Erschienen in Ausgabe: No 89 (07/2013) | Letzte Änderung: 01.08.13 |
In Folge der Finanz-, Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise ist seit 2008 vermehrt von „der Krise der Wissenschaft“ zu hören: Diese manifestiere sich in „ihrer“ Unfähigkeit, die zuvor genannten Krisen voraussagen und ihnen wirkungsvoll begegnen zu können. Im Folgenden soll die Unangemessenheit der singulären Rede von der Krise der Wissenschaft aufgezeigt werden, indem der Umgang verschiedener Wissenschaften (Wirtschaftswissenschaften, Physik, Philosophie) in je eigenen Krisensituationen nachgezeichnet wird. Durch diesen Vergleich zeigt sich, wie unterschiedlich diese Situationen und die auf sie folgenden Krisenheuristiken im Einzelnen zu charakterisieren sind. Auf diesen historischen Abriss folgend, werden die negativen Auswirkungen eines undifferenzierten Krisendiskurses beschrieben.
von Manuel Reinhard
Wahrscheinlich hat es nie eine Zeit gegeben, zu der das
Bewusstsein der Krise nicht allgegenwärtig gewesen ist (und wenn nur aus dem
Grund, dass die eigene Zeit als die „goldene“ empfunden wurde und daher umso
stärker ihre Krise gefürchtet werden musste). Die Zeiten (in) der Wissenschaft
sind von dieser Vermutung nicht ausgenommen: Probleme und Lösungswege nehmen
die jeweils andere Stelle ein - aus Problemen werden Lösungen, aus Lösungen
werden Probleme -, je nachdem, von welcher Seite des Kontinuums, auf der beide
angesiedelt sind, ich sie betrachte. Was sich nunmehr aufdrängt, ist die Frage
nach diesem Kontinuum. Ich werde sie auf den folgenden Seiten nicht beantworten
- „lösen“ -, da ich mit einer Antwort wohl weniger dieses Kontinuum zu fassen
bekomme als schlichtweg einen weiteren Kippspiegel auf ihm abstelle.
Auf den folgenden Seiten wird es mir daher einzig und allein
darum gehen, die Stelle zu markieren, an der die Rede von der „Krise der Wissenschaft“
selbst in eine Krise gerät - ihr Spiegel kippt -, zu ihrem und zu unserem
Glück, wie mir scheint. Dieses Glück besteht jedoch nicht darin, dass an der
Stelle, die ich zu markieren beabsichtige, die „Krise der Wissenschaft“ enden
könnte. Im Gegenteil: Sie vervielfacht sich, so jedoch auch ihre „Enden“. Die
singuläre Rede von der „Krise der Wissenschaft“ gerät in ihre eigene Krise, da
ein Blick auf wissenschaftliche Krisen zeigt, dass sie nur im Plural möglich
ist. Wie sieht dieser Plural aus?
Wissenschaften
und ihre Krisen
Wenn ich nunmehr Formen der Krise in der wissenschaftlichen
Welt der jüngeren Vergangenheit nachzuspüren versuche, werde ich dabei zwei
Heuristiken des Umgangs mit wissenschaftlichen Krisen zu unterscheiden lernen: nicht-kontradiktorische und
kontradiktorische Heuristiken. Der nun folgende disziplinäre Vergleich
zwischen 1.) der Finanzökonomie, 2.) der Chaostheorie und 3.) der Philosophie
wird den Unterschied beider Heuristiken aufzeigen.
1.) Die Bestimmung der
Werthaftigkeit von Handelswaren hat seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ihren
zentralen Ausgangspunkt verloren: die Unterscheidung zwischen einem eigentlichen Wert von Waren im Gegensatz
zu ihrem bloßen Umlaufswert. Die forschungsleitende
Frage von ökonomischer Theorie - was ist der korrekte Wert einer Arbeitsstunde,
eines Hektars Boden etc. im Gegensatz zu dem, was für sie momentan bezahlt
wird? - hat damit den Maßstab verloren, der ihre Klärung geleitet hat. Dieser
Verlust leitet den Übergang von der klassischen Ökonomie hin zur Neoklassik
innerhalb der Volkswirtschaftslehre ein.[1] Die Volkswirtschaftslehre und die Frage der Bestimmbarkeit
von Wertveränderungen verfällt zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht in ein
existentielles Schweigen, im Gegenteil. Dieses Gegenteil findet sich
exemplarisch in der Finanztheorie.
