »bewiesen« (bewiesen nicht im »positiven«, sondern nur im
»negativen« Sinn als Auflösung) einen Idealismus oder Subjektivismus – und das
sollte irgendwann dann auch so akzeptiert, eingesehen und benannt werden und
die Dinge dementsprechend geordnet werden. Dazu reicht eine einfache Verschiebung
der »Strukturgrenze« aus, d.h. die Strukturen unserer Welt und einer wie auch
immer gearteten Realität sind gerade nicht isomorph, sondern vielmehr
strikt getrennt.
In dem, das wir als Welt wahrnehmen und erkennen sind somit keinerlei
reale Strukturen enthalten, weder in den Seins- noch den Erkenntnisstrukturen.
Das macht sich unter anderem dadurch konkret bemerkbar, dass alles, was wir in
der Welt erkennen, geschaffen und vergänglich ist, einschließlich unseres
eigenen (erkennenden) Seins. Andererseits können wir aufgrund dieser strikten
Trennung das Reale, Absolute, Substantielle oder Göttliche in keiner Weise
erkennen (höchstens als »negative Erkenntnis« wie in der Physik), ja wir können
es uns nicht einmal vorstellen, nicht einmal wissen, ob es überhaupt ein Reales
gibt, sondern wir können höchstens in einer rein hypothetischen Weise, die
gesetzmäßig stets hypothetisch bleiben wird, postulieren, dass es das irgendwie
geben müsste. Hier gehört das unüberwindbar und stetig Hypothetische hin, d.h.
es hat seinen Platz nicht innerhalb der Welt, sondern an bzw. jenseits der
(absoluten) Grenze der Welt.
Diese strikte Trennung der Strukturen erklärt dann auch die
Besonderheit des Apriori unserer Seins- und Erkenntnisstrukturen: Sie sind für
»uns« als Wesen in der Welt jederzeit und stets von vornherein vorhanden, ohne
dass wir erkennen könnten, wie oder woraus sie entstanden sind. Es ist daher
auch vollkommen sinnlos, sich die Geschaffenheit der in unseren sinnlichen
Anschauungsformen erkannten Dinge der Welt auf der begrifflichen Ebene unseres
Denkens vorstellen zu wollen. Wenn wir das tun (indem wir zumindest unser
eigenes erkennendes Sein als real voraussetzen) oder sonst einmal meinen, ein
Reales irgendwie erkannt zu haben, erweist sich das doch immer wieder als ein
Zirkel oder als die von Maturana und Varela genannte „Kreisläufigkeit“. Der
Vorwurf an Vollmer, dass der hypothetische Realismus einen Zirkel enthält, ist
also berechtigt. Aber dieser Zirkel ist nicht als eine falsche Erkenntnis zu
sehen. Wir können über die Strukturen dieser Welt nicht hinaus, d.h. die
kausalen Gesetzmäßigkeiten gelten nur innerhalb der Welt, nicht aber darüber
hinaus. Hier liegt eine absolute Grenze vor, die sich im Apriori unserer Seins-
und Erkenntnisstrukturen sowie in der Kreisläufigkeit oder Zirkelhaftigkeit
unseres Erkennens äußert, wenn wir an diese Grenze gelangen.
