Erschienen in Ausgabe: No 91 (09/2013) | Letzte Änderung: 19.08.13 |
von Teresa Tammer
In den frühen Morgenstunden des 19. Oktobers
1956 landete ein Flugzeug mit der Führungsriege der Kommunistischen Partei der
Sowjetunion (KPdSU) auf dem Flughafen in Warschau. Nikita Sergejewitsch Chruschtschow (1894 – 1971), der Kopf der
sowjetischen Delegation, stieg wutentbrannt aus dem Flieger, herrschte die ihn
empfangende polnische kommunistische Führung an und zitierte diese zum
Gespräch.
1.Einleitung
An diesem Morgen sollte das 8. Plenum des
Zentralkomitees der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) eröffnet und
Władysław Gomułka, der erst kurz zuvor wieder in die Partei aufgenommen worden
war, zu ihrem Ersten Sekretär gewählt werden. Doch Chruschtschow drängte auf eine sofortige Unterredung. Zu diesem
Zeitpunkt befanden sich die in Polen stationierten sowjetischen Truppen bereits
auf ihrem Vormarsch in Richtung Warschau.
Noch am Abend des 19.
Oktobers flogen Chruschtschow und seine Leute wieder zurück nach Moskau.
Beinahe so, als sei nichts geschehen, wurde das 8. Plenum des ZK der PVAP am
nächsten Tag fortgesetzt, der angekündigte Militärschlag blieb aus und Gomułka
übernahm für die nächsten vierzehn Jahre die Führung der PVAP.
Was
war geschehen? Was war der Anlass für das plötzliche Eintreffen der
sowjetischen Delegation? Wie verliefen die Gespräche zwischen polnischer und
sowjetischer Führung am 19. Oktober 1956? Warum ließ es Moskau dieses Mal bei
bloßen Drohgebärden bleiben? Und welche Rolle spielte Gomułka vor, während und
nach den Verhandlungen?
Der zentrale Begriff
dieser Arbeit lautet „Entstalinisierung“. Er bezeichnet den von den Nachfolgern
Stalins ab 1953 eingeleiteten und ab 1956 vor allem von Nikita Chruschtschow
voran getriebenen Reformprozess, der eine Abkehr von den stalinistischen
Herrschaftspraktiken zum Ziel hatte. Auf dem 20. Parteitag der KPdSU hielt
Chruschtschow seine berühmte Geheimrede
über den „Personenkult“, in der er sich unmissverständlich von Stalin
distanzierte und dessen Terrorherrschaft verurteilte. Diese Rede beschleunigte
den Entstalinisierungsprozess, der nun auch von den Bevölkerungen der
Sowjetunion und der sowjetischen Satellitenstaaten gefordert wurde. Der
Spielraum, innerhalb dessen Kritik an den Staatsführungen Ostmitteleuropas
sowie an der Führung der Sowjetunion geübt werden konnte, hatte sich
vergrößert. Allerdings entwickelten sich daraus, insbesondere in Polen und
Ungarn, krisenhafte Dynamiken, die die Herrschaft der Kommunisten gefährdeten.
So kam es, nach Engelmann, Großbölting und Wentker, infolge der „von oben“
initiierten und gelenkten Entstalinisierung zu einer Entstalinisierungskrise in
Ostmitteleuropa.[1]
Diese Ambivalenz
zwischen den neuen Freiräumen und den daraus resultierenden Konflikten ist
Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Es soll gezeigt werden, wie die polnische
kommunistische Führung den durch die Entstalinisierung auch für sie
vergrößerten Spielraum gegenüber der sowjetischen Führung nutzte, um ihre Macht
in Polen zu behaupten. Der Besuch Chruschtschows in Warschau als Reaktion auf
das Vorgehen der polnischen Kommunisten macht schließlich deutlich, dass die
sowjetische Führung einerseits an alten Herrschaftsmethoden festhielt;
andererseits tatsächlich versuchte, die zwischenstaatlichen Beziehungen auf
eine neue Basis zu stellen.
Damit verständlich wird,
welche Auswirkungen Stalins Tod und die von Chruschtschow im Februar 1956 auf dem 20. Parteitag des ZK der
KPdSU vorgetragene Geheimrede auf die
politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Polen hatten, wird im
folgenden Abschnitt zunächst erläutert, was Stalinismus in Polen bedeutete und
welche Spuren dieser hinterlassen hatte. Dann werden die wichtigsten Ereignisse
und Etappen der Entstalinisierung in Polen bis zum Oktober 1956 dargestellt.
Daran anschließend folgt der Hauptteil dieser Arbeit, die Untersuchung der
Hintergründe und des Ablaufs der Gespräche vom 19. Oktober 1956. Es wird danach
gefragt, wie sich das polnisch-sowjetische Verhältnis im Laufe des Jahres 1956
bis zum besagten 19. Oktober entwickelte und welche Rolle Gomułka in dem sich
zuspitzenden Konflikt einnahm. Welche Strategie der Herrschaftssicherung
verfolgten die polnischen Kommunisten? Was waren die Gründe für das Eintreffen
der sowjetischen Delegation und Chruschtschows ungehaltenen Auftritt am
Warschauer Flughafen? Welche Bedeutung hatte die persönliche Begegnung zwischen
den polnischen und den sowjetischen Kommunisten? Zu welchem Zeitpunkt sah die
sowjetische Führung von einem militärischen Eingreifen in Polen ab? Für welches
polnisch-sowjetische Verhältnis trat Gomułka nach dem 19. Oktober öffentlich
ein? Abschließend wird auf die Frage eingegangen, inwieweit das Treffen in
Warschau als der Teil der Entstalinisierung in Polen und in der Sowjetunion
verstanden werden kann.
2.Stalinismus
in Polen
Das polnisch-sowjetische
Verhältnis stand Mitte der 1950er Jahre im Zeichen der Gewalt und der
Unterdrückung, die die polnische Bevölkerung während des Krieges und unter der
sowjetischen Besatzung nach dem Krieg erfahren mussten. Das kommunistische
System wurde nie von einer Mehrheit der Bevölkerung getragen und immer als
sowjetische Fremdherrschaft erachtet. So konnten die Kommunisten nur mit Hilfe
von Gewalt und Propaganda die Herrschaft in Polen übernehmen und halten. Sie
standen damit seit Ende des Zweiten Weltkriegs zwischen den Stühlen: Einerseits
versuchte die kommunistische Führung, die Bevölkerung für sich einzunehmen;
andererseits war sie ideologisch am Sowjetsozialismus ausgerichtet und wusste
um ihre Abhängigkeit von Stalin.
Kurz nach dem
Einmarsch der Roten Armee am 17. September 1939, zwei Wochen nachdem das
nationalsozialistische Deutschland Polen überfallen hatte, wurden polnische
staatliche Institutionen aufgelöst und durch sowjetische ersetzt sowie die
Kollektivierung der Landwirtschaft und die Verstaatlichung des privaten
Eigentums in Industrie, Wirtschaft und Handwerk eingeleitet. Hunderte Polen
wurden zum Tode verurteilt und tausende nach Sibirien in Arbeitslager
deportiert.[2]
Nach dem Überfall der Deutschen auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 war auch
Ostpolen von den Nationalsozialisten besetzt.
Am 23. November 1943 wurde Władysław Gomułka Generalsekretär der Polnischen
Arbeiterpartei. Im gleichen Monat
veröffentlichte er im Parteiorgan Trybuna
wolności einen Artikel, in dem er „antisowjetische“ Einstellungen
verurteilte. Die Zukunft Polens, so Gomułka,
hinge vom Sieg der Roten Armee gegen das nationalsozialistische
Deutschland ab, deswegen müsse die polnische Bevölkerung jene als Befreier
empfangen. Gleichzeitig verkündete er seine Vision eines freien, demokratischen
und selbstbestimmten Polens, in dem die Masse der Arbeiter und Bauern ein
entscheidendes Mitspracherecht haben würde.[3]
Mit dem
Vorrücken der Roten Armee nach Westen ab Januar 1944 und dem Zurückdrängen der
Deutschen gelangte Polen wieder in den sowjetischen Einflussbereich. Die zweite
sowjetische Besatzung begann. Gomułka wusste, dass die Polen die Einführung des
Sowjetsozialismus nicht widerstandslos hinnehmen und die kommunistische Partei
als Marionette Moskaus wahrnehmen würden. Vor dem ZK der Polnischen
Arbeiterpartei erklärte er 1945, dass die Kommunisten nur dann eine Chance in
Polen hätten, wenn sie sich von dem Marionetten-Image befreien und von der
Bevölkerung als Vertreter polnischer Belange angesehen würden:
“The masses should see us as a
Polish party. Let them attack us as Polish communists, not [as Soviet or
Russian] agents.”[4]
Durch freie Wahlen, so William
Taubman, wären sie aber auch als „polnische Kommunisten“ nie an die Macht
gekommen.[5]
Mit seinen
Positionen eckte Gomułka innerhalb der Partei jedoch an. Weil er sich kritisch
bezüglich der Verurteilung Titos geäußert hatte, wurde er im Herbst 1948 vom
Posten des Generalsekretärs der Polnischen Arbeiterpartei abgesetzt.[6]
Er zweifelte zudem an der Nützlichkeit der Kollektivierungsmaßnahmen und war
beunruhigt über die Zwangsvereinigung der Polnischen Arbeiterpartei mit der
Polnischen Sozialistischen Partei zur Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) im
Dezember 1948. Gomułka wurde durch den treuen Stalinisten Bolesław Bierut
ersetzt und 1951 sogar unter Hausarrest gestellt.