In einem im Jahr 1952 veröffentlichten Artikel kreierte der
spätere Wirtschaftsnobelpreisträger Harry Markowitz als damals 25-Jähriger
Postgraduatestudent eine Theorie über das risikolose Erstellen von
Wertpapierportfolios. Seine Theorie „hat eigentlich für alle späteren
finanztheoretischen Arbeiten den Grundstein gelegt und mit der Zeit ebenfalls
eine ganze Reihe von Techniken für die Praxis ermöglicht […]”.[2] Der Witz von Markowitz´ Theorie liegt darin, dass sie die
Spannbreite der möglichen zukünftigen Preisveränderungen der einzelnen
Wertpapiere als normalverteilt annimmt.
Dadurch macht er sie statistisch handhabbar, ohne dass er auf das Konzept eines
„eigentlichen Wertes“ zurückgreifen müsste, um von diesem her Preisveränderungen
abzuleiten.[3] „Ihre besondere Bedeutung hat die Normalverteilung deshalb
erlangt, weil viele Zufallsvariablen, die bei Experimenten und Beobachtungen in
der Praxis auftreten, exakt oder zumindest annähernd normalverteilt sind“.[4]
Wie genau diese Verteilung
aussieht, ist im Rahmen meines Essays vernachlässigbar. Hervorzuheben ist
dagegen, dass über das vermeintliche Wissen über die Art der Verteilung von
Zufallsvariablen deren Zufälligkeit gebannt werden kann. Die genauen Veränderungen
der einzelnen Zufallsvariable lassen
sich zwar noch immer nicht vorhersagen, dagegen jedoch lässt sich der Bereich eingrenzen, in dem diese
Veränderungen liegen müssen. Auf diesem Modell aufbauend, plädiert Markowitz
nun für die Diversifikation des gesamten
Portfolios als Heuristik des Umgangs mit den Risiken der einzelnen Wertpapiere. Diese Diversifikation muss aufgrund des
Modells der Normalverteilung der einzelnen Wertpapiere dazu führen, dass sich
die Risiken einzelner Wertpapiere gegenseitig aufheben.
Markowitz´ Strategie, mit dem
Scheitern des Konzeptes eines „eigentlichen Wertes“ umzugehen, das die
Preisveränderungen einzelner Wertpapiere vorhersagbar machen sollte, ist eine
Heuristik des Identifikationsgewinns durch Diffusion. Was heißt das? Die Preisschwankungsbreite
einzelner Wertpapiere ist zwar durch
seine Heuristik weiterhin nicht genau identifizierbar; identifizierbar ist
dagegen jedoch - dank Annahme der Normalverteilung der möglichen
Preisveränderungen - die mögliche
Schwankungsbreite der Wertpapiere. Sie wird nunmehr wieder mathematisch in Form
von wahrscheinlichkeitstheoretischen Risikomodellen identifizierbar,
berechenbar und somit kalkulierbar.[5] Die Finanztheorie kann aufgrund dieses konservativen
Schachzugs dort eine Ordnung erkennen, wo ungeübte Börsenbeobachter nur Zufälle
sehen.
