Erschienen in Ausgabe: No. 92 (10/2013) | Letzte Änderung: 27.09.13 |
von Bernd Ehlert
Die Soziobiologie versucht jegliche Formen des
Sozialverhaltens bei den sozial lebenden Wesen einschließlich des Menschen auf
evolutionstheoretischer Basis plausibel zu erklären. Das wird als Grundlage der
heutigen Soziobiologie mit einem gen-zentrierten Ansatz einer
Gesamtfitness-Theorie und dem Schlagwort des „egoistischen Gens“ vollzogen. Unter
diesem Ansatz wird letztlich das gesamte menschliche Sein gesehen und gedeutet,
wobei Geist und Kultur nur als eine „in Schlepptau“ genommene
Begleiterscheinung der weiterhin allein wirkmächtigen (egoistischen) Gene
verstanden werden. Darin wird die Soziobiologie besonders von geisteswissenschaftlicher
Seite aus harsch kritisiert. Ausgehend von einer Meinungsverschiedenheit
zwischen Charles Darwin und Alfred Russel Wallace hinsichtlich der Entstehung
des menschlichen Geistes in der Evolution kann durch die später ermöglichte
Auflösung dieses Problems durch Konrad Lorenz gezeigt werden, dass der heutigen
Soziobiologie genau dieses historische Problem zugrundeliegt. Mit dem Ansatz
und der Lösung von Lorenz erweist sich die große Kritik an der Soziobiologie
auch von naturwissenschaftlicher Seite aus als vollkommen berechtigt. Zudem hat
sich zwischenzeitlich der Namensgeber der Soziobiologie, E.O. Wilson, von der
Gesamtfitness-Theorie und der Hamilton-Ungleichung klar distanziert, indem er
diese Grundlage der Soziobiologie für einen Irrweg und Methodenfehler hält.
Geist und Kultur des Menschen können von diesen Erkenntnissen her nicht unter
den »alten« evolutiven Gesetzmäßigkeiten der Gene und der genetischen Vererbung
gedeutet werden, wie das leider auch schon Darwin in Ablehnung der neuen Ideen
von Wallace versuchte. Statt einer „genetischen Fitness“ und eines
„gen-zentrierten“ Ansatzes ist gemäß der Erkenntnis von Lorenz vielmehr eine »geistige
Fitness« und ein »geist-zentrierter Ansatz« gefragt. Dieser Irrweg der
Soziobiologie ist in der heutigen Zeit, in der die Menschheit als biologische
Art an die Grenzen ihres Lebensraumes stößt, nicht mehr nur eine theoretische
Angelegenheit.
Die Meinungsverschiedenheit zwischen Darwin und
Wallace und die Mängel ihrer Erklärungsversuche hinsichtlich der Entstehung des
menschlichen Geistes in der Evolution
Darwin selbst stellt in einer Fußnote seines Buches
„Die Abstammung des Menschen“ mit einem Zitat von J. Lubbock heraus, „daß Mr. Wallace
'mit charakteristischer Selbstlosigkeit dieselbe (nämlich die Idee der natürlichen
Zuchtwahl) ohne Rückhalt Herrn Darwin zuschreibt, trotzdem es bekannt ist, daß
er diese Idee ganz selbständig erfaßt und sie, wenn auch nicht ebenso
ausgearbeitet, zu derselben Zeit veröffentlicht hat'“ (Darwin 2002, 300). Die
zu dieser Fußnote gehörende Textstelle in Darwins Buch enthält allerdings eine
Kritik an Wallace, denn Darwin sagt dort: „Ich kann daher nicht verstehen, wie
Mr. Wallace behaupten kann67, daß 'natürliche Zuchtwahl den Wilden
nur mit einem Gehirn hätte versehen können, das dem eines Affen wenig überlegen
wäre.'“ (Darwin 2002, 56). Zu dieser Auffassung von Wallace sagt Darwin in
dieser Fußnote noch weiter, dass diese jeden überraschen müsse, der einen
früheren Aufsatzes von Wallace aus dem Jahre 1864 gelesen habe.