Aufgrund der
steigenden Spannungen zwischen der Sowjetunion und dem Westen entschied sich
Stalin 1947 dazu, die direkte Kontrolle über die polnische Armee zu übernehmen,
die bis zu jenem Zeitpunkt dem Befehl der polnischen Führung unterstanden
hatte. Außerdem ordnete er im November 1949 an, dem sowjetischen Marschall
Konstanty Rokossowski, der polnischer Herkunft war, das Amt des polnischen
Verteidigungsministers zu übertragen.[7]
Wenig später wurde dieser Politbüro-Mitglied und 1952 sogar stellvertretender
Premierminister. Gleichzeitig begann Stalin „Säuberungen“ innerhalb der
polnischen Armee durchzuführen, im Zuge derer bis 1954 mehr als 9.000 polnische
Offiziere entlassen und zum Teil durch sowjetische Generäle und Offiziere, den
sogenannten „Beratern“, ersetzt wurden. 1954 waren es ca. 700 in der polnischen
Armee.[8]
Ein weiterer
Punkt, der das polnisch-sowjetische Verhältnis belastete, waren die jährlich
aus Polen in die Sowjetunion gelieferten Millionen Tonnen Kohle. Für die
polnische Wirtschaft stellten diese Zwangslieferungen eine enorme Belastung
dar, zumal der Preis, der von der Sowjetunion für die Kohle bezahlt wurde,
nicht einmal die Transportkosten deckte.
Hinzu kam die
alltägliche Bedrohung durch Verfolgung und Verhaftungen. Wie viele Menschen
insgesamt wegen politischer „Verbrechen“ zwischen 1944 und 1956 verurteilt
wurden, ist nicht bekannt. Sicher ist, dass in dieser Zeit ca. 8.000
Todesurteile vollstreckt wurden, von denen mindestens die Hälfte aus einer
politischen Verurteilung resultierte. Zudem wurden 200.000 Menschen zur
Zwangsarbeit rekrutiert, von denen ebenfalls hunderte ums Leben kamen.[9]
3.Entstalinisierung
in Polen 1953 - 1956
Mit dem Tod Stalins am 5. März 1953 ging die
Herrschaft des Terrors in der Sowjetunion und in den Ländern der sowjetischen
Einflusssphäre, den sogenannten „Bruderstaaten“[10],
zu Ende. Die Initiative zur „Entstalinisierung“ ging vom Zentrum der Macht
selbst aus. Jörg Baberowski betont, dass es den ehemaligen engsten Vertrauten
Stalins zunächst darum ging, den Terror im inneren Kreis der Macht zu beenden:
„Die Despotie sollte aus
dem Leben verschwinden, Furcht und Schrecken nicht länger Richtmaß des
Regierens sein, denn die Gefährten selbst hatten erfahren, was es hieß, mit der
Angst zu leben. Sie einigten sich darauf, die Macht untereinander aufzuteilen
und das Spiel mit dem Tod zu beenden.“[11]
Dies war bereits ein deutliches Signal der
Entspannung auch an die Führungen der „Bruderstaaten“. Stefan Merl hebt dagegen
hervor, dass das Ziel der Entstalinisierung die Umsetzung eines umfangreichen
Reformprogramms gewesen sei, das die KPdSU auf eine neue Legitimationsgrundlage
stellen würde. Denn neben dem Bewusstsein für die begangenen Verbrechen und dem
Wunsch, diese aufzuklären, waren wirtschaftliche Notwendigkeiten die
Triebkräfte für politische und gesellschaftliche Veränderungen. Zudem, so Merl,
sei die Entstalinisierung Teil des Machtkampfesinnerhalb der kommunistischen
Führung gewesen.[12]
So präsentierte sich der ehemalige Geheimdienstchef Lawrenti Beria (1899-1953)
als großen Reformer. Er bemühte sich um die Umstrukturierung des Lagersystems
und die Entlassung von Häftlingen. Außerdem erklärte er, dass die
Entstalinisierung nicht nur innerhalb der Sowjetunion durchgeführt werden
könne, sondern die Reformen auch die osteuropäischen „Bruderstaaten“ erfassen
müssten. Sogar auf die DDR wollte er verzichten, da die Sowjetunion, seiner
Ansicht nach, ihre Macht dort niemals festigen könne. Am 26. Juni 1953 wurde er
auf einer Sitzung des Zentralkomitees der KPdSU unter Vorsitz von Nikita
Chruschtschow verhaftet und später erschossen.[13]
Wenngleich es vor allem Berias Macht und Einfluss waren, die ihm das Leben
kosteten, war seine Verhaftung doch ein eindeutiges Zeichen dafür, dass an dem
Zusammenhalt des Imperiums auch unter den Vorzeichen der Entstalinisierung
nicht gerüttelt werden würde.
Auf
das öffentliche Leben in Polen hatte der Tod Stalins zunächst keinen Einfluss.[14]
Die Herrschaft Bolesław Bieruts, des Ersten Sekretärs des ZK der PVAP, blieb
unangetastet, die Überwachung der Bevölkerung und die Zensur in der Presse
blieben bestehen, Todesurteile aufgrund gefälschter Beweise wurden weiterhin
vollstreckt und hunderte sowjetischer „Berater“ behielten ihre Posten in
staatlichen Institutionen, wie beispielsweise dem Sicherheitsministerium.
Ab November
1954, so Alexandr Orechow, breitete sich innerhalb der PVAP eine Krisenstimmung
aus. Denn zum ersten Mal wurde die Parteiführung auch aus den eigenen Reihen
kritisiert. Es dauerte jedoch noch mehr als ein Jahr bis die Bevölkerung ihre
Unzufriedenheit äußerte.[15] Die
politischen Verfolgungen nahmen ab und die Menschen verloren die Angst, ihren
Forderungen nach Meinungsfreiheit und Unabhängigkeit von der Sowjetunion auch
öffentlich Gehör zu verschaffen. Es entstanden gesellschaftliche Organisationen
und Diskussionszirkel. Zeitschriften, wie Nowa kultura, Przegład
kulturalny und Po prostu nutzten den neuen Spielraum, um kritische
Artikel zu Geschichts- und Wirtschaftsthemen sowie ideologischen Fragen zu
veröffentlichen.[16]
Warum
ließ die kommunistische Führung Polens diese Freiheiten zu? Paweł Machcewicz geht
davon aus, dass die Zugeständnisse der Führung nicht nur eine Reaktion auf den
Druck „von unten“, sondern auch eine „Flucht nach vorn“ gewesen sind, mit dem
Ziel, die gesellschaftlichen Spannungen zu entschärfen.[17]
Dazu gehörte auch die Aufhebung des Hausarrests von Gomułka am 13. Dezember
1954, wenngleich die Öffentlichkeit davon nicht in Kenntnis gesetzt wurde und
es ihm vorerst verboten war, sich politisch zu betätigen.[18]
Die
sowjetische Regierung beobachtete sehr genau, was in Polen vor sich ging. Im „Politisch-ökonomischen Überblick für das
erste Quartal 1954“der sowjetischen Botschaft in Warschau wird
bereits von der „Notwendigkeit einer Verstärkung der ideologischen Erziehung“
gesprochen. Der Bericht behauptet zudem, die polnische Bevölkerung würde von
„feindlichen Elementen innerhalb des Landes“ sowie „ausländischen
propagandistischen Zentren“ beeinflusst werden. Die Verfasser des Berichts
mahnen deshalb die polnischen „Genossen“ an, gegen die „reaktionären Einflüsse“
vorzugehen.[19]
Die sowjetischen Organe waren demzufolge bereits zu diesem Zeitpunkt über die
Lage in Polen informiert und vermutlich auch beunruhigt.
Hatte die PVAP die
Richtung des gesellschaftlichen Wandels bis Ende 1955 noch unter Kontrolle[20],
so wirkte der 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 und die auf ihm verlesene
Rede Chruschtschows „Über den Personenkult und seine Folgen“[21]
wie ein Katalysator des sich in der Gesellschaft formierenden Widerstands gegen
die kommunistische Herrschaft.[22]Die sogenannte Geheimrede
war eine Abrechnung mit der Terrorherrschaft des Diktators. Chruschtschow
sprach über die Verfolgungen von Parteigenossen sowie ganzer Völker der
Sowjetunion und bezeichnete diese als Verbrechen.