2.) Einsteins spezielle
Relativitätstheorie lässt auf makrokosmischer Ebene, Heisenbergs
Unschärferelation auf mikrokosmischer Ebene das von Newton standardisierte
Paradigma physikalischer Prozesse empiriefremd zurück. „Ihre Aussagen stellten
Grundpfeiler des klassischen Weltbildes radikal in Frage, nämlich den absoluten
Raum Newtons und die Euklidische Geometrie“, sowie die Annahme der Stetigkeit
physikalischer Prozesse.[6] Diese Verunsicherung gegenüber den altehrwürdigen
Prinzipien ist ebenfalls der Effekt eines 1963 vom Meteorologen Edward Lorenz
veröffentlichten Artikels. Lorenz und seine Mitarbeiter stoßen dort
zufälligerweise auf die exponentielle Bedeutung marginaler
Nachkommastellenveränderungen bei der Vorhersage von Wetterprozessen.[7]
Die Eigenheit dieses Artikels
liegt im Gegensatz zu Einsteins spezieller Relativitätstheorie jedoch nicht darin, dass er grundsätzliche
Gleichungen der newtonschen Physik verändert. Sie liegt dagegen darin, dass der
Artikel die Bedeutung minimaler Veränderungen beim Einsetzen von Werten in die
Gleichungen, mit denen Systeme wie Wetterveränderungen berechnet werden sollen,
verdeutlicht. Der Effekt aber ist der gleiche: Es entstehen Zweifel an der
Tragfähigkeit der Leitlinien des klassischen physikalischen Paradigmas, denn
dieses verspricht die prinzipiell problemlose Vorhersagbarkeit physischer Prozesse.
Die Bedingung dieses Versprechens ist das Erstellen der korrekten Gleichungen
samt Einsetzen der genauen Ausgangswerte. Der Maßstab für die Genauigkeit der
Ausgangswerte steigt nun jedoch ins Phantastische, wie Lorenz erkannt hat.
Minimale Veränderungen in den Ausgangswerten können - so bei Wetterphänomenen -
auf lange Sicht zu erheblich divergierenden Resultaten führen (Stichwort „Schmetterlingseffekt“).
Bekanntlich war dies jedoch
nicht das Ende physikalischer Rechenspiele. Die Chaostheorie, die mit Bezug auf
Lorenz` Artikel in die Welt tritt, formiert sich als Reaktion auf eben diese
Berechenbarkeitsproblematik. Ihre Taktik
ist die Suche nach regelmäßigen Zyklen innerhalb der zeitlichen Veränderungen
von Systemen wie Wetterveränderungen, Populationsgrößen etc. Die erhoffte
Regelmäßigkeit dieser Systeme soll darin bestehen, dass deren zeitliche
Veränderungen sich im Laufe ihres Fortschreitens einem sgn. „Attraktor“
annähern: einem Zielwert, Anziehungspunkt, „Magnet“ dieser Veränderungen.
„Hinter dem Begriff Attraktor, der oben stillschweigend eingeführt wurde,
verbirgt sich nichts Geheimnisvolles. Es wird nur die einfache Tatsache ausgedrückt,
daß die Trajektorien [Bewegungsbahnen] von einem bestimmten geometrischen
Gebilde, der sogenannten Attraktormenge, irreversibel angezogen werden. In
diesem Sinne ist die Erde ein Attraktor für die Bewegung von Steinen,
Flugkörpern, Kometen usw., der Ozean ein Attraktor für die Bewegung der Bäche
und Flüsse“.[8]
Dieser Attraktor kann einem
Punkt, einem Torus oder - so oftmals in Bezug auf nicht-lineare (scheinbar
chaotische) Systeme - einem Fraktal ähneln. Letzteres ist eine Entdeckung der
chaostheoretischen Forschung. Ein Fraktal ist ein in seiner Geometrie selbstähnliches
Gebilde. Seine Teile kopieren jeweils in sich selbst die Struktur des
Gesamtgebildes, von dem sie einen Teil bilden (z.B. ähnelt die Struktur einer
einzigen Bergspitze der Gesamtstruktur einer Gebirgskette).[9] Der Begriff des „Attraktors“ bringt also auf konventionelle
Art und Weise Ordnung in die Unordnung: Er versucht die Berechenbarkeit
scheinbar unberechenbarer, da chaotisch anmutender Systeme sicher zu stellen.
Besteht Markowitz` Heuristik
des Scheiterns in einem, wie ich es nannte, Identifikationsgewinn durch
Diffusion, so ähnelt die chaostheoretische Suche nach Attraktoren einem
Identifikationsgewinn durch Rhythmisierung. Die Beobachtung der zeitlichen Prozesse
eines Systems wird nicht, wie bei Markowitz, anhand eines statistischen Möglichkeitsraumes
intendiert. Sie wird intendiert anhand
der Suche nach einer systemischen Richtungsorientierung, die sich in den
systemeigenen Prozessen möglichst abzeichnen soll. Zumindest dann, wenn das
System trotz seiner Nicht-Linearität - seinem „Chaos“ - noch als „regelmäßig“
bezeichnet werden kann.