Diese sich zunächst nebensächlich und harmlos
anhörende Kritik findet eine nähere Erklärung in einem Brief vom 24.03.1869 von
Wallace an Darwin, in dem Wallace einen Zeitschriftenartikel ankündigt, in dem
er es zum ersten Mal wage, einige Begrenzungen der Macht der natürlichen
Selektion zu setzen („I venture for the first time on some limitations to the
power of natural selection.“). Wallace erkennt einen gravierenden Mangel in der
Erklärung des menschlichen Geistes durch die natürliche Selektion, wobei er den
Weg einschlägt, diesen Mangel durch die Heranziehung übernatürlicher Ursachen
lösen zu wollen. In seiner Antwort vom 27.03.1869 sagt Darwin dazu (noch in
Unkenntnis des Artikels), dass er hoffe, Wallace habe nicht ihr gemeinsames
Kind (die natürliche Selektion) damit vollständig umgebracht („I hope you have
not murdered too completely your own & my child.“). Nach Kenntnis des
Artikels äußert Darwin in einem Brief vom 14.04.1869 erstaunt, dass er nicht
glauben würde, dass diese Gedanken von Wallace stammen, wenn dieser es ihm
nicht selbst geschrieben hätte. Darwin distanziert sich in dieser Frage der
Entstehung des menschlichen Geistes in der Evolution eindeutig und
„schmerzlich“ von Wallace: „If you had not told me I shd have thought that
they had been added by some one else. As you expected I differ grievously from you, & I am very sorry for
it. I can see no necessity for calling in an additional & proximate cause
in regard to Man.“ Im nächsten Satz sagt Darwin, dass diese
Angelegenheit für den brieflichen Austausch nicht geeignet ist. Er dankt
Wallace für seine Meinung und erwähnt, dass er selbst nun viel über den Menschen
denkt und schreibt. Zwei Jahre später finden diese Gedanken ihr Ergebnis in
Darwins Buch über die Abstammung des Menschen mit der oben zitierten Kritik an
Wallace.
Wallace baut seine Erklärung des menschlichen Seins
durch einen übernatürlichen Eingriff in der Folge weiter aus und wird zum Spiritualist. Er
vertritt dann hinsichtlich der späteren Lösung dieses Problems durch Lorenz
nicht nur die interessante Überzeugung, dass das bisherige Verständnis der natürlichen
Selektion nicht zum mathematischen, künstlerischen oder musikalischen Genius,
sowie zu metaphysischen Gedanken, Geist und Humor führen könne, sondern darüber
hinaus behauptet er in seinem Buch „Darwinism“, das 1889 erschien, dass etwas
im unsichtbaren Universum des Geistesmindestens drei Mal während der Evolution
eingegriffen haben muss, und zwar im Fall der Schöpfung von Leben aus
anorganischer Materie, der Einführung von Bewusstsein bei höheren Tieren und
eben bei der Bildung höherer mentaler Fähigkeiten beim Menschen. Konsequenterweise
führt das bei Wallace auch zu einer teleologischen und anthropozentrischen
Überzeugung, nämlich dass der Grund für das Sein des Universums die Entwicklung
des menschlichen Geistes sei.
Darwin teilt diese
neue Ideen von Wallace in seinem Buch „Die Abstammung des Menschen“, wie es die
oben genannte kritische Aussage zu Wallace zeigt, auch ansonsten später in keiner
Weise, sondern verwendet in seinem Buch im Gegenteil größte Mühe darauf, zu
zeigen, dass sich der Geist und die Fähigkeiten des Menschen langsam und rein
natürlich aus dem Tier-Sein entwickelt haben und dass es schon bei den Tieren
erste Anfangsformen der dadurch nicht so neuen Fähigkeiten des Menschen gegeben
habe. Darwin vertritt sogar die Auffassung, dass „bei der Bestimmung der
Stellung des Menschen innerhalb des natürlichen oder genealogischen Systems die
außerordentliche
Entwickelung seines Gehirns nicht schwerer wiegen [sollte] als eine große
Anzahl von Ähnlichkeiten in anderen, weniger wichtigen oder ganz unbedeutenden
Punkten“ (Darwin 2002, 193). Vielleicht ist diese
bemühte Abgrenzung von den neuen Ideen von Wallace sogar der Grund dafür, dass Darwin
sich verstärkt auf die Annahme der Vererbung erworbener Eigenschaften von
Lamarck stützt, denn dann sind die neuen Eigenschaften des Menschen auf
natürliche Weise darin so fixiert wie alle anderen Eigenschaften auch und die
Versuchung ist geringer, wie Wallace übernatürliche Erklärungen für die
herausragenden geistigen Fähigkeiten des Menschen heranzuziehen.