Die beiden Neurobiologen Maturana und Varela haben diese Besonderheit
unseres Seins erkannt und bestätigen mit der Evolutionstheorie den
Subjektivismus bzw. den Idealismus von Kant. Sie stellen zunächst von ihrem
Fachgebiet aus fest: „Wenn wir die Existenz einer objektiven Welt voraussetzen,
die von uns als den Beobachtern unabhängig und die unserem Erkennen durch unser
Nervensystem zugänglich ist, dann können wir nicht verstehen, wie unser
Nervensystem in seiner strukturellen Dynamik funktionieren und dabei eine
Repräsentation dieser unabhängigen Welt erzeugen soll“ (Maturana/Varela 1987,
259). Es geht aber nicht darum, unser heutiges Weltverständnis als völlig irrig
und falsch einzuordnen, sondern darum, es zu relativieren. In der Welt können
wir gar nicht anders, als in einem sogar naiven Realismus zu leben, d.h. wir
müssen im Alltag stets davon ausgehen, dass die anschaulichen gegenständlichen
Dinge wirklich vorhanden sind, und zwar exakt genauso wirklich, wie unser
eigenes körperliches und geistiges Sein in der Welt. Nur bei genauerer,
wissenschaftlicher Betrachtung und letztlich an den Grenzen unserer Welt versagt
dieser Realismus, besonders auch im Tod unseres menschlichen Seins. Maturana
und Varela vollziehen diese Relativierung unserer alltäglichen Weltsicht daher
als eine erkenntnistheoretische „Gratwanderung“ zwischen den „Strudeln“ des
Idealismus oder Solipsismus (Charybdis) und dem „Ungeheuer“ des Objektivismus
oder Repräsentationismus (Szylla) (vgl. Maturana/Varela 1987, 145 ff.).
Man kann diese Relativierung und Gratwanderung auch gut mit einem
Vexierbild vergleichen, in dem zwei völlig verschiedene Deutungen erkannt
werden können, die sich darin gegenseitig ausschließen. Vollmer führt in seinem
Abschnitt über die Gestaltwahrnehmung ein solches Bild an, in dem die
vorhandenen Konturen entweder die Deutung von zwei sich anschauenden Gesichtern
ergeben oder die eines Pokals (vgl. Vollmer 1998, 52). Beide Deutungen dieser
einen Zeichnung können nicht zusammen gesehen werden, nicht einmal in noch so geringen
Teilen. Auf das Verhältnis unserer Welt zu einem Absoluten bezogen heißt das,
dass es sinnlos ist, den „Pokal“ des Absoluten in der Deutung und den
Gesetzmäßigkeiten der „zwei Gesichter“ der Welt zu suchen, er existiert dort
nicht. Mit anderen Worten, wenn die eigentliche Realität oder das Absolute ist,
existieren »wir« und die gesamte Welt mit ihren fundamentalen Seins- und
Erkenntnisstrukturen nicht (und haben in dieser Deutung nie wirklich oder real
existiert).
Die Evolutionstheorie gibt das Werden der Seins- und
Erkenntnisstrukturen in den Strukturen und Gesetzmäßigkeiten unserer Welt
wieder, also vor allem als in Zeit und Raum separiertes Sein. In Hinsicht auf
ein postuliertes Absolutes ist diese Theorie wie alles in der Welt »verzerrt«
oder „gespiegelt“. Sie weist trotz dieser Verzerrung aber doch auf etwas hin,
das dem Verständnis unseres Seins in Hinsicht einer absoluten oder letztendlichen
Wahrheit hilfreich sein könnte. Als sich im Beginn der Evolution des Lebendigen
die erste Urzelle bildete, war das keine absolute Trennung von der Umwelt
dieser Zelle, sondern es war nur eine besondere Struktur, die entstand und sich
eine Zeit lang aufrecht erhielt, so wie eine Welle im Meer. Diese Struktur
entwickelte sich über Mehrzeller, Pflanzen und Tiere bis zu uns Menschen
weiter, wobei mit den Tieren die Erkenntnisstrukturen in die Welt gekommen
sind. Ein Tier besitzt eine Eigenbewegung, die wegen des hohen Energieaufwandes
nur sinnvoll ist, wenn sie kontrolliert erfolgt. Daher verfügt das Tier über
ein Raum- und Zeitbewusstsein, d.h. es abstrahiert und erkennt anderes Sein
bzw. überhaupt Sein als ein separiertes Etwas, wobei dieses separierte Sein als
ein Konstanzphänomen in Zeit und Raum eindeutig gegeben ist. Gleichzeitig ist
damit ein sogenannter „sprachlicher Bereich“ entstanden. Das ist die Vorstufe
zu einer gesprochenen Sprache, d.h. die Verständigung läuft dabei nicht über
Begriffe oder Worte, sondern über Verhaltensweisen, Mimik und Gebärden (vgl.