3.) Nietzsche schreibt zu
Beginn von „Jenseits von Gut und Böse“: “Der Wille zur Wahrheit […], jene
berühmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bislang mit Ehrerbietung
geredet haben: was für Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit uns schon
vorgelegt!“ Daraufhin gibt er zu denken, ob es nicht an der Zeit ist, „endlich
einmal misstrauisch [zu] werden, die Geduld [zu] verlieren, uns ungeduldig
um[zu]drehn? Dass wir von dieser Sphinx auch unserseits das Fragen lernen“?[10] Wenn Nietzsche dies fragt, dann spricht er die Quintessenz
dessen aus, woran sich die Philosophie des 20./21. Jahrhunderts messen lassen
will: Die Herausforderung, trotz des Misstrauens in die Leitlinien der
abendländischen Philosophie nicht in schweigende Verzweiflung zu verfallen.
Diese Herausforderung besteht
darin, Fragen stellen zu lernen, die von dieser Tradition noch unbelastet sind
- und deren Krise daher unbeschadet überstehen können. Dies ist nach Nietzsche
u.a. auf drei paradigmatische Arten und Weisen versucht worden. Karl Jaspers untersucht das Scheitern der
traditionellen Leitlinien von Philosophie mit Blick auf das Individuum, das es
diagnostiziert. Ludwig Wittgenstein untersucht es mit Blick auf die Sprache
dieses Individuums. Martin Heidegger untersucht es in Relation zur Möglichkeit
seiner Fundamentalisierung.
Jaspers formuliert
paradigmatisch die erste der drei philosophischen Versuche aus, auf Phänomene
wie Ungewissheit und Komplexität zu antworten. Er stellt die existenzialistische
Frage nach dem persönlichen Umgang mit diesen Phänomenen: Wie geht der Einzelne
mit dem Fehlen der traditionellen Orientierungsmarken um? „Die Grenzsituationen
- Tod, Zufall, Schuld und die Unzuverlässigkeit der Welt - zeigen mir das
Scheitern. Was tue ich angesichts dieses absoluten Scheiterns, dessen Einsicht
ich mich bei redlicher Vergegenwärtigung nicht entziehen kann“? Jaspers Antwort
lautet: „Der Mensch sucht Erlösung. Erlösung wird geboren durch die großen,
universalen Erlösungsreligionen. Ihr Kennzeichen ist eine objektive Garantie
für die Wahrheit und Wirklichkeit der Erlösung. Ihr Weg führt zum Akt der
Bekehrung des Einzelnen. Dies vermag die Philosophie nicht zu geben. Und doch ist
alles Philosophieren ein Weltüberwinden, ein Analogon der Erlösung“.[11] Der einzelne, orientierungssuchende Mensch gerät bei
Jaspers in den Fokus, nicht die zeitlosen, objektiven Orientierungsmarken, die
er zu erkennen versucht. Deren Fehlen wird ja gerade vorausgesetzt. Somit fehlt
jedoch die zentrale Bezugsgröße, um die einzelnen Orientierungsleistungen der
sinnsuchenden Individuen endgültig zu bewerten. Die Orientierungsversuche
der einzelnen Individuen bilden somit jeweils Bezugsrahmen für sich selbst.
Mit Ludwig Wittgenstein haben
wir die zentrale Referenzfigur der sprachreflexiven Reaktion auf die Krise des
traditionellen Philosophieparadigman - und somit auf Ungewissheit und
Komplexität - vor uns. Stellt Jaspers das fragende Subjekt ins Zentrum seines
Interesses, so nimmt in Wittgensteins „Philosophischen Untersuchungen“ die
Sprache, in der das Individuum seine Fragen stellt, diese Rolle ein: “Wenn ich
in der Sprache denke, so schweben mir nicht neben dem sprachlichen Ausdruck
noch >Bedeutungen< vor; sondern die Sprache selbst ist das Vehikel des
Denkens“.[12] Wenn Sprache das Vehikel des Denkens ist, so kann Denken
nur noch in Relation zu der Sprache untersucht werden, die die Gedanken
formuliert. Die jeweiligen Unterschiede zwischen den sprachlichen Gewohnheiten
von verschiedenen Gruppen stehen nun aber unverbunden nebeneinander.