Darwin
ignoriert auf diese Weise die Erkenntnis von Wallace, dass der Geist beim
Menschen einen zu großen Sprung gemacht haben soll, um das mit dem bisherigen
Verständnis der natürlichen Selektion erklären zu können. Er erklärt auf diese
Weise zwar die geistigen und kulturellen Eigenschaften des Menschen im
Gegensatz zu der neuen Idee von Wallace weiterhin strikt über genau die natürliche
Zuchtwahl und Vererbung, mit der auch alles andere in der Evolution entstanden
ist, stößt damit aber schnell an die Grenzen dieser Erklärung. Das stellt er
selbst fest, als er sich mit der Kritik auseinandersetzt, warum nicht „die
alten Griechen, die intellekt höher standen als irgend eine andere
Rasse26, noch weiter fortgeschritten und immer zahlreicher geworden
wären und schließlich ganz Europa eingenommen haben würden, wenn die Kraft der
natürlichen Zuchtwahl tatsächlich und nicht illusorisch wäre“ (Darwin 2002,
181). Er kann es sich nur so erklären, dass es irgendwie an dem Mangel an
Eintracht, der geringen Ausdehnung ihres Landes, der dort herrschenden
Sklaverei oder der extremen Sinnlichkeit gelegen haben muss, bis sie „entnervt
und bis in innerste Mark verderbt waren“ (Darwin 2002, 182). Jenseits dieser
mangelhaften Erklärungen steht für ihn nur fest (da sich beide Völker ja nicht
durch die Fortpflanzung beeinflussten): „Die westlichen Völker Europas, die ihre
früheren wilden Vorfahren so ungeheuer überragen und auf dem Gipfel der
Zivilisation stehen, verdanken wenig oder nichts von ihrer Superiorität als
unmittelbares Erbe den alten Griechen, wenn sie auch den Schriftwerken dieses
hervorragenden Volkes viel verdanken“ (Darwin 2002, 182).
„Ein
noch dunkleres Rätsel ist das Erwachen der europäischen Völker aus dem Dunkel
des Mittelalters“ (Darwin 2002, 182), denn die zu dieser Zeit alles
beherrschende Kirche verlangte von den damals ja noch „Wilden“, und zwar
ausgerechnet von den „weicheren, der beschaulichen Betrachtung und der Bildung
des Geistes ergebenen Naturen“ (Darwin 2002, 182) den Zölibat, so dass dadurch
gemäß der Theorie von Darwin jede folgende Generation geschädigt werden musste
(mit dem heutigen Begriff hätte die Fitness der Gene dadurch abgenommen). Diejenigen
der Wilden, die wenigstens etwas über Geist und Kultur verfügten, wurden so im
Verständnis Darwins von der Vererbung noch ausselektiert, so dass bei den
Wilden noch weniger Geist und Kultur vererbt wurde als zuvor. Als wäre das
nicht genug, wurden zudem von der Kirche und der Inquisition mit äußerster
Sorgfalt alle die sonstigen freiesten und kühnsten Geister als wertvollste
Menschen, die als Zweifler und Forschende allein den kulturellen Fortschritt
herbeiführen konnten, verfolgt und durch Feuertod oder Einkerkerung unschädlich
gemacht (vgl. Darwin 2002, 182). „Und trotzdem ist Europa in unvergleichlicher
Weise emporgestiegen“ (Darwin 2002, 182). Wie konnte das sein, da ja die
genannten Umstände gemäß dem Verständnis von Darwin über natürliche Selektion
und Vererbung hinsichtlich Geist und Kultur eher einen weiteren Rückfall der
Germanen usw. in noch größerer Wild- und Rohheit zur Folge haben müssten und
nicht einen unvergleichlichen Aufstieg von Geist und Kultur? Hatten also doch
übernatürliche Mächte hier die Hand im Spiel?