Nach Baberowski sei es die Entschlossenheit und der Mut Chruschtschows gewesen,
nicht den „Mantel des Schweigens“ über die Vergangenheit zu legen, sondern
stattdessen „die Verbrechen des Diktators beim Namen zu nennen“.[23]
Die Führer der
„Bruderparteien“ konnten in der Geheimrede
lesen, dass die Massenrepressionen in Osteuropa, besonders in den Staats- und
Parteiapparaten, verurteilt und das Vorgehen der Sicherheitsdienste außerhalb
der Sowjetunion kritisiert wurden.[24]
Chruschtschow bezeichnete jedoch lediglich die Mittel, mit denen Stalin
regierte, als „barbarisch“, an dem Anspruch der Partei auf uneingeschränkte
Herrschaft hielt er weiterhin fest.[25] Bolesław
Bierut war aus Anlass des 20. Parteitages der KPdSU angereist. Er erkrankte
jedoch und starb am 12. März 1956 in Moskau.[26]
Seine Nachfolge trat Edward Ochab (1906 - 1989) an.
Die PVAP erhielt nach
wenigen Tagen den Text der Geheimrede.
Bald darauf erschien sie sogar in polnischer
Übersetzung und war für jeden zugänglich. Damit war Polen das einzige
Land im Ostblock, in dem die kommunistische Führung die Verbreitung der Geheimrede zuließ. Die polnische Führung
habe damit den Bruch mit der Vergangenheit demonstrieren und das Vertrauen der
Bevölkerung gewinnen wollen, so Paweł Machcewicz.
Der Plan ging
jedoch nicht auf. Die PVAP verlor an Zuspruch und ihre Existenz als von Moskau
kontrollierte „Marionettenregierung“ an Legitimität.[27]
Hinzu trat der innerparteiliche Konflikt zwischen den Konservativen
(Natolinska-Gruppe) und den Reformorientierten (Puławska-Gruppe), der die PVAP
im Spannungsfeld zwischen den Forderungen aus der Bevölkerung und dem
Bestreben, die eigene Macht zu erhalten, handlungsunfähig machte.[28]
Einen ersten Höhepunkt
erreichten die gesellschaftlichen Unruhen am 28. Juni 1956 als sich in Poznań
ein friedlicher Streik der Arbeiter aus den „Stalin-Werken“ in einen Aufstand
verwandelte. Zu Anfang forderten die Arbeiter höhere Löhne und kürzere
Arbeitszeiten. Im Verlauf des Protestes verwandelten sich diese Forderungen
jedoch in „antikommunistische“ und „antisowjetische“ Losungen. Die Menschen, so
Machcewicz, warfen den „Russen“ vor, Polen wirtschaftlich auszubeuten.
Hier kam
Gomułka ins Spiel. Das 7. Plenum des ZK der PVAP im Juli 1956 beschloss seine
Rehabilitierung und Wiederaufnahme in die Partei. Beide Strömungen innerhalb
der Partei wollten Gomułka für ihre Sache gewinnen, weil sie glaubten, er könne
die Proteste im Land zu einem Ende bringen und das Ansehen der Partei in der
Bevölkerung verbessern.[29]
Gomułka galt als nationale Autorität und wurde von den Menschen für seinen
vermeintlichen Widerstand gegen Stalin sowie als ein „Opfer“ des Stalinismus
verehrt.[30]
4.Der Oktober
1956 in Polen
4.1Zuspitzung des polnisch-sowjetischen
Konflikts bis Anfang Oktober 1956
Die sowjetische Botschaft in
Warschau war der Überzeugung, die polnische Regierung würde nicht mit den
notwendigen Mitteln gegen die „antisowjetischen“ Tendenzen in Polen vorgehen.
Der sowjetische Botschafter Panteleimon
Ponomarenko berichtete im August 1956 an das Außenministerium der UdSSR:
„Die
Parteiorganisationen der PVAP setzen ihr liberales Verhalten gegenüber diversen
Ausfällen feindlicher Elemente fort und ergreifen nicht die erforderlichen
Maßnahmen zur Sicherung der notwendigen Führung bei der ideologischen Arbeit
durch die Partei.“[31]
Dies musste in Moskau unweigerlich Misstrauen erregen
und die Frage aufwerfen, ob die polnischen Kommunisten der sowjetischen Führung
noch loyal gegenüberstanden.
Die „antisowjetischen“
Äußerungen in der polnischen Presse waren auch Thema während der Gespräche
zwischen Ochab und der sowjetischen Führung am 11. September 1956 in Moskau.
Ochab war auf dem Weg nach China und machte Zwischenstopp in Moskau. Er habe
die chinesische Führung um Beistand im Falle einer sowjetischen Intervention
bitten wollen, sagte Ochab viele Jahre später in einem Interview mit Teresa
Torańska.[32] In Moskau klärte er die Führung der
KPdSU darüber auf, dass in Polen das Verständnis für die sowjetischen „Berater“
in der Armee und im Sicherheitsapparat sowie für die billigen Kohlelieferungen
in die UdSSR schwinde.[33] Damit äußerte Ochab Verständnis für
die gegen die Sowjetunion gerichteten Losungen in Polen. Der damit verursachten
Provokation gegenüber der sowjetischen Führung schien er sich bewusst gewesen
zu sein. Auch deshalb versuchte er die Unterstützung der chinesischen Regierung
zu erwirken.
Das Politbüro des ZK der
PVAP behauptete sogar,
dass das Ungleichgewicht
in den polnisch-sowjetischen Beziehungen und die Einflussnahme der Sowjetunion
auf die Politik Polens die „antisowjetischen“ Stimmungen im Land verursachen
würden. Im Protokoll der Sitzungen zwischen dem 8. und 10. Oktober 1956 heißt
es:
„Auf die Verbreitung
antisowjetischer Stimmungen haben neben antisowjetischer Propaganda auch das
unangemessene Machtverhältnis in den Beziehungen zwischen der Volksrepublik
Polen und der UdSSR einen Einfluss […].“[34]
Die sowjetische Führung sei demnach mitverantwortlich
für die Unzufriedenheit in der polnischen Bevölkerung. Warum wollte das
polnische Politbüro Moskau die Schuld für die Unruhen in Polen geben? Die
kommunistische Partei Polens steckte 1956 in dem alten Dilemma: Die polnische
Bevölkerung lehnte die sowjetische Bevormundung mehrheitlich ab. Demonstrierte
die PVAP ihre Treue gegenüber Moskau, würde sie von den Menschen mit dem
„Unterdrücker“ identifiziert und abgelehnt werden. Die Herrschaft der
Kommunisten war jedoch von der Zustimmung des Kremls abhängig. Wollte sie ihre
Macht erhalten, musste die PVAP-Führung zwischen den Forderungen der polnischen
Bevölkerung und den Herrschaftsansprüchen der Sowjetunion vermitteln. Die Rolle
des Vermittlers sollte Gomułka spielen.
Mit Gomułka
hoffte die PVAP auf eine Verbesserung ihres Ansehens in der Bevölkerung. So
beschloss das Politbüro des ZK der PVAP am 17. Oktober 1956 Gomułka auf dem 8.
Plenum des ZK, das am 19. Oktober eröffnet werden sollte, für den Posten des
Ersten Sekretärs zu empfehlen. Außerdem sollten pro-sowjetische Mitglieder des
Politbüros, u.a. der sowjetische Marschall Rokossowski, abgesetzt werden.[35]
In der
gleichen Zeit veröffentlichte die Zeitschrift Nowa kultura einen Artikel, der die Frage stellte, ob die Losung
„Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ nicht überholt sei. Daraufhin
schickte die sowjetische Botschaft weitere panische Nachrichten an die Führung
in Moskau.[36]
Machcewicz
behauptet, Chruschtschow habe
mit seinem Besuch in Warschau die Wahl Gomułkas zum Ersten Sekretär verhindern
wollen.[37]
Doch die sowjetische Botschaft, stellt Alexandr Orechow fest, habe gewusst,
dass mit der Rückkehr Gomułkas früher oder später gerechnet werden musste. [38] Die sowjetische
Führung sei sogar sehr an ihm interessiert gewesen. Laut Orlow, habe der Kreml im Laufe des Jahres 1956
bereits nach einer charismatischen Figur Ausschau gehalten, der an der Spitze
der Staats- und Parteiführung in Polen, das Vertrauen der Bevölkerung genießen
und somit das Land im Verbund der sozialistischen Staaten halten würde.[39]
Bestätigt
wird diese These von den Aussagen Edward Ochabs im Interview mit der polnischen
Journalistin Teresa Torańska. In den zwischen Mai und Oktober 1983 geführten
Gesprächen erinnert sich Ochab daran, dass die sowjetische Führung nicht nur
Mitte des Jahres 1956 mit Gomułka Kontakt aufgenommen, sondern ihn als Ersten Sekretär
sogar lanciert habe. „Sie glaubten offenbar, Gomułka würde in Polen Ordnung
schaffen, daher müsse man auf ihn setzen“[40],
so Ochab im Gespräch mit Torańska.
Trotzdem
alarmierten der Alleingang der polnischen Kommunisten und deren Strategie, den
„antisowjetischen“ Schein Gomułkas für sich zu nutzen, die sowjetische Führung.