Wittgenstein nimmt der Philosophie infolge dessen die zentrale traditionelle
Bezugsgröße, um sprachliche Idiosynkrasien zu ordnen: als fehlerhafte
„Abweichung“ oder korrekte „Repräsentation“ von Gedanken bzw. von der Welt. „Gedanken“
bzw. „Welt“ sind ja bei Wittgenstein gerade keine sprachunabhängigen Größen
mehr, sie können daher auch nicht weiter als unabhängige Richter über
sprachliche Gewohnheiten urteilen.
Es bleibt schließlich Martin
Heidegger als diejenige Figur, die die scheinbare Vordergründigkeit des
Individualismus eines Jaspers und der Sprachfixierung Wittgensteins korrigieren
will. Dem Versäumnis der traditionellen Philosophie stellt er bekanntermaßen
eine Radikalisierung der Frage nach dem Sein des Seienden entgegen.[13] Diese Frage soll in einem gereinigten Neubeginn, in einem anderen Anfang münden: „Der Anfang ist
das Sichgründende Vorausgreifende; sich gründend in den durch ihn er-gründeten
Grund; vorausgreifend als gründend und deshalb unüberholbar. Weil jeder Anfang
unüberholbar ist, deshalb muß er stets wiederholt werden, in der
Auseinandersetzung in die Einzigkeit seiner Anfänglichkeit und damit seines
unumgehbaren Vorgreifens gesetzt werden. Diese Auseinandersetzung ist dann
ursprüngliche, wenn sie selbst anfänglich ist, dies aber notwendig als anderer
Anfang“.[14] Im Plural von anderen Anfängen zu sprechen, relativiert
jedoch gleichzeitig den traditionellen Anfang, dem Philosophie bislang, so
Heidegger, gefolgt ist. Diese Relativierung resultiert in dem Nebeneinander und
zeitlichen Aufeinander verschiedener zeitlich (und räumlich?) lokalisierbarer
Anfänge. Einen speziellen unter ihnen nun jedoch mit Bezug auf scheinbar
zeitlose Gründe hervorzuheben, wird aufgrund der Frageperspektive Heideggers
nun unglaubwürdig: Er betont die „unumgehbare“ „Einzigkeit“ jedes Anfangs, wie
das obige Zitat demonstriert. Die Einzigkeit jedes Anfangs impliziert jedoch
dessen Unabhängigkeit von den Maßstäben aller anderen Anfänge, egal wie ernst
diese sich auch nehmen.
Jaspers, Wittgenstein und
Heidegger scheinen drei grundsätzlich disparate Antworten auf das Misstrauen in
die traditionellen Leitlinien der abendländischen Philosophie zu geben. Alle
drei verbindet jedoch eine grundsätzliche Gemeinsamkeit: die grundsätzliche Abkehr von der Suche nach einer stets zu
priorisierenden Bezugsgröße philosophischen Fragens, Theoretisierens und
Kritisierens. Alle drei weisen auf
eine Pluralisierung der philosophischen Bezugsgrößen hin.
Die Gemeinsamkeit von
existenzialistischer, sprachreflexiver und seinsgeschichtlicher Philosophie
besteht darin, dass alle drei aus der Unmöglichkeit von Allgemeinheit zur
Allgemeinheit des Besonderen fliehen. Was bedeutet das? Statt übergeordnete,
zeitlose Maßstäbe der Bewertung zu suchen, lassen alle drei ihre jeweiligen
Ausgangsphänomene für sich selbst sprechen. Diese Ausgangsphänomene können
die existenzialistische Sinnsuche eines Individuums, die Sprachgewohnheiten
einer Gruppe oder der andere Anfang einer Seinsepoche sein.