Die Auflösung
der evolutiven Deutung des menschlichen Geistes durch Konrad Lorenz
Im Sinne dieser
Auflösung der Meinungsverschiedenheit und des Problems zwischen Darwin und
Wallace hinsichtlich der Deutung des menschlichen Geistes ist Darwin dieser
Lösung schon sehr nahe, wenn er im Zusammenhang mit den alten Griechen leider
nur beiläufig erwähnt, dass die aufgestiegenen westlichen Völker Europas „auch
den Schriftwerken dieses hervorragenden Volkes viel verdanken“. Als mindestens
ebenso so hilfreich erweist sich jedoch der Einwand von Wallace, dass der große
Abstand zwischen den höchsten Tieren und den Menschen, ebenso wie manche andere
Entwicklungssprünge in der Evolution, nicht allein mit dem einfachen
Verständnis der natürlichen Selektion erklärt werden können. Doch die Annahme
von Wallace, dass dafür übernatürliche Ursachen verantwortlich seien, ist
falsch.
Die evolutive Entwicklung ist nicht gänzlich
gleichförmig abgelaufen, sondern sie besitzt Lorenz nach die Struktur eines
geschichteten Systems und darin ganz bestimmte, aber rein natürliche Gesetzmäßigkeiten.
Lorenz stützt sich hier auf den Philosophen Nicolai Hartmann, dem nach es „gewisse
Grundphänomene unüberbrückbarer Andersheit im Stufengange der Realgebilde“
gibt, wobei „eine phänomengerecht angelegte Kategorielehre diese Einschnitte
ebenso sehr berücksichtigen [muss] wie die Seinszusammenhänge, die über sie hinweggreifen“
(Lorenz 1987, 57). Diese Grundphänomene sind die vier großen Schichten des
evolutiven Seins: das Anorganische (Materie), das Organische (Pflanzen), das
Seelisch-Emotionale mitsamt des Raum-Bewusstseins (Tiere) und das Geistige
(Menschen). Weiter zitiert Lorenz dazu Hartmann: „So erhebt sich die organische
Natur über der anorganischen. Sie schwebt nicht frei für sich, sondern setzt
die Verhältnisse und Gesetzlichkeiten des Materiellen voraus; sie ruht auf
ihnen auf, wenn schon diese keineswegs ausreichen, das Lebendige auszumachen.
Ebenso bedingt ist seelisches Sein und Bewußtsein durch den tragenden Organismus,
an und mit dem allein es in der Welt auftritt. Und nicht anders bleiben die
großen geschichtlichen Erscheinungen des Geisteslebens an das Seelenleben der
Individuen gebunden, die seine jeweiligen Träger sind. Von Schicht zu Schicht,
über jeden Einschnitt hinweg, finden wir dasselbe Verhältnis des Aufruhens, der
Bedingtheit >von unten< her, und doch zugleich der Selbständigkeit des Aufruhenden
in seiner Eigengeformtheit und Eigengesetzlichkeit“ (Lorenz S. 57, 58).
Das Besondere dieser Eigengesetzlichkeit einer neuen
Schicht ist, dass „damit schlagartig völlig neue Systemeigenschaften
[entstehen], die vorher nicht, und zwar auch nicht in Andeutungen,
vorhanden gewesen waren“ (Lorenz 1987, 49). Lorenz veranschaulicht das als
Zusammenschalten einer Spule mit einem Kondensator, wodurch elektrische
Schwingungen entstehen, die weder in einer Spule noch einem Kondensator auch
nur ansatzweise zu finden sind. Gleiches gilt dann für die Entstehung von Leben
aus Materie oder (räumliches) Bewusstsein aus dem pflanzlichen Sein. Dieses
plötzliche, schlag- oder blitzartige Entstehen völlig neuer Eigenschaften, das
darin zunächst unwillkürlich als übernatürlicher Eingriff erscheint, umschreibt
Lorenz mit dem Begriff „Fulguration“ (lat. fulgur = Blitz).
Die
„Bedingtheit von unten her“ bedeutet, dass sich einerseits auch das Sein des
Menschen wie alles zuvor in der Evolution rein natürlich mit der Selektion
entwickelt hat. Doch dann wird bei dem Tier, aus dem sich schließlich der
Mensch entwickelt, etwas mehr und mehr ausgebaut, und zwar die auch schon bei
den Tieren vorhandene immer komplexere neuronale Verarbeitung der Sinneswahrnehmungen,
was darin schon Darwin sehr treffend folgendermaßen beschreibt. Er sieht das
Gehirn des Menschen als „wunderbare Maschine, die allen Arten von
Dingen und Eigenschaften Zeichen beilegt und Gedankenreihen wachruft, die
niemals durch bloße Sinneseindrücke entstehen könnten, oder, wenn dies der Fall
wäre, doch nicht weiter verfolgt werden könnten“ (Darwin 2002, 268), wobei
daraus „die höheren intellektuellen Fähigkeiten, wie das Schließen, Abstrahieren,
das Selbstbewußtsein usw., entstanden“ (Darwin 2002, 268).