Maturana/Varela 1987, 223). Dieser sprachliche Bereich besteht etwa dann, wenn
Tiere sich jagen bzw. voreinander flüchten, aber auch die menschliche Kommunikation
mit Tieren erfolgt auf dieser Ebene.
Diese in Zeit und Raum gegebene Eindeutigkeit und Konstanz des
separierten Seins ist die Grundlage unseres Seins und unserer Welterkenntnis,
in der auch wir als Menschen diese Welt a priori erkennen. Wir können dabei
jedoch nur die geschaffenen Strukturen erkennen, nicht die ihnen
zugrundeliegende Realität, da diese eine ganz andere Struktur besitzt, und
zwar, worauf die Evolutionstheorie mit ihrer Urzelle hindeutet, vor allem eine
einheitliche und wahrscheinlich auch eine substantielle. Das einheitliche
»Meer« können »wir« daher immer nur als »Welle« in den Gesetzmäßigkeiten von
Zeit und Raum sowie Werden und Vergehen erkennen und erfahren, d.h. ohne
Substanz und „Realität“, »wir« können gar nicht anders. In der einheitlichen
Struktur des Meeres dagegen gibt es wohl weder das in Zeit und Raum separierte
Sein (der Wellen als Wellen) noch ein Werden und Vergehen und hat es dort nie
real gegeben.
Diese Art der Ordnung der Dinge findet sich, nur mit anderen
Begrifflichkeiten, in der alten sogenannten »negativen Theologie« und hier
besonders bei Meister Eckhart. Insbesondere unterscheidet Eckhart zwei Seinsarten,
das in Zeit und Raum gegebene der Welt und das (göttliche) „überseiende Sein“
und er geht in diesem Subjektivismus weit über Kant hinaus.
Die negative Theologie Meister Eckharts
Meister Eckhart (ca. 1260-1328) war ein mit leitenden Ämtern versehenes
Mitglied des Dominikanerordens, der als einziger Theologe von Rang des gesamten
Mittelalters als Ketzer verurteilt wurde. Er gilt als radikaler
Entmythologisierer und „aufgeklärter als die Aufklärung“ (Quint 1979,
Umschlagtext). Sein Ansatz ist es nach seinen eigenen Worten, „die Schrift
beider Testamente mit Hilfe der natürlichen Gründe der Philosophen auszulegen“ (Christ 1994, 4). In diesem Versuch, den
religiösen Glauben mit der Philosophie und der Vernunft zu vereinbaren, steht
Eckhart in der Tradition der »negativen Theologie«, die bis in das ägyptische,
vom Hellenismus geprägte Alexandria der vorchristlichen Zeit zurückreicht. Mit ihrem „Bestreben, die Welt aus sich selbst, also
rational zu erklären und damit von Einflußnahmen der Götter abzusehen“ (Clauss
2003, 103) gilt die Universität von Alexandria als „die
erste Universität im modernen Sinn“ (Clauss 2003, 92).
Hier unternahm der Jude Philon (etwa 25 v.Chr.-50
n.Chr.) ganz im Selbstverständnis dieser Universität den kühnen Versuch, die
griechische Philosophie, besonders die von Platon, mit der jüdischen Religion
zu vereinbaren. „Philon von Alexandria setzte den Einen Gott des Judentums mit
dem Einen Platons gleich“ (Halfwassen 2004, 149). Das war nur möglich, wenn
Philon sowohl die Geschichten des Alten Testaments als auch den Gott dieser
Schriften selbst nicht als tatsächliche Geschehnisse bzw. als eine reale göttliche
Person verstand, sondern nur in einem allegorischen Sinn. Adam steht so etwa
für das Denken, Eva für die Wahrnehmung, der Garten Eden für den Überfluss,
Kain für die Selbstsucht usw.