Diese Verabsolutierung der
konkreten Ausgangsphänomene kommt einer Verabsolutierung einer pluralistischen
Ausgangslage gleich. Die spezifischen Unterschiede zwischen den
Ausgangsphänomenen - zwischen verschiedenen Sinnsuchern, Sprechenden oder Seinsepochen
- sind nicht durch eine allgemeine Bezugsgröße erklärbar, kategorisierbar oder
kritisierbar. Die Existenz eines Richtwerts für gelingende Sinnsuche, für gelingende
Übersetzbarkeit von Sprachgewohnheiten zwischen Gruppen oder gelingende Vorhersagen über das
Aufeinanderfolgen von Seinsepochen wird fragwürdig.
Dieses pluralitätstolerante
Denken, dass die Eigenartigkeit des spezifischen Ausgangsphänomens als nicht hintergehbar betrachtet, steht im
Gegensatz zu der philosophischen Tradition, von der sich Jaspers, Wittgenstein
und Heidegger abgrenzen. Die Tradition, von der sie sich abgrenzen, kennt
Eigenartigkeit zunächst nur als fehlerhaftes Abweichen von einem absoluten
Standard: von der einen Ordnung der
Welt; von der Sprache, die diese Ordnung zu
fassen vermag und der universellen
Geltungsweite dieser Ordnung.
Einen solchenBruch mit
der eigenen Tradition finden wir weder in der Finanztheorie noch in der
Chaostheorie, da sie beide, trotz ihrer oben genannten spezifischen Unterschiede,
keinen grundsätzlichen Bruch mit den Leitlinien ihres disziplinären Paradigmas
vollziehen. Moderne Finanztheorie intendiert mittels
Wahrscheinlichkeitsrechnung die Vorhersagbarkeit der Preisveränderung von
einzelnen Wertpapieren selbst wiederum im Rahmen von Rechenkalkülen zu
ermöglichen. Die chaostheoretische Attraktormetapher bildet ein ebensolches
Rechenkalkül. Kurz: Die Eigenheit der philosophischen Heuristiken der drei
Philosophen besteht in der Abkehr vom traditionellen Paradigma ihrer Disziplin.
Sie kehren dieses Paradigma um: Pluralität statt Reduktion. Weder finanzökonomische
noch physikalische Theorie teilt diese Umkehrung.
Der Unterschied zwischen beiden
Heuristiken besteht in der Art und Weise, wie sie auf die Phänomene reagieren,
die das traditionelle Paradigma in Schwierigkeiten gebracht haben. Die
kontradiktorische Heuristik ist eine passive bzw. negative Heuristik. Dem
Scheitern ihres traditionellen Paradigmas begegnet sie durch Umkehrung von
dessen Leitmotiven. Mit anderen Worten: Die kontradiktorische Heuristik gibt
ihr traditionelles Paradigma auf. Die fehlerhaften Abweichungen von diesem
Paradigma, die zuvor noch zu entschärfen waren, werden nun zum neuen
regulativen Ideal. Sie gilt es jetzt zu pflegen. Der Pluralismus innerhalb von
Ausgangsphänomenen (z.B. die Sinnsuche eines Individuums bei Jaspers), der
zuvor als fehlerhaftes Abweichen vom Ideal aufgetreten ist (von der göttlichen
Ordnung), tritt nun als unvermeidbar auf (Fehlen einer göttlichen Ordnung).
Diese Unvermeidbarkeit wird jedoch nicht negativ konnotiert, im Gegenteil
(jeder besitzt das Recht, sein Leben an eigenen Maßstäben zu orientieren).
Zusammengefasst bedeutet das: Der Grund des bisherigen Scheiterns wird zum
Grund zukünftigen Erfolgs.