Chruschtschow
erinnert sich:
“[…]We
learned that the question of relieving Ochab of his duties and replacing him
with Gomułka was being discussed at the PUWP CC plenum. There were also heated
debates on other questions. This concerned us, especially the removal of Ochab,
although we didn´t object to Gomułka at all. The problem was that we regarded
any such decision by the PUWP CC as an action directed against us.”[41]
Die sowjetische Führung war durch
die Veränderungen in der polnischen Führung so stark beunruhigt, dass sie dazu
überging Vorbereitungen für eine militärische Intervention zu treffen. Chruschtschow stand
besonders unter Druck, denn auch er hatte seine Macht innerhalb der
sowjetischen Führung noch nicht gefestigt und seine Kollegen machten ihn für
die Situation in Polen verantwortlich, so William Taubman.[42] Er
forderte die Verschiebung des 8. Plenums, das am 19. Oktober eröffnet werden
sollte und den Verzicht auf die geplanten Änderungen im polnischen Politbüro.[43]
Der Besuch der
sowjetischen Delegation und die Anschuldigungen waren keine Überraschung. Denn
das polnische Politbüro wusste um die Wirkung seines Auftretens gegenüber
Moskau und schien nicht damit zu rechnen, verhaftet und erschossen zu werden.
Denn dieses Risiko wäre die polnische Führung nicht eingegangen. Ihr
Handlungsspielraum hatte sich demnach erweitert, doch wo genau dessen Grenzen
lagen, war für keine der beiden Seiten klar. So stellte das aufeinander
bezogene Agieren und Reagieren der polnischen und sowjetischen Führung auch ein
Aushandeln dieses neuen Spielraumes dar.
4.2Der Besuch
Chruschtschowsam 19. Oktober
1956 in Warschau
Am 18. Oktober wurde Ochab und
das Politbüro vom sowjetischen Botschafter Ponomarenko über das Eintreffen Chruschtschows und seiner Delegation
am nächsten Tag, d.h. am Freitag, informiert. Ochab erklärte dem Politbüro, die
Führung der KPdSU wolle aufgrund „antisowjetischer“ Stimmungen in Polen über „die aktuelle
Situation
in der Partei und
im Land“
sprechen.[44]
Die Mitglieder
des Politbüros, mit Ausnahme Rokossowskis, sprachen sich „für den Empfang der
sowjetischen Delegation am Samstag oder Sonntag”, d.h. nach Eröffnung des 8.
Plenums, aus. Warum das Treffen verschoben werden sollte, wird nicht erwähnt.
Am Ende des Sitzungsprotokolls ist zu lesen, dass vier „Genossen“ mit Chruschtschow an der Spitze am Morgen des 19.
Oktobers am Flughafen in Warschau eintreffen und die „Genossen“ Ochab,
Cyrankiewicz, Gomułka und Zawadzki diese begrüßen werden.[45]
Warum
diskutierte das Politbüro zunächst über die Verschiebung des Treffens, wenn es
ohnehin mit dem Eintreffen der sowjetischen Delegation am nächsten Tag
rechnete? Die Absicht der Politbüromitglieder, einen Affront zu verursachen,
könnte die Erklärung sein. Die Zurückweisung sollte Chruschtschow provozieren und zu scharfer Kritik gegenüber der
polnischen Führung veranlassen. Diese wäre damit in der Defensive, in der sie
sich der Unterstützung der Bevölkerung sicher sein konnten. Die Provokation
gehörte zu der seit Monaten verfolgten Strategie der polnischen Führung, die
Spitze der KPdSU in die Rolle des Unterdrückers zu drängen, um so als
Verfechter nationaler Belange in Polen auftreten zu können.
Begrüßung am Flughafen und Beginn der Gespräche
Um 7 Uhr am Morgen des 19. Oktobers
traf die sowjetische Delegation auf dem Flughafen in Warschau ein. Chruschtschow war bei seiner Ankunft – wie die
polnische Delegation es erwarten musste – in einer sichtlich schlechten
Stimmung. In der Stellungnahme Gomułkas im Protokoll der Politbürositzungen
vom 19. bis 21. Oktober 1956 heißt es:
„Ich verstehe nicht,
wie man in so einem Ton, mit solchen Beschimpfungen Leuten gegenübertreten
kann, die einem wohlgesonnen sind. Chruschtschow hat allen voran Genossen Rokossowski und die Generalität begrüßt – das
sind die Menschen, auf die ich [Chruschtschow] mich verlassen kann. Sich an uns richtend, sagte er: ‚Priedatielskaja
diejatelnost tow. Ochaba obnruzilas, etot nomier Wam nie projdiot’ [‚Genosse
Ochab hat seine verräterische Tätigkeit gezeigt. Diese Nummer wird nicht
durchgehen‘]. […] Wir schlugen vor, mit ihnen in den Belvedere-Palast zu gehen,
um dort in Ruhe zu sprechen. Sie sagten uns, dass zuerst das Plenum verschoben
werden müsse. Damit waren wir nicht einverstanden.“[46]
Neben dem energischen Auftreten Chruschtschows belegt das Zitat, dass
auch die sowjetische Delegation verstanden hatte, welche Strategie die
polnische Führung verfolgte. Deshalb sprach Chruschtschow von einer „Nummer“, d.h. einem Spiel, das die Polen
spielten. Chruschtschow erinnert
sich an die Begegnung auf dem Flughafen wie folgt:
“When we landed the welcome was unusually cold. We arrived in a very
disturbed state of mind, and I barely said hello at the airport before I
expressed my dissatisfaction with what was going on: `Why is everything going
on under an anti-Soviet banner?’”[47]
Chruschtschow bestätigt Gomułkas Wahrnehmung einer ungewöhnlich
„kalten“ Begrüßung. Die „Unzufriedenheit“ Chruschtschows sei dem Umstand geschuldet gewesen, dass das
Vorgehen der polnischen Kommunisten unter einem „antisowjetischen Banner“
gestanden habe. Es muss jedoch bedacht werden, dass es sich hierbei um die
Rückschau der Ereignisse in den Erinnerungen Chruschtschows handelt. Gleichwohl zieht Ochab ähnliche Schlüsse.
Im Interview mit Teresa Torańska gibt er zu, die sowjetische Führung
absichtlich herausgefordert zu haben, um die eigene Position stärken zu können.
Dieses „Spiel“ war schwierig „und es hing an einem seidenen Faden.
Chruschtschow hatte es durchschaut, aus diesem Grund hat er auch am Flughafen
so getobt“, erklärt Ochab.[48]
Die Bitte der
PVAP-Führung am Tag zuvor, das Treffen erst nach dem 8. Plenum abzuhalten war
zwar nicht der Grund für den Besuch, jedoch der Tropfen, der das Fass zum
Überlaufen brachte. Chruschtschow erinnert
sich:
„Ochab´s refusal aroused even greater suspicions in us
[…].” [49]
Auch die Notizen Gomułkas zum Treffen mit der
sowjetischen Delegation am 19. Oktober geben dies
wieder:
„Our
[Polish] tone in rejecting a reception for the Soviet delegation. Sounded
a great alarm for them.”[50]
Nach der Begrüßung am Flughafen
eröffnete Ochab das 8. Plenum des ZK der PVAP, schlug die Wahl Gomułkas auf den Posten des
Ersten Sekretärs und die Beschränkung der Mitglieder des Politbüros auf neun
Personen vor, was u.a. den Ausschluss Rokossowskis bedeutete.[51] „Die sowjetische
Delegation gab dafür, ob sie wollte oder nicht, ihre Einwilligung“, berichtete Gomułka später den Kommunisten
Chinas.[52]Sodann
wurde um eine Unterbrechung der Sitzung gebeten, bis die Gespräche mit der
sowjetischen Delegation im Belvedere-Palast abgeschlossen sein würden.[53]
Die Bereitschaft der sowjetischen Delegation, die Eröffnung des 8. Plenums
abzuwarten, zeigt, dass sie tatsächlich an einem Dialog mit der polnischen
Führung interessiert war und die personellen Veränderungen an der Spitze der
Staats- und Parteiführung in Polen duldete.
Jedoch
bewegten sich zu dieser Zeit bereits bewaffnete Regimenter der
sowjetischen Armee auf Warschau zu. Auch Rokossowski wurde von Chruschtschow angewiesen,
mit seinen Soldaten strategische Punkte in Warschau einzunehmen.[54]Die Gesprächsbereitschaft auf der einen und die militärische
Bedrohung auf der anderen Seite ergeben ein widersprüchliches Bild. Was wollte
die sowjetische Führung in Warschau erreichen?
Das Politbüromitglied, Aleksander Zawadzki, berichtete am
20. Oktober 1956 vor dem ZK über die Gespräche mit dem Präsidium der KPdSU. Die
Gründe für den „überraschenden Besuch“ der „sowjetischen Genossen“ seien, nach
deren Darstellung, die „antisowjetische Propaganda“, die „Lage in Polen“ und
das „nicht ausreichenden Reagieren“ der PVAP-Führung auf diese Situation
gewesen. [55]
Doch diese Vorwürfe waren den polnischen Kommunisten nicht neu.