Der jüdische Gott wurde darin zu einem Gott, über den nur
durch negative Begriffe (etwa: er ist nicht gut, ist keine
Person usw.) geredet werden kann und der sich so völlig unbestimmbar und
unerkennbar über Allem befindet. Die Verbindung dieses »negativen« und abstrakten
Gottes zur Materie und Welt sah Philon durch Platons Ideen hergestellt, wobei
der Inbegriff dieser Ideen für ihn der Logos war, die weltdurchwaltende
Vernunft. Diesen Logos nannte Philon u.a. auch »Gottes Sohn«. „Es ist klar zu
sehen, wie hier christliche Gedanken vorgebildet sind“ (Störig 1988, 202). Vom
gekreuzigten Jesus ist bei Philon nicht die Rede, es ist vielmehr umgekehrt
davon auszugehen, dass das entstehende Christentum diese Lehre der Wissenschaft
und der gebildeten Kreise benutzt hat, um ihrem neuen Glauben eine theologische
Grundlage als dadurch eigenständige Religion mit einem neuen Gottesbild zu
geben, denn auch die Idee des dreieinigen Gottes stammt ursprünglich aus der
griechischen Philosophie (vgl. Halfwassen 2004, 152). Allerdings stand sie
dort, genau wie der Logos bei Philon, nicht in dogmatischer Weise für reale
göttliche Personen, in deren Verehrung die Menschen ein reales und ewiges Sein
über den Tod hinaus zu erlangen suchen, sondern in der negativen Theologie sind
es nur relative, austauschbare und letztlich zu überwindende Allegorien in
einem das Verhältnis von Absoluten und Welt betreffenden Erkenntnisprozess.
In gleicher Weise wie bei Philon steht auch bei Eckhart der
Vater nur allegorisch für das (neuplatonische) „einige Eine“, der Sohn für die
Erkenntnis dieses Einen usw. Auch geht es bei Eckhart nicht um die (immer egoistische)
»Rettung« des personalen weltlichen Seins oder (wie es Eckhart benennt) der
Kreatur in das Göttliche, Absolute hinein wie im dogmatischen Christentum,
womit weltliche Strukturen göttliche Eigenschaften erlangen würden, sondern
ausschließlich um die bestmögliche Erkenntnis des Absoluten und die wesenhafte
Verbundenheit alles Weltlichen mit diesem als und in einem „einigen Einen“
(Quint 1979, 164). Ganz im Sinne des oben herangezogenen Vexierbildes geschieht
diese Erkenntnis in der negativen Theologie nicht in der Weise (eines
Realismus), indem in den weltlichen Strukturen das Eine, Absolute, Reale oder
Göttliche als dieses Reale erkannt wird und das jeweilige erkennende Wesen
diese Erkenntnis dann als Wissen besitzt und es so wie ein normales weltliches
Wissen weitergeben kann (oder gar, dass das Bekenntnis dazu das weltliche Wesen
vor der Vergänglichkeit zu einem ewigen und darin realen Sein hin rettet).
Der Erkenntnisweg Eckharts fußt vielmehr auf dem Umstand
der, in modernen Begriffen ausgedrückt, neuronalen Mechanismen als „Fähigkeit der Gestaltwahrnehmung, mehr oder weniger
komplexe Strukturen aus dem Ereignisstrom herauszulesen oder selbständig zu
bilden“ (Vollmer 1998, 53), auch als die apriorischen oder sinnlichen
Anschauungsformen von Sein, Raum und Zeit. Das von uns in Zeit und Raum
erkannte gegenständliche Sein ist bei Eckhart genau wie bei Kant nicht absolut
und real, sondern relativ und geschaffen und kann deswegen auf geistige Weise
zum Aussetzen gebracht werden. Dabei gilt: „ehe es
noch Sein gab, wirkte Gott; er wirkte Sein, als es Sein noch nicht gab“ (Quint
1979, 196) und: „wenn die Seele der Zeit und des Raumes ledig ist, so
sendet der Vater seinen Sohn in die Seele“ (Quint
1979, 173). Zu dieser Relativierung des Seins gehört auch das
„Ledigwerden“ des menschlichen weltlichen Seins als Kreatur: „Er sah Gott, wo
alle Kreaturen nichts sind“ (Quint 1979, 332).