Der Mensch abstrahiert
jedoch nicht nur seine Sinneswahrnehmungen, was als einfache neuronale Weiterverarbeitung
der Sinneswahrnehmungen auch schon Tiere vollbringen, sondern er kann diese
Abstraktionen als „Zeichen“ dann auch vollkommen unabhängig von den
Sinneswahrnehmungen systematisch mit einer den physischen Vorgängen analogen
Gesetzmäßigkeit oder »Logik« verwenden, also darin Dinge oder Situationen zunächst
nur abstrakt im Geiste durchspielen oder planen, neue Zusammenhänge herstellen
usw. (wobei wir diese rein natürlichen Vorgänge der neuronalen Abstraktionen
genauso als Geist empfinden, wie wir andere physiologische Vorgänge etwa als
Farbe, Geräusche oder Gerüche empfinden). Nur mit dieser neuen geistigen Fähigkeit
des Menschen konnte das Schaffen und der Gebrauch von Waffen, Werkzeugen,
Booten, Kleidung, des Anbaus von Pflanzen, der Haltung von Tieren usw.
verwirklicht und bis zum heutigen Stand immer weiter ausgebaut werden.
Darwin
erkennt zwar hier wie zitiert diese eigentliche Fähigkeit zur systematischen
Abstraktion beim Menschen, aber er erkennt darin leider nicht die völlig neue
Form des Seins und der Entwicklung und verleiht ihr nicht die Wertigkeit wie es
Lorenz und auch Wallace tun, wenn der letztere etwa zu der erstaunlichen neuen
Fähigkeit des Menschen feststellt, dass „'dort ein Instrument entwickelt [wurde],
das den Bedürfnissen seines Besitzers vorauseilt'“ (Eiseley 1959, 101), „an instrument beyond the needs of its
possessor“, wie es in dem Essay „The Limits of Natural Selection as Applied to
Man“ aus dem Jahre 1870 von Wallace heißt. Leider nimmt Wallace aber
wie gesagt angesichts dieser alles überragenden neuen Fähigkeiten einen
übernatürlichen Eingriff an. Wahrscheinlich verlegt sich Darwin
dadurch noch mehr auf Erklärungen der Gegenrichtung unter Betonung und
sozusagen »Verschluss« der bis dahin erkannten natürlichen Gesetzmäßigkeiten
und schließt sich sogar der Meinung von Huxley an, dem nach „es durchaus nicht
berechtigt [ist], den Menschen in eine besondere Ordnung zu stellen“ (Darwin
2002, 194).
Lorenz
ordnet dagegen später dieser Geburt des Geistes in dem Tier, aus dem sich
dadurch der Mensch entwickelt, ähnlich wie Wallace, nur auf rein natürliche
Weise, im konträren Gegensatz zu Darwin sogar dieselbe Bedeutung zu wie der
Entstehung des Organischen oder Lebendigen aus dem Anorganischen, also wie dem
Evolutionsprozess selbst, sozusagen als eine »Evolutionstheorie 2.0«. Lorenz
sagt so über diese beiden Ereignisse, bzw. wie er es nennt, „Fulgurationen“ als
blitzartiges Entstehen völlig neuer Eigenschaften: „Die Parallelen – fast
möchte man sagen: die Analogien -, die zwischen diesen beiden größten Fulgurationen
bestehen, die sich in der Geschichte unseres Planeten je ereignet haben, regen
zu tiefstem Nachdenken an“ (Lorenz 1987, 216). Lorenz erkennt im geistigen Sein
des Menschen nichts geringeres als eine verbesserte Neuerfindung dessen, was
Evolution ist, trägt und bedingt, nur jetzt plötzlich auf eine andere Weise,
wenn er sagt: „Während all der gewaltigen Epochen der Erdgeschichte, während deren
aus einem tief unter den Bakterien stehenden Vor-Lebewesen unsere
vormenschlichen Ahnen entstanden, waren es die Kettenmoleküle der Genome, denen
die Leistung anvertraut war, Wissen zu bewahren und es, mit diesem Pfunde
wuchernd, zu vermehren. Und nun tritt gegen Ende des Tertiärs urplötzlich ein
völlig anders geartetes organisches System auf den Plan, das sich unterfängt,
dasselbe zu leisten, nur schneller und besser. [...] Es ist daher keine
Übertreibung zu sagen, dass das geistige Leben des Menschen eine neue Art
von Leben sei“ (Lorenz 1987, 217).