Chruschtschow drohte damit, militärisch zu intervenieren, um
die Interessen der UdSSR zu verteidigen.[56] Was sie
zu dieser Drohung veranlasste, hätten die sowjetischen „Genossen“ jedoch nicht
erklären können, so Gomułka in seiner Rede vor der Kommunistischen Partei
Chinas im Januar 1957:
„Obwohl wir fragten,
konnte er [Chruschtschow] keine Rechtfertigung für eine Intervention geben
sowie die Bedrohung der Interessen der Sowjetunion nicht näher erläutern.“[57]
Gomułka zufolge, sei es der sowjetischen Seite
darum gegangen, ihren Einfluss auf die polnische Politik zu behalten. Diesen
hätten sie vor allem mit dem Ausschluss des Politbüromitglied Konstanty
Rokossowski, schwinden sehen. Gegen Gomułka an der Spitze der Partei hätte
Chruschtschow dagegen nichts einzuwenden gehabt.
„Im
Laufe des Gespräches forderten sie uns auf, keine Änderungen in der
Zusammensetzung des Politbüros des ZK vorzunehmen, außer der Aufnahme des
Genossen Gomułka.“[58]
Die Quelle stammt aus der Feder Gomułkas und
entstand erst im Januar 1957. Die polnische Seite war in dieser Rede sichtlich
bestrebt, ihre Position gegenüber der KPdSU als selbstsicher und ebenbürtig
darzustellen.
Auch bei Dudek
ist lediglich von einer „Beunruhigung“ der sowjetischen Führung über die
Ereignisse in Polen in der ersten Oktoberhälfte zu lesen. Welche tatsächlichen
Gründe das sowjetische Eingreifen nötig machten, bleibt ungeklärt.[59]
So schließt sich
diese Arbeit Johanna
Granville und Krzystof Persak an,
die nachweisen, dass die sowjetische Delegation keine klare Vorstellung von der
Situation in Polen oder konkrete Forderungen hatte.[60]
Der Besuch der sowjetischen Führung in Warschau diente demnach mehr einer
Machtdemonstration als der Einforderung eines bestimmten Vorgehens.
Die
militärische Bedrohung und die Rolle Gomułkas
Als Gomułka Chruschtschow damit konfrontierte, dass sowjetische
Truppen auf dem Weg nach Warschau seien, erklärte jener, es würden lediglich „Manöver“
durchgeführt werden. Chruschtschow
habe gegenüber
Gomułka
die bereits eingeleiteten militärischen Schritte nicht zugegen wollen:
“I [Chruschtschow] decided not to
tell him that the order had been given to Konev to move Soviet troops toward
Warsaw.”[61]
Gomułka forderte jedoch eindringlich den Rückzug
der Soldaten. Im Angesicht einer militärischen Bedrohung, so
Gomułka, seien
weitere Gespräche unmöglich. Daraufhin versprach Chruschtschow die Truppenbewegungen abzubrechen und
die Atmosphäre lockerte sich. Die sowjetischen Regimenter blieben allerdings in
Alarmbereitschaft. [62]
Vor dem
Politbüro am 20. oder 21. Oktober 1956 stellte Gomułka seine Reaktion auf die
Mobilisierung der sowjetischen Truppen gegenüber Chruschtschow wie folgt dar:
„Unter
solchen Bedingungen bin ich nicht in der Lage die Gespräche fortzusetzen. Ich
bin krank und eine solche Funktion [des Ersten Sekretärs] kann ich unter diesen
Umständen nicht erfüllen. Wir können uns die Anschuldigungen der sowjetischen
Genossen anhören, aber Entscheidungen, die unter der Androhung physischer Gewalt
getroffen werden, kann ich nicht mittragen. Die erste Amtshandlung, die ich
nach langer Pause in der Parteiarbeit durchführe, muss abgebrochen werden.“[63]
Gomułka betont seine starke und
selbstbewusste Rolle, die er in den Gesprächen mit Chruschtschow eingenommen habe. Er habe seine
Gesprächsbereitschaft als Druckmittel einsetzen können, um die Gespräche auf
Augenhohe zu führen und die Bedingungen der polnisch-sowjetischen Diskussionen
mitzubestimmen. Ob dies lediglich eine Überhöhung der eigenen Rolle in der
nachträglichen Darstellung ist, kann nicht abschließend geklärt werden. Mit
Sicherheit wollte Gomułka vor dem Politbüro seine Bedeutung als Vermittler zwischen
Polen und der Sowjetunion hervorheben. Marschall Rokossowski, der dieser
Politbürositzung beiwohnte, bescheinigte den Aussagen Gomułkas allerdings
Objektivität.[64]
Die Führung der UdSSR
wollte Druck auf Polen ausüben, gleichzeitig aber ihre polnischen
Verhandlungspartner nicht verprellen. Dies war eine paradoxe Situation, die
jedoch zeigt, wie die Bestrebungen zur Entstalinisierung mit dem Festhalten am
sowjetischen Führungsanspruch einhergingen. Einerseits wurden Gespräche geführt
und um diplomatische Lösungen gerungen. Andererseits hielt sich die sowjetische
Führung die Möglichkeit der gewalttätigen Intervention offen. Es wird aber auch
deutlich, dass die Interaktion zwischen den polnischen und den sowjetischen
Kommunisten den Verlauf der Gespräche bestimmte, und dass das
polnisch-sowjetische Verhältnis verhandelbar war.
Die persönliche Begegnung zwischen Gomułka und Chruschtschow
Ochab erinnert sich, wie Chruschtschow ihm und
Gomułka während des Treffens gegenüber gestanden habe:
„Chruschtschow versuchte es
nochmals mit Drohungen: My rosbieromsa,
kto wrag Sowjetskowo Sajuza, wir kriegen es schon heraus, wer ein Feind der
Sowjetunion ist. Da ergriff Gomułka das Wort: Ochab wrag, kak Gomułka wrag, Ochab ist ein Feind, so wie Gomułka ein Feind ist - fangt ihr schon wieder damit an, so wie
früher? Chruschtschow wandte sich ihm zu: My
was priwjestwujem, Ihr seid uns willkommen, gegen Euch haben wir nichts,
aber er - Chruschtschow zeigte auf mich - hat das mit uns nicht abgesprochen.“[65]
Chruschtschow habe sich von
Ochab hintergangen gefühlt; Gomułkas Wahl zum
Ersten Sekretär akzeptierte er jedoch. Die Ausführungen Ochabs geben keine
historischen Fakten, sondern lediglich Erinnerungen wieder. Nichtsdestoweniger
ist die Gomułka zugesprochene Aussage, „Ochab
ist ein Feind, so wie Gomułka ein Feind ist -
fangt ihr schon wieder damit an, so wie früher?“, ein Beleg dafür, dass die
polnische Führung sich auf die Abkehr von den stalinistischen
Herrschaftsmethoden berufen konnte. Für Chruschtschow, der sich selbst als
großen Verfechter der Entstalinisierung sah, musste dies als Argument Geltung
besitzen.
Gomułka berichtete den
chinesischen Kommunisten im Januar 1957 über die Gespräche mit Chruschtschow:
„Ich fragte
ihn, ob er nach Warschau gekommen sei, um uns zu verhaften. Chruschtschow
antwortete, dass es keine derartigen Absichten gäbe, die
KPdSU jedoch zu einer Intervention entschlossen sei, wenn es um
die Verteidigung der Interessen der Sowjetunion gehe.“[66]
Ob Gomułka sich tatsächlich auf diese Weise an Chruschtschow wandte oder dies erst in
der nachträglichen Darstellung eingefügt wurde, wissen wir nicht. Es zeigt
jedoch Gomułkas Bewusstsein für die neuen Rahmenbedingungen und damit neuen
Möglichkeiten politischer Auseinandersetzung nach Stalins Tod. Er stellte diese
Frage, weil er sich sicher sein konnte, dass er nicht verhaftet werden würde.
Gomułka hatte keine Angst vor dem Konflikt mit der sowjetischen Führung. Zudem
erinnert er Chruschtschow daran,
dass die Zeiten, in denen Problem durch Festnahmen gelöst wurden, vorbei seien.
Chruschtschow bestätigte dies
mit seiner Antwort.