Im dogmatischen Christentum wird versucht, das eigene Kreatursein über den Tod
hinaus zu vergöttlichen, in der negativen Theologie wird es dagegen schon vor
dem Tod auf geistige Weise überwunden.
Eckhart geht dann dadurch weit über Kant hinaus, indem er nicht nur die
Relativität dieser fundamentalen Anschauungsformen erkennt, sondern in einer
„geistigen Armut“ (vgl. »Armutspredigt« Quint 1979, 303 ff.) dieser
grundlegenden sinnlichen Anschauungsformen des in Zeit und Raum separierten
Seins auch hinsichtlich des eigenen Kreaturseins wie zuvor zitiert „ledig
wird“. Im Grunde ist das nichts anderes, als wenn die Theorien der modernen
Physik im Mikro- und Makrokosmos das gegenständliche (Teilchen)Sein unserer
gewohnten Alltagssicht außer Kraft setzen. Das in Raum und Zeit separierte
gegenständliche Sein erweist sich in dem „Ledigwerden“ Eckharts sozusagen auch
empirisch als relativ und geschaffen, was darin dann jedoch nicht nur das
eigene Kreatursein, sondern, da es um die fundamentalen Seins- und
Erkenntnisstrukturen geht, existentiell die ganze Welt betrifft. Die Welt existierte nach dem Verständnis der Zeit Eckharts
6000 Jahre in Zeit und Raum, wobei sie in den folgenden Worten Eckharts durch
das „Ledigwerden“ ihr wahres und eigentliches Wesen offenbart:
„Dort, wo niemals Zeit eindrang,
niemals ein Bild hineinleuchtete: im Innersten und im Höchsten der Seele
erschafft Gott die ganze Welt. Alles, was Gott erschuf vor sechstausend Jahren,
und alles, was Gott noch nach tausend Jahren erschaffen wird, wenn die Welt
(noch) so lange besteht, das erschafft Gott im Innersten und im Höchsten der Seele.
Alles, was vergangen ist, und alles, was gegenwärtig ist, alles, was zukünftig
so ist, das erschafft Gott im Innersten der Seele“ (Quint 1979, 356).
Gerade diese Aussage von Eckhart verdeutlicht, dass
genau wie die Farben oder die Sprachen in der Welt auch die Welt selbst von
jedem erkennenden Wesen konstruiert oder hervorgebracht wird (in der
Perspektive der evolutionären Entwicklung durchaus aber auch gemeinsam in einem
großen Abstimmungs- oder Verknüpfungsprozess von Konstanzphänomenen). In dem
Aussetzen wird dabei die jenseits dieser fundamentalen Seins- und
Erkenntnisstrukturen sich befindende Einheit vollzogen (die jedoch im Grunde
nie abwesend ist, weil die Trennung in der Welt nur durch die fundamentalen
Erkenntnisstrukturen relativ bedingt ist, die bei Eckhart zum Aussetzen
gebracht werden). In der Einheit gibt es das in Zeit und Raum separierte
weltliche Sein nicht, sondern: „Sage ich ferner: Gott ist ein Sein - es
ist nicht wahr; er ist (vielmehr) ein überseiendes Sein und eine überseiende
Nichtheit!“ (Quint 1979, 353), und für die
gilt: „Ganz so werde ich in ihn verwandelt, daß er mich als sein Sein wirkt,
(und zwar) als eines, nicht als gleiches; beim lebendigen Gotte
ist es wahr, daß es da keinerlei Unterschied gibt“ (Quint
1979, 186). Im dogmatischen Christentum steht die gerettete Kreatur in
ihrem ewigen, realen Sein dem realen Gott durch eine unüberbrückbare Kluft
getrennt ewig gegenüber (vgl. Störig 1988, 213 f.), in der negativen Theologie
verschmelzen dagegen Kreatur, Welt und Göttliches jenseits von Sein, Zeit und
Raum zur ununterscheidbaren Einheit.