Die nicht-kontradiktorische Heuristik dagegen ist eine
aktive Heuristik, deren Aktivität darin besteht, Ambiguitäten und
Unsicherheiten innerhalb ihres
traditionellen Paradigmas (z.B. als Risiko oder Attraktor) zu reformulieren,
ohne das Paradigma aufzugeben. Die Leitunterscheidungen des klassischen Paradigmas
werden nicht umgekehrt. Die Gründe für die Schwierigkeiten des klassischen
Paradigmas werden nicht zum neuen regulativen Ideal. Sie gilt es nicht zu
pflegen. Sie werden nicht zum Grund zukünftigen Erfolgs. Sie gilt es weiterhin
zu entschärfen. Der Pluralismus innerhalb der beobachteten Phänomene (z.B.
Wertveränderungen von Wertpapieren) bleibt ein Abweichen vom Ideal (Vorhersagbarkeit
einzelner Veränderungen), dessen ordnungsgebende Kraft nun jedoch mit anderen
Mitteln sichergestellt werden muss (Postulierung der Spannbreite möglicher
Veränderungen).
Krise vs. Krisen: Die Auswirkungen
eines undifferenzierten Krisendiskurses
Form der Rede von der „Krise der
Wissenschaft“ scheitert an ihrer Form; ihre Form scheitert an der Formlosigkeit
wissenschaftlicher Heuristiken des Umgangs mit wissenschaftlichen Krisen. Mit
anderen Worten: Die Rede von wissenschaftlichen Krisen, Krisen der Wissenschaft,
ist nur im Plural möglich und verliert durch diesen Plural ihre Konturen. Sie
oszilliert zwischen Formen des Strandens und des Scheiterns, Krisen des
wissenschaftlichen agens und patiens. Sie oszilliert zwischen verschiedenen
Reaktionen auf diese Krisen: kontradiktorische und nicht-kontradiktorische
Reaktionen.
Diese Ausdifferenzierung
wissenschaftlicher Krisis-Typen und ihrer Heuristiken lässt sich selbst nicht
mehr vereinheitlichen. Genau genommen (und natürlich überspitzt ausgedrückt)
heißt das: Es gab nie eine Krise der Wissenschaft, weil es nur Krisen von Wissenschaften
gegeben hat. Es gab dementsprechend genauso wenig eine Reaktion auf die Krise
der Wissenschaft, weil es nur Reaktionen auf (verschiedene) Krisen von (verschiedenen)
Wissenschaften gab.
Ist diese Feststellung, auf die es mir
hier ankommt, banal? Ich hoffe, sie ist es. Mir scheint, der Unterschied
zwischen Singular und Plural ist in diesem Fall mehr als ein sprachlicher. Die
Form der Frage - und damit die Möglichkeit einer Zukunft -, die eine singuläre
Krisendiagnose provoziert, wirkt apokalyptischer als die Form(en) der Frag(en),
die das Bewusstsein der Pluralität von Krisenerscheinungen provoziert/ provozieren.
Letzteres entspannt den Blick. Es lässt das Problem des wissenschaftlichen Neubeginns,
der Rehabilitierung eines Forschungsparadigmas, der methodischen Rekonfiguration
unproblematischer erscheinen, weil es um die Mannigfaltigkeit an Neuanfängen,
Paradigmen und Konfigurationen weiß. Es wiegt sich in einer (geschichtlich,
nicht logisch verbürgten) Gewissheit. Diese Gewissheit kann ohne Frage
trügerisch sein. Ich denke jedoch nicht, dass diese Gefahr vermeidbar ist: Wäre
sie vermeidbar, wäre die Krisendiagnose grundlos, wäre die Krise keine Krise.
An diesem Punkt angekommen, scheint die
singuläre Rede der „Krise der Wissenschaft“ selbst in eine Krise zu geraten,
was nicht weiter schlimm wäre. Schlimmer dagegen wäre es, die Differenzierung
verschiedener Krisis-Typen zu übersehen oder vereinheitlichen zu wollen. Dies
wäre in meinen Augen schlimmer, da es den Spuren einer Gewissheit, wie ich sie
gerade versucht habe in ihren Konturen anzudeuten, den Grund nimmt, auf dem sie
sich einprägen. Mehr noch: Das krude Gegenüber von selbstbewussten, funktionierenden
und unerschütterten Forschungsprogrammen einerseits und ihren bemitleidenswerten
Verfallsformen andererseits lässt, wie so viele andere Dualismen, die eine
Seite dieses Gegenübers als den zu bevorzugenden Prototyp erscheinen. Je
stärker die Grenze zwischen den getrennten Seiten dieses Gegenübers gezogen
wird, desto stärker erscheinen beide Seiten als ein Gegenüber.