Die von Lorenz genannten, zum tiefen Nachdenken anregenden Parallelen
oder Analogien bestehen darin, dass analog zum alten System auch in dem neuen,
geistigen System »Mutationen« stattfinden, nur ist das hier nichts anderes als
das Denken, d.h. auf dieser geistigen Ebene werden schon vor einer Handlung auf
der körperlichen Ebene verschiedene Lösungsmöglichkeiten eines Problems in den
von Darwin so treffend beschriebenen „Zeichen“, Abstraktionen oder Begriffen –
die in letzter Hinsicht wie bei den Mutationen rein zufällig entstehen -
durchgespielt, ausprobiert oder eben durchdacht. Es geschieht also hier auf der
geistigen Ebene vom grundlegenden Prinzip, Wesen oder Ziel des Evolutionswirkens
her genau dasselbe, was im alten System mit den Lebewesen selbst getan wird,
bis die beste, angepassteste und vernünftigste Lösung des Verhaltens
schließlich »selektiert« wird, sowohl vom Individuum als dann auch von der
Gesellschaft. Erst nach der »Selektion« findet im neuen geistigen System diese
Lösung ihre Anwendung im Handeln des Individuums, wird gleichzeitig im Gehirn
gespeichert und kann über die Sprache sekundenschnell an andere Individuen
weitergegeben und bei diesen angewendet und gespeichert werden.
Dabei erweisen sich diese Ideen, wie etwa als religiöse oder
politische Idee bzw. allgemein als die von Hartmann genannten „großen
geschichtlichen Erscheinungen des Geisteslebens“, letztlich genauso langlebig
und stabil wenn nicht sogar stabiler als die Informationen auf der Gen-Ebene,
denn auch die neuronalen Informationen werden tradiert. Beide Prozesse sind in
dieser Weise „einander in geheimnisvoller Weise ähnlich“, wie es Lorenz oben
zitiert treffend sagt und mit der Erkenntnis von Wallace hat sich hier
tatsächlich etwas entwickelt, was die Erfordernisse des ursprünglich animalischen
Wesens sozusagen auf ähnliche Weise übersteigt, wie das Leben die Erfordernisse
des materiellen Seins. In diesem Sinne hat der Mensch bis heute dieses geistige
Potential noch lange nicht ausgeschöpft, insbesondere dadurch nicht, indem er
seinen Lebenssinn weiterhin in eher animalischen Verhaltensweisen und Werten
sieht.
Dieses neue Vermögen bringt so nicht nur die Fähigkeit zur immer
diffizileren Herstellung von Werkzeugen, Waffen usw. hervor, sondern der Mensch
kann darüber auch sein sonstiges Verhalten ändern und anpassen (was eine
bestimmte Lockerung der angeborenen, instinkthaften Verhaltenssteuerung als
»Freiheit« voraussetzt). Die Anpassung eines Verhaltens, zu dem die genetische
Selektion viele Jahre unter großem Leid und Tod der dabei selektierten Wesen
benötigen würde, ist mit der neuen Fähigkeit im Idealfall innerhalb von Sekunden
auf geistige Weise und darin gleichzeitig durch die abstrakte, geistige
Lösungsfindung im wahrsten Sinne des Wortes sehr human zu bewerkstelligen. Das
ist, als das von Lorenz genannte „schneller und besser“, ein wahrer
Quantensprung hinsichtlich der Entwicklung, Änderung und Anpassung von
Verhaltensweisen, das darin völlig neue Arten des Verhaltens wie etwa im
Werkzeuggebrauch ermöglicht. Ohne die von Lorenz gefundene natürliche Erklärung
müsste das ansonsten tatsächlich wie ein übernatürlicher Eingriff erscheinen.