Das Problem der Erkenntnis dieses ja empirischen
Geschehens liegt nun darin, dass darin alles Erkennen und Sein gerade abwesend
oder zunichte geworden ist, denn Erkennen gibt es nur in den dualistischen,
weltlichen Strukturen. Erst wenn nach diesem Aussetzen die fundamentalen
weltlichen Erkenntnisstrukturen sozusagen urknallmäßig oder a priori
wiedereinsetzen, kann darin das Aussetzen und damit die Relativität der
Erkenntnisstrukturen erkannt werden. In diesem Umstand liegt die Trinität der
Gottheit in ihrem ursprünglichen Sinn als göttliche Erkenntnis des Absoluten
oder Einen begründet. Die wahre und darin trinitarische Sohn-Erkenntnis besteht
nach Eckhart daher erst darin, wenn auch diese höchste, göttliche Erkenntnis
nach einem Aussetzen der Erkenntnis- und Seinsstrukturen nicht als ein mit
irgendwelchen weltlichen (personalen) Begriffen identifiziertes göttliches Sein
in Zeit und Raum der Welt ausfließt und dort (in einem Sein, einem Dogma und
einer Religion) erstarrt, sondern indem auch diese höchste Erkenntnis nur in
einem „Fünklein“ (Quint 1979, 163) als etwas Geschaffenes genommen wird, so
dass darin in einem armen und heiligen Geist die Seins- und Erkenntnisstrukturen
inklusive der höchsten Erkenntnis wieder umfassend vergehen können und so sich
die Einheit wiederum vollzieht, was dann wiederum erkannt wird usw. Die wahre
Gotteserkenntnis ist so ein fortlaufendes, dynamisches und lebendiges Geschehen
(oder eine Gratwanderung) an der absoluten Grenze zwischen der geschaffenen
Welt mit ihren Seins- und Erkenntnisstrukturen und dem Absoluten oder Einen,
bei dem als göttlicher Selbsterkenntnisprozess dann gilt: „Die Liebe hat dies
von Natur aus, dass sie von Zweien als Eines ausfließt und entspringt. Eins als
Eins ergibt keine Liebe, Zwei als Zwei ergibt ebenfalls keine Liebe; Zwei als
Eins dies ergibt notwendig naturgemäße, drangvolle, feurige Liebe“ (VeM, 116).
Der Bezug zum heutigen Sein
»Ist« das alles so, hat die Welt in dieser Weise ein (überseiendes)
Sein (jenseits des Seins)? Ist das „Reale“, Absolute oder die göttliche Einheit
stets nur eine geschaffene, hypothetische Idee, eine bloße Einbildung? In der
negativen Theologie ja, denn das definiert die negative Theologie, ist ihre
Kernaussage und genau darin vollzieht sich der heilige, arme Geist der
trinitarischen Gotteserkenntnis bei Eckhart, so dass nach seinen Worten
letztlich stets gilt: „Was ist das letzte Endziel? Es ist das verborgene Dunkel
der ewigen Gottheit und ist unerkannt und ward nie erkannt und wird nie erkannt
werden“ (Quint 1979, 261). In der Welt bleiben somit sowohl eine substantielle
Realität (selbst mit den feinsten Methoden der modernen Naturwissenschaft) als
auch die letztendliche Einheit allen Seins, die darin ja ebenfalls von der
Evolutionstheorie vermittelt oder zumindest angedeutet wird, für »uns« wie in
einem Vexierbild verborgen, nicht erfahrbar bzw. es ist und bleibt für »uns«
eben immer nur eine bloße, hypothetische Idee oder ein Allegorie.