Wenn mein Versuch, in diesem Essay durch den Vergleich
finanztheoretischer, chaostheoretischer und philosophischer Krisendiagnosen und
-heuristiken einem Zweck dienlich sein sollte, dann den Blick auf die
allgegenwärtige Diskussion über die „Krise der Wissenschaft“, Krisen der Wissenschaften,
zu verschieben. Genauso wenig, wie wir es mit einer Form von
Wissenschaft zu tun haben, so wenig haben wir es mit einer Form der
Reaktion auf Krisen von Wissenschaften zu tun. Das krude Gegenüberstellen von
prosperierender Wissenschaft einerseits, Krise und Reaktion auf diese Krise
andererseits verstellt den Blick auf die Mannigfaltigkeit dessen, was
„prosperierend“, „Krise“ und „Reaktion“ bedeuten kann. Der Vergleich all der
unterschiedlichen Bedeutungen, die diese Begriffe verkörpern können, so wie ich
es in diesem Essay ansatzweise angedeutet habe, weicht die Grenzen zwischen
diesem kruden Gegenüber auf und macht den Blick frei für das Spektrum der
Differenzierungen, die es verstellt.
Dieser freie Blick sollte einen Aspekt
unbefangener erkennen können: Was hier als Krise erscheint, ist dort die
Lösung; was sich hier als Gefahr zeigt, bedingt dort die Möglichkeit einer
wissenschaftlichen Zukunft. Kurz: Krisen bilden nicht den Gegensatz funktionierender
Wissenschaften, sondern ihren Rückhalt, ihre Ressource. Wenn auch einer anderen
Wissenschaft, in aller Ambiguität dieses Wortes (das in manchen Fällen auch
die eigene Wissenschaft meinen kann - als eine andere). Wenn, wie ich zu Beginn
dieses Essays vermutet habe, es keine Zeit - und somit keine Wissenschaft -
gegeben hat, die nicht ihr eigenes Krisenbewusstsein gepflegt hat, so bin ich
am Ende meines Essays an dem Punkt angelangt, die Stelle markieren zu können,
an dem sich dieses Bewusstsein als ein Kippspiegel erweist. Es ist die gleiche
Stelle, die die Rede von wissenschaftlicher Krise im Singular von der Rede von
wissenschaftlichen Krisen im Plural trennt: Die Rede von der „Krise der
Wissenschaft“ im Singular ist es, die in all den wissenschaftlichen Krisen erst
gefährlich wird - und zwar mehr als diese Krisen ihren eigenen Wissenschaften.
Der Grund dafür lässt sich nunmehr in einem Satz zusammenfassen: Die Rede von
einer „Krise der Wissenschaft“ lässt wissenschaftiche Krisen zwarnicht (im Sinne eines vulgären
Konstruktivismus) entstehen, es verstellt jedoch den Blick auf die
Mannigfaltigkeit von Krisenheuristiken - und somit auf die Bandbreite an Wegen,
aus und in Krisen neue Lösungen zu entwickeln.
Literaturverzeichnis
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Wittgenstein, Ludwig 2003; Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/Main, Suhrkamp.
[1] Vgl.
Bontrup 2004, S. 396 f.
[2] Bernstein
1998, S. 326.
[3] Vgl.
Bhide 2010, S. 121 ff.
[4] Stiefl
2011, S. 117.
[5] Vgl.
Davidson 2010, S. 13-31.
[6] Kinnebrock
2002, S. 22.
[7] Vgl.
Ebeling 1991, S. 31 ff.
[8]Vgl. ebd., S. 33.
[9] Vgl.
Kinnebrock 2002, S. 119 ff.
[10]Nietzsche
1968, S. 9.
[11]
Jaspers 1963, S. 23 f.
[12]
Wittgenstein 2003, S. 174.
[13]
Heidegger 2008, S. 31.
[14]
Heidegger 1989, S. 55.
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