In seinen Memoiren schildert
Chruschtschow, was für ihn den Wendepunkt in den Gesprächen darstellte:
“Gomułka took the floor. He spoke heatedly and the words he pronounced
won me over. He said: `Comrade Khrushchev, I ask you to stop the advance of
Soviet troops. Do you think that you are the only ones who need friendship? As
a Pole and a Communist, I swear that Poland needs friendship with the Russians
more than the Russians need friendship with the Poles.’“[67]
Gomułka konnte Chruschtschow
seine Loyalität beweisen, indem er aussprach, was die sowjetische Seite hören
wollte, nämlich dass Polen von der Sowjetunion immer noch abhängig sei. Damit
war vor allem die Rote Armee als Sicherheitsgarant der Westgrenze Polens
gemeint. Andrzej Paczkowski behauptet, Gomułka habe Chruschtschow im persönlichen Gespräch von den Vorteilen der
Veränderungen an der Spitze der Staats- und Parteiführung überzeugen können,
worauf die sowjetischen Delegation beruhigt zurück nach Moskau geflogen sei und
die militärischen Manöver eingestellt hätte.[68]
Wenngleich dies eine Vereinfachung der Geschehnisse darstellt, muss konstatiert
werden, dass die Begegnung in Warschau, Chruschtschow Einschätzung
der Situation in Polen veränderte. Auch die Aufzeichnungen des Sekretärs Wladimir
Malin von den Sitzungen des Präsidiums der KPdSU vom 20. Oktober bestätigen die
These, dass Chruschtschow seine
Meinung über die polnische Führung nach der persönlichen Begegnung revidieren
musste:
“The ambassador, Cde. Ponomarenko, was grossly mistaken in his
assessment of Ochab and Gomułka.”[69]
Chruschtschow habe in Warschau festgestellt, dass Gomułka ein treuer Kommunist geblieben war, so Kemp-Welch.[70] Dies war nur deshalb möglich, weil er nach Warschau
gekommen war, um sich vor Ort ein eigenes Bild
von der Situation zu machen und sich auf ein
persönliches Gespräch einließ. Mit dem Besuch in Warschau demonstrierte
Chruschtschow einerseits die Herrschaft der Sowjetunion. Andererseits stellte
sich während der Gespräche heraus, dass die sowjetische Seite bereit war, sich
auf die polnischen Argumente einzulassen und eine friedliche Lösung zu erwägen.
Die KPdSU sieht von einem Militärschlag ab
In der Nacht vom 19. zum 20. Oktober
flog die sowjetische Delegation wieder zurück nach Moskau. Ob das Militär in
Polen eingesetzt werden sollte, blieb weiterhin Diskussionsthema in der
sowjetischen Führung.[71] Dies geht aus
den Notizen des Sekretärs Wladimir Malin zu den Sitzungen des Präsidiums der
KPdSU hervor. Leider kann den bruchstückhaften Aufzeichnungen Malins nicht
immer eindeutig entnommen werden, wer welche Position vertritt. Im
Sitzungsprotokoll vom 20. Oktober 1956 ist zu lesen:
„There’s only one way
out—put an end to what is in Poland. If Rokossowski is
kept, we won’t have to press things for a while. Maneuvers. Prepare a document. Form a
committee.”[72]
Der erste Satz deutet auf das Vorhaben hin, in
Polen militärisch einzugreifen. Doch schon im nächsten wird erklärt, dass
solange Marschall Rokossowski Mitglied des Politbüros des ZK der PVAP bleibe,
militärische Schritte nicht notwendig seien. Kramer vertritt die Ansicht, dass
das Präsidium weitere militärische „Manöver“ vorsah und die Gründung eines
Komitees plante, das Gomułka an der Spitze der polnischen Regierung ersetzen
sollte.[73]
Was Kramer nicht in Erwägung zieht, ist, dass es unterschiedliche Positionen
sind, die hier zum Ausdruck gebracht werden. Es handelt sich vermutlich um
erste vorläufige Stellungnahmen von verschiedenen Personen, denn es wird kein
einzelner Redner, wie in den übrigen Notizen, genannt.
Johann Granville zufolge
habe die sowjetische Führung bis zum 24. Oktober 1956 eine Militärintervention
in Polen in Betracht gezogen.[74] Chruschtschow erklärte jedoch schon am
21. Oktober 1956 vor dem Präsidium:
“Taking
account of the circumstances, we should refrain from military intervention. We need to display
patience. (Everyone agrees with this.)“[75]
Alle Präsidiumsmitglieder waren
einverstanden, d.h. sie waren sich darüber einig, dass es nicht nötig – sogar
kontraproduktiv – sein würde, Polen anzugreifen.[76]
Zudem zeigt die Abwesenheit des polnischen Verteidigungsminister Rokossowski
auf der Politbürositzung am 22. Oktober, dass die polnische Führung zu diesem
Zeitpunkt schon nicht mehr damit rechnete, auf kriegerischem Wege in ihre
Schranken gewiesen zu werden. Moskau schien die Entlassung Rokossowskis
akzeptiert zu haben.[77]
Das Präsidium des ZK der KPdSU hatte demnach spätestens am 22. Oktober
entschieden, dass es zu keiner militärischen Intervention mehr kommen würde.
Granvilles Position ist damit widerlegt.
Der Einsatz
der sowjetischen Truppen war für Chruschtschow eine reale Option. Allerdings
lag für ihn im Falle Polens die Bedeutung des Militärs vielmehr in der
Machtdemonstration. Chruschtschow hatte deutlich gemacht, dass er am längeren
Hebel saß.
4.3Gomułka und
das polnisch-sowjetische Verhältnis nach dem 19. Oktober 1956
Gomułka bewies mit seinen Äußerungen nach dem 19. Oktober den
sowjetischen „Genossen“, dass er die polnische Bevölkerung für sich einnehmen
konnte, gleichzeitig aber an der „Freundschaft“ mit der Sowjetunion festhielt. In
seiner Rede auf dem
8. Plenum des ZK der PVAP am 20. Oktober übt Gomułka noch einmal Kritik
am stalinistischen Machtsystem und betont die Notwendigkeit eines eigenen
nationalen „Wegs zum Sozialismus“. Er bekräftigt aber auch die polnisch-sowjetischen
Beziehungen, die nun neu geregelt, grundsätzlich jedoch nicht in Frage gestellt
werden würden. Denn die Existenz Polens war für ihn untrennbar mit der
„Freundschaft“ zur Sowjetunion verbunden:
„Wenn aber
jemand glaubt, es könnte ihm gelingen, in Polen antisowjetische Stimmungen zu
entfachen, dann irrt er sich gewaltig. Wir werden es nicht zulassen, dass den
lebenswichtigen Interessen des polnischen Staates und dem Aufbau des
Sozialismus in Polen Schaden zugefügt wird.“
[78]
Auch der Warschauer Bevölkerung
machte Gomułka dies unmissverständlich klar. In seiner berühmten Rede am 24.
Oktober 1956 vor 300.000 Menschen in der Warschauer Innenstadt grenzt er sich
nicht gegenüber der Sowjetunion ab, so wie es von den demonstrierenden Massen
gefordert worden war. Stattdessen bezeichnet er die sowjetischen Truppen, die
wenige Tage zuvor die Stadt bedrohten, als Sicherheitsgarant Polens.[79]
Wieso konnte sich Gomułka solche
Äußerungen leisten? Paweł
Machcewicz kommt zu dem Ergebnis, dass die Begeisterung für Gomułka in der polnischen Bevölkerung
weitgehend auf Missverständnissen beruhte. Obwohl Gomułka sich nie gegen die Sowjetunion
stellte, „entstand das Bild des neuen Ersten Sekretärs als eines
sowjetfeindlichen Politikers und eines wahren ‚Sowjetfressers‘ “.[80]
Die Illusion, Gomułka sei sowjetfeindlich eingestellt, führte demnach zu der
paradoxen Situation, dass die Unterstützung für ihn zur Legitimation der
kommunistischen Staatsmacht und zur Stabilisierung der gesamtpolitischen Lage
in Polen beitrug.[81]
Gomułka hatte
damit den Spagat zwischen polnischer Bevölkerung und Sowjetunion erfolgreich
vollführt. Er schickte die Protestierenden einfach wieder nach Hause, versprach
allerdings eine Demokratisierung des Landes und sorgte dafür, dass der
sichtbare sowjetische Einfluss aus Polen verschwand. So wurde der größte Teil
der sowjetischen Generäle und „Berater“ aus der polnischen Armee, dem
Geheimdienst und anderen Institutionen entfernt. Polen bekam mehr Souveränität
zugestanden und die ungünstigen Wirtschaftsabkommen wurden aufgehoben.[82]
Das System der Nomenklatura sowie die Kontrolle über die Gesellschaft blieben
allerdings bestehen. Die Parlamentswahlen im Januar 1957 beendeten schließlich
die Krise des Jahres 1956 und bestätigten Gomułka als unanfechtbares
Staatsoberhaupt Polens.[83]
5.Fazit
Diese Arbeit stellte die Frage,
wie das Treffen am 19. Oktober 1956 in Warschau als Teil der Entstalinisierung
in der Sowjetunion und in Polen verstanden werden kann. Zunächst wurde gezeigt,
dass der sich im Jahr 1956 verschärfende polnisch-sowjetische Konflikt eine
Folge der politischen Veränderungen in der Sowjetunion war. Die Verurteilung
der stalinistischen Verbrechen und das Schwinden der Angst vor unmittelbarer
Gewalt führten in Polen dazu, dass die Menschen das kommunistische System und
die als „Unterdrückerin“ empfundene Sowjetunion öffentlich ablehnten. Um das
schwindende Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen, verfolgte die Führung
der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei ab Sommer 1956 die Strategie, als
Verteidigerin polnischer Interessen gegenüber der Sowjetunion aufzutreten.
Damit forderte die polnische die sowjetische Führung bewusst heraus. Scharfe
Kritik sowie Drohungen von Seiten der Sowjetunion blieben nicht aus.