Aber mit dieser bloßen Idee könnten im wahrsten Sinne des Wortes
idealistisch schon in der Welt die Widersprüche, besonders die (internen und
externen) der Religionen, aber auch die zwischen Natur- und Geisteswissenschaft,
zu einem bestmöglichen einheitlichen Sein hin überwunden werden. Das wäre eine
indirekte empirische Bestätigung dieser Idee, wobei die Ausführung und
Anwendung im Grunde nur etwas Flexibilität im Denken bzw. die von Kant genannte
und durchgeführte „Umänderung der Denkart“ (Kant 1787, BXVI) verlangt (durchaus
auch im Sinne einer evolutionären Weiterentwicklung auf der geistigen Ebene der
Begriffe, Ideen oder Weltbilder). Auf der emotionalen Ebene könnte diese
bestmögliche Einheit erreicht werden, wenn statt der egoistischen Vergötterung
des jeweils eigenen kreatürlichen Seins die wahre Einheit allen Seins
verehrt werden würde, die darin allerdings, so wie heute die personalen
Gottesbilder, als Sein in der Welt immer nur geglaubt werden kann.
Aber auch wenn das besondere Verhältnis einer letztendlichen Realität
zu unseren Seins- und Erkenntnisstrukturen nicht wie bei Eckhart und Kant auf
geistige Weise aufgedeckt und berücksichtigt wird, sondern wenn »wir« die von
uns erkannte Welt und besonders unser eigenes Sein darin auch in einem
letztendlichen Sinn weiter für real halten und die Welt nach diesem Maßstab zu
vollenden suchen und in (exzessiven) materiellen Werten das Ideal und den
Lebenssinn sehen, wird unter diesen Bedingungen die letztendliche Wahrheit sich
ebenfalls letztlich vollziehen, besonders wenn der Lebensraum der Erde begrenzt
ist und die Entwicklung an diese Grenze stößt. Das von einem Realismus allein
beherrschte Weltbild und Verhalten wird sich auf diese für uns empirische Weise
mit all ihren Konsequenzen als falsch erweisen, hierbei dann nicht auf
elegante, humane geistige Weise, sondern (eher animalisch) auf der für uns
scheinbar realen und mit den Emotionen verbundenen materiell-körperlichen
Ebene.
Der auf einem Realismus fußende dogmatische religiöse Glaube, der unter
den heutigen Lebensumständen mehr und mehr zu einer unangepassten
Verhaltensweise wird, wird dabei in seinem Versuch, alles Leid zu vermeiden,
unter den neuen Lebensumständen paradoxerweise das größtmögliche Leid mit
herbeiführen. Es stellt sich so die Frage, ob von der negativen Theologie her
selbst in einem umfassenden Scheitern der Menschheit genau wie im individuellen
(bei Eckhart geistigen) Tod nicht die eigentliche, negative Gottes- oder
Einheitserkenntnis und -erfahrung liegt.
Literaturverzeichnis
Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, 2. Auflage 1787
Konrad Lorenz, Die
Rückseite des Spiegels – Versuch einer Naturgeschichte menschlichen Erkennens,
München 1987
Gerhard Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie,
Stuttgart-Leipzig 1998
Gerhard Vollmer, Was können wir wissen?, Band 1: Die Natur der
Erkenntnis, Stuttgart 2003
Humberto R. Maturana / Francisco J. Varela, Der Baum der Erkenntnis,
Bern-München-Wien 1987
J. Quint (Hrsg.), Meister Eckehart - Deutsche
Predigten und Traktate -, Zürich 1979
Karl Christ (Hrsg.) Meister Eckhart, Die
lateinischen Werke, Bd. III, Stuttgart 1994,
M. Clauss, Alexandria – Schicksale
einer antiken Weltstadt, Stuttgart 2003
J. Halfwassen, Plotin und der
Neuplatonismus, München 2004
H.-J. Störig, Kleine Weltgeschichte der
Philosophie, Frankfurt/M. 1988
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