Die
PVAP-Führung konnte auf diese Weise agieren, weil sich auch ihr
Handlungsspielraum erweitert hatte. Ihre Mitglieder wussten, dass sie nicht
verhaftet und erschossen werden würden. Mit der Ernennung Gomułkas zum Ersten
Sekretär des ZK der PVAP, dem angekündigten Ausschluss Rokossowskis aus dem
Politbüro sowie der Bitte um Verschiebung des sowjetischen Besuches spielten
die polnischen Kommunisten die neuen Möglichkeiten im polnisch-sowjetischen
Verhältnis aus.
Das Eintreffen
der sowjetischen Führung in Warschau und die Vorbereitungen für eine
militärische Intervention zeigen das Spannungsfeld, in dem sich Chruschtschow
und seine Kollegen befanden. Das Verhältnis zu den „Bruderstaaten“ sollte
verbessert werden, jedoch ohne den Einfluss auf die Politik dieser Länder zu
verlieren. Gleichzeitig markiert der Besuch Chruschtschows in Warschau den
Beginn einer neuen Ära. Chruschtschow wollte sich selbst einen Überblick über
die Lage in Polen verschaffen und in der direkten Auseinandersetzung erfahren,
welches Vorhaben die polnische Führung verfolgte. Er war demzufolge bereit, den
Konflikt auf der Ebene des Gesprächs zu lösen.
Der
persönliche Kontakt zwischen den Vertretern der polnischen und sowjetischen
Führung prägte den Fortgang der
Ereignisse. Nicht nur konnte sich Chruschtschow davon überzeugen, dass Gomułka
ein treuer Kommunist und ein „Freund“ der Sowjetunion war. Während der
Gespräche im Belvedere-Palast wurde auch um die Auslegung der neuen
sowjetischen Politik gerungen. Die PVAP wies die sowjetische Seite darauf hin,
dass die Zeiten der Gewalt und des Terrors vorbei seien. Da die sowjetische
Seite keine konkreten Forderungen, nur die Angst um den eigenen Machtverlust,
mit nach Warschau gebracht hatte, konnte die polnische Führung als starker
Verhandlungspartner auftreten. Gomułka nahm die Rolle des Parteichefs in den
Gesprächen ein und nagelte Chruschtschow auf dessen bereits demonstrierte
Verhandlungsbereitschaft fest, indem er forderte, auf jede militärische Aktion
zu verzichten.
Wenngleich noch andere Gründe dazu führten,
dass der Militärschlag ausblieb, so war es letztlich das Vertrauen in die durch Gomułka verkörperte Beständigkeit des Sozialismus in Polen,
das in den Augen Chruschtschows
die militärische Demonstration der eigenen Macht unnötig erscheinen ließ.
Seinerseits hielt auch Gomułka, was er versprochen hatte, nämliche die
Demonstrationen in Polen zu einem Ende zu bringen.
Das ungleiche
Herrschaftsverhältnis zwischen der Sowjetunion und den „Bruderstaaten“ bestand
jedoch weiterhin und auch die Gewalt als Mittel zur Durchsetzung der eigenen
Macht war mit dem Diktator nicht zu Grabe getragen worden, sondern blieb fester
Bestandteil des Repertoires sowjetischer Herrschaftsinstrumente. Wenige Wochen
später wurde dies in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei mehr als deutlich.
Das Treffen am
19. Oktober 1956 zeigt jedoch, dass die von der sowjetischen Führung initiierte
Entstalinisierung die Voraussetzung dafür schaffte, das polnisch-sowjetische
Verhältnis bis zu einem bestimmten Grad auszuhandeln. Gleichwohl die polnische
Führung sich neue Handlungsspielräume erkämpfte und Moskau zu Zugeständnissen
bereit war, blieben doch die Grenzen, innerhalb derer in Polen politische und
gesellschaftliche Veränderungen stattfinden durften, von der Sowjetunion
vorgegeben. Somit bedeutete auch in Polen Entstalinisierung beides: Aufbruch
und Systemerhalt.
[1] Vgl.: Engelmann, Roger/ Großbölting, Thomas (Hg.):
Kommunismus in der Krise. Die Entstalinisierung 1956 und die Folgen, Göttingen
2008, S. 9.
[2] Zu einem Symbol der stalinistischen Verbrechen gegen
die polnische Bevölkerung wurde das im Frühjahr 1940 auf direkte Anordnung des
Politbüros der KPdSU verübte „Massaker von Katyn“, bei dem 25.000 polnische
Offiziere und Angehörige der Eliten erschossen wurden. Vgl.: Kamiński, Łukasz: Stalinism in Poland, 1944-1956, in: McDermott, Kevin/ Stibbe,
Matthew (Hg.): Stalinist terror in Eastern Europe. Elite purges and mass
repressions, Manchester/New York 2010, S. 78.
[3] Vgl.: Raina, Peter: Gomulka. Politische Biographie,
Köln 1970, S. 34.
[4] Zitiert nach: Kemp-Welch:
Poland
under Communism. A Cold War History, Cambridge 2008, S. 20.
[5] Vgl.: Taubman,
William: Khrushchev. The man and his era, London 2004, S. 289.
[6] 1948 kam es zum Bruch zwischen Stalin und Tito, der
als jugoslawischer Staatspräsident für sein Land den Anspruch erhob, einen
eigenen „Weg zum Sozialismus“ zu gehen, und gegen die sowjetischen
Hegemoniebestrebungen demonstrierte.
[7] Vgl.: Kamiński, Łukasz: Stalinism in Poland, 1944-1956, S. 89ff.
[8] Vgl.: Friszke, Andrzej/
Wiaderny, Bernard/ Fuhrmann, Karolina (Hg.): Polen. Geschichte des Staates und der Nation, Berlin 2009, S.
175f.
[9] Vgl.: Kamiński, Łukasz: Stalinism in Poland, 1944-1956, S. 84ff.
[10] Mitglieder des Warschauer Paktes oder auch des Rates
für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) bezeichneten sich untereinander als
„Bruderstaaten oder –länder“.
[11] Vgl.: Baberowski, Jörg (Hg.): Verbrannte Erde: Stalins
Herrschaft der Gewalt, München 2012, S. 498.
[12] Vgl.: Merl, Stefan: Berija und Chruščev.
Entstalinisierung oder Systemerhalt? Zum Grunddilemma sowjetischer Politik nach
Stalins Tod, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 52 (2001), S.
491ff.
[13] Vgl.: Ebd., S.
488f.
[14] Vgl.: Kemp-Welch,
Tony: Khrushchev's 'Secret Speech' and Polish Politics. The Spring of 1956, Europe-Asia Studies, 2 (1996), S.
181.
[15] Vgl.: Orechow, Alexandr M.: Die polnische Krise 1956
aus Moskauer Sicht, in: Foitzik, Jan (Hg.): Entstalinisierungskrise in
Ostmitteleuropa 1953-1956, Paderborn 2001, S. 333.
[16] Vgl.: Orlow, Aleksandr: Der Polnische Oktober. Sieg
der Vernunft über die Gewalt, in: Heinemann, Winfried/ Wiggershaus, Norbert
Theodor (Hg.): Das Internationale Krisenjahr 1956 : Polen, Ungarn, Suez,
München 1999, S. 43.
[17] Vgl.: Machcewicz, Paweł: Der Umbruch 1956 in Polen, Gesellschaftliches
Bewußtsein, Massenbewegung, politische Krise, in: Foitzik, Jan (Hg.):
Entstalinisierungskrise in Ostmitteleuropa 1953-1956, Paderborn 2001, S. 139ff.
[18] Vgl.: Doliesen, Gerhard (Hg.): Polen unter
kommunistischer Diktatur 1944-1956. Mit Vergleichen zur DDR, Schwerin 2010, S.
69.
[19] Vgl.: Orlow, Aleksandr: Der Polnische Oktober. Sieg
der Vernunft über die Gewalt, S. 44.
[20] Vgl.: Machcewicz, Paweł: Der Umbruch 1956 in Polen, S.
139ff.
[21] Die Rede wird im Weiteren nur noch als „Geheimrede“
bezeichnet. Sie wurde den Delegierten des 20. Parteitages am 25. Februar 1956
unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorgetragen. Außer auf geschlossenen
Parteiversammlungen durfte sie bis in die Zeit der Perestrojka in der
Sowjetunion niemandem zugänglich gemacht werden.
[22] Vgl.: Władyka, Wiesław: Unstimmigkeiten und
Gewissheiten im ZK der PVAP 1956, in: Szymoniczek, Joanna/ Król, Eugeniusz
Cezary (Hg.): Das Jahr 1956 in Polen und seine Resonanz in Europa, Warschau
2010, S. 27.
[23] Vgl.: Baberowski, Jörg (Hg.): Verbrannte Erde, S. 499.
[24] Vgl.: Holzer, Jerzy: Die Geheimrede Chruschtschows und
ihre Rezeption in Ostmitteleuropa, in: Hahn, Hans Henning/ Olschowsky, Heinrich
(Hg.): Das Jahr 1956 in Ostmitteleuropa, Berlin 1996, S. 13ff.
[25] Vgl.: Naumov, Vladimir: Zur Geschichte der Geheimrede
N.S. Chruschtschows auf dem 20. Parteitag der KPdSU, in: Forum für
Osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, 1 (1997), S. 177.
[26] Vgl.: Friszke, Andrzej u.a. (Hg.): Polen, S. 214.
[27] Vgl.: Machcewicz, Paweł: Der Umbruch 1956 in Polen, S.
141ff.
[28] Die nach der Puławska Straße benannte Fraktion war
offener für Veränderungen und toleranter gegenüber der Presse. Ihre führenden
Mitglieder waren Edward Ochab und Roman Zambrowski. Die Natolin-Gruppe wehrte
sich gegen Liberalsierungen und wollte stattdessen einzelne Personen als
„Sündenböcke“ bestrafen, um die Lage wieder in den Griff zu bekommen. Sie war
gegen die Pressefreiheit und für eine weiterhin enge Verbindung mit der
Sowjetunion. Sie wurde durch die Politbüromitglieder Zenon Nowak, Franciszek
Jozwiak, Aleksander Zawadzki und Konstanty Rokossowski vertreten. Vgl.:
Friszke, Andrzej u.a. (Hg.): Polen, S. 217f.
[29] Vgl.: Machcewicz, Paweł: Der Umbruch 1956 in Polen, S.
149ff.
[30] Vgl.: Friszke, Andrzej u.a. (Hg.): Polen, S. 219.
[31] Zitiert nach: Orechow, Alexandr M.: Die Polnische
Krise 1956 aus Moskauer Sicht, S. 347.
[32] Torańska, Teresa (Hg.): Die da oben, Köln 1987, S.
72f.
[33] Vgl.: Persak,
Krzysztof: The Polish-Soviet Confrontation in 1956 and the Attempted Soviet
Military Intervention in Poland,
Europe-Asia Studies, 8 (2006), S. 1288.
[34]Protokoll Nr. 124, Sitzung des Politbüros am 8. und 10. Oktober 1956, in: Dudek, Antoni/ Instytut Studiów Politycznych (Hg.): Centrum władzy. Protokoły posiedzeń kierownictwa PZPR. Wybór
z lat 1949 - 1970, Warschau 2000, S. 188.
[35] Vgl.: Friszke, Andrzej u.a. (Hg.): Polen, S. 625.
[36] Vgl.: Orlow, Aleksandr: Der Polnische Oktober, S. 48.
[37] Vgl.: Machcewicz, Paweł: Der Umbruch 1956 in Polen, S.
154.
[38] Vgl.: Orechow, Alexandr M.: Die polnische Krise 1956
aus Moskauer Sicht, S. 345.
[39] Vgl.: Orlow, Aleksandr: Der Polnische Oktober, S. 47.
[40] Torańska, Teresa (Hg.): Die da oben, S. 87f.
[41] Khrushchev, Sergei (Hg.): Memoirs of Nikita Khrushchev.
Volume
3: Statesman, 1953-1964, The Pennsylvania
State University
Press 2007, S. 625.
[42] Vgl.: Taubman,
William: Khrushchev. The man and his era, London 2004, S. 291.
[43] Vgl.: Friszke, Andrzej u.a. (Hg.): Polen, S. 219.
[44]Protokoll Nr. 127, Sitzung des
Politbüros am 18. Oktober 1956, in: Dudek, Antoni/ Instytut Studiów Politycznych (Hg.):
Centrum władzy, S. 215.
[45] Vgl.: Ebd.
[46]Protokoll Nr. 129, Sitzungen
des Politbüros am 19., 20. und 21. Oktober 1956, in: Dudek, Antoni/ Instytut Studiów
Politycznych (Hg.): Centrum władzy, S. 216.
[47] Khrushchev, Sergei (Hg.):
Memoirs of Nikita Khrushchev, S.
626.
[48] Gespräch mit Edward Ochab, in: Torańska, Teresa (Hg.):
Die da oben, S 81.
[49] Khrushchev, Sergei (Hg.): Memoirs of Nikita Khrushchev, S. 626.
[50] Gomułka´s notes
from the 19-20 October polish-soviet meeting, Gomułka
Family private papers, in: Cold War International History Project (CWIHP),
Wilson Center Digital Archive, 116002, http://digitalarchive.wilsoncenter.org/
document/116002, Zugriff 18.04.2013.
[51] Vgl.: Granville,
Johanna: 1956 Reconsidered. Why Hungary
and Not Poland?,
The Slavonic and East European Review, 4 (2002), S. 675f.
[52] Werblan, Andrzej: Rozmowy
Władysława Gomułki z Zhou Enlaiem w 1957 r., in: Dzieje Najnowsze, 4 (1997) S.
124.
[53] Vgl.: Ebd., S. 125.
[54] Vgl.: Kemp-Welch,
Anthony (Hg.): Poland
under Communism, S. 96.
[55] Vgl.: Bericht Aleksander Zawadzkis vor dem 8. Plenum
des ZK der PVAP am 20. Oktober 1956 über das Treffen der sowjetischen und der
polnischen kommunistischen Führer am 19. Oktober 1956, in: Nowe Drogi. Organ Teoretyczny I
Polityczny Komitetu Centralnego Polskiej Zjednoczonej Partii Robotniczej, VIII
Plenum Komitetu Centralnego PZPR 19 - 21. X. 1956 R., 10 (1956), S. 17.
[56] Vgl.: Kemp-Welch,
Tony: Dethroning Stalin. Poland
1956 and Its Legacy, in: Europe-Asia Studies, 8 (2006), S. 1272f.
[57] Werblan, Andrzej: Rozmowy
Władysława Gomułki z Zhou Enlaiem w 1957 R., S. 125.
[58] Vgl.: Ebd., S. 125f.
[59] Vgl.: Dudek, Antoni: Der politische Umbruch von 1956
in Polen, in: Heinemann, Winfried/ Wiggershaus, Norbert Theodor (Hg.): Das
Internationale Krisenjahr 1956. Polen, Ungarn, Suez, München 1999, S. 37.
[60] Vgl.: Persak,
Krzysztof: The Polish-Soviet Confrontation in 1956, S. 1292; Vgl.: Granville,
Johanna: 1956 Reconsidered, S. 676.
[61] Khrushchev, Sergei
(Hg.): Memoirs of Nikita Khrushchev, S. 629.
[62] Vgl.: Kemp-Welch,
Tony: Dethroning Stalin, S. 1272f.
[63]Protokoll Nr. 129, Sitzungen
des Politbüros am 19., 20. und 21. Oktober 1956, in: Dudek, Antoni/ Instytut Studiów
Politycznych (Hg.): Centrum władzy, S. 216f.
[64] Vgl.: Ebd., S. 217.
[65] Torańska, Teresa (Hg.):
Die da oben, S. 85f.
[66] Werblan, Andrzej: Rozmowy
Władysława Gomułki z Zhou Enlaiem w 1957 R., S. 125.
[67] Vgl.: Khrushchev, Sergei
(Hg.): Memoirs of Nikita Khrushchev, S. 629f.
[68] Vgl.: Paczkowski,
Andrzej (Hg.): The Spring Will Be Ours. Poland and the Poles from
Occupation to Freedom, Warschau 1998, S. 275.
[69] Dokument Nr. 2, in:
Kramer, Mark: The `Malin Notes’ on the Crisis in Hungary
and Poland
1956, in: Cold War International History Project Bulletin,
8-9 (1996), S. 388.
[70] Vgl.: Kemp-Welch,
Tony: Dethroning Stalin, S. 1273.
[71] Vgl.: Granville,
Johanna: 1956 Reconsidered, S. 675f.
[72] Dokument Nr. 2, in: Kramer, Mark: The `Malin Notes’,
S. 388.
[73] Vgl.: Ebd., S. 401.
[74] Vgl.: Granville,
Johanna: 1956 Reconsidered, S. 677.
[75] Dokument Nr. 3, in: Kramer, Mark: The `Malin Notes’,
S. 388.
[76] Dokument Nr. 4, in: Ebd., S. 389.
[77] Vgl.: Dudek, Antoni/
Instytut Studiów Politycznych (Hg.): Centrum władzy, S. 216ff. Am 24. Oktober wurde Rokossowski „Erholungsurlaub“
gestattet und faktisch verließ er den Posten des Verteidigungsministers am 26. Oktober. Vgl.: Paczkowski,
Andrzej (Hg.): Tajne dokumenty Biura Politycznego, S. 221, Fußnote 2.
[78] Gomułka, Władysław (Hg.): Rede auf dem VIII Plenum des
Zentralkomitees der P.V.A.P. 1956, Warschau 1956, S. 45.
[79] Address by the
First Secretary of the Polish United Workers Party, Gomulka, before a citizen´s
rally at Warsaw, October 24, 1956, in: Zinner, Paul E. (Hg.): National
communism and popular revolt in Eastern Europe. A selection of documents on
events in Poland and Hungary, Febr.
- Nov. 1956, New York
1956, S. 274.
[80] Machcewicz, Paweł: Massenbewegung 1956 in Polen, S.
30.
[81] Vgl.: Machcewicz, Paweł: Massenbewegung 1956 in Polen,
S. 29ff.
[82] Vgl.: Dudek, Antoni: Der politische Umbruch von 1956
in Polen, S. 41.
[83] Vgl.: Friszke, Andrzej u.a. (Hg.): Polen, S. 226ff.
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