Diese geistigen Fähigkeiten verbinden die Mensch über die
Sprache auch untereinander bzw. in diesen geistigen Fähigkeiten kann sich der
Mensch mit anderen Individuen abstimmen und unter einer gemeinsamen Idee, wie
in der Religion oder etwa heute auch der Politik usw., zu einer geistigen Einheit
»zusammenschalten«. Es geschieht so das, was die Evolution analog dazu in Form
der Zellen, Individuen und Gruppen von Individuen als Rudel, Stämme usw. auf
genetische und physische Weise hervorgebracht hat, nun mit einer sich selbst erhaltenen
Systematik und Dynamik auf der geistigen Ebene. So wie ein Individuum auf der
körperlichen Ebene des Seins existiert, auch wenn seine Zellen dauernd erneuert
und ausgetauscht werden, so existiert eine Religion, eine politische Partei,
eine Gesellschaft als bestimmte Form des Zusammenlebens als Demokratie usw.,
auch wenn die sie tragenden Individuen mit der Zeit ausgetauscht werden. Im
Sinne des Leben definierenden Autopoiese-Begriffes (den in der Soziologie
Niklas Luhmann vertritt) als sich selbst erhaltene Organisation des Lebendigen
ist das nach den biologischen Zellen als 1. Ordnung, den Metazellen als 2.
Ordnung und nun auf der geistigen Ebene die 3., letzte und »höchste« Ordnung
des autopoietischen Systems.
Die Eigengesetzlichkeit dieses letzten autopoietischen
Systems zeigt sich konkret etwa darin, dass es bei den Mönchen in einer
Religion oder den in einem Krieg sterbenden Soldaten (aber auch außerhalb
dieser Extremfälle, wenn Menschen ihr Sein und ihren Lebenssinn irgendwie in
den Dienst eines geistig-kulturellen Seins oder einer Idee stellen) nicht mehr
um das bloße Sein und Überleben der Gruppe, des Individuums oder gar der Gene
auf der körperlichen Ebene geht, sondern um das neue geistige Phänomen der Idee
und Organisation einer Religion, Staatsform, eines Vereins usw. Darauf liegt in
diesen Fällen dann auch teilweise bis vollständig die Identität des zu Geist
und Kultur fähigen Individuums und das Wirken der dazu gehörenden weiteren und
aktuellen evolutiven Entwicklung. Leider kann der Mensch allgemein bis heute
jedoch nicht den natürlichen Zusammenhang zwischen der großen Besonderheit und
Eigengesetzlichkeit seines geistigen Seins mit der vorangegangenen Evolution
herstellen. Entweder sieht er hier wie Wallace übernatürliche Kräfte am Werk
oder er ignoriert wie schon Darwin bzw. die heutige Soziobiologie die Eigenart
des geistigen Seins und versteht es allein unter den Gesetzmäßigkeiten des
genetischen Seins.
Die
wirkenden Gesetzmäßigkeiten auf der neuen geistig-kulturellen Ebene
widersprechen oftmals direkt denen der genetischen Ebene, besonders wenn wie im
Fall der zölibatär lebenden Mönche einer viele verschiedene Völker umfassenden
Religion oder den sich opfernden Soldaten in einem Krieg zwischen großen, viele
Völker umfassenden verschiedenen Gesellschaftssystemen die Gen-Sequenzen dieser
Individuen dabei einfach aussterben oder ausselektiert werden, ohne irgendeinen
von der Soziobiologie postulierten genetischen Verwandtennutzen. Ohne
Berücksichtigung des neuen Nutzens und der neuen Lebensform auf der
geistig-kulturellen Ebene würde dieses Verhalten als sinnloser genetischer
Selbstmord und gänzlicher Widerspruch zu dem alten Gesetz der genetischen
Fitness erscheinen. Mensch-Sein bedeutet so vor allem Leben und Sein in dieser
neuen, jüngsten und geistig-kulturellen autopoietischen Ordnung und Seinsform,
auch wenn das weiterhin von den darunter liegenden Ordnungen oder Schichten
abhängig ist und viele Menschen in diesem aktuellen großen evolutiven Umbruch
weiterhin ihre Identität noch allein oder vorwiegend mit ihrer körperlichen
Erscheinung und dem entsprechenden materiellen Werten verbinden.
Der
krasse Kategorienfehler der heutigen Soziobiologie
Die Soziobiologie benutzt
die ältere Ethologie (die klassische vergleichende Verhaltensforschung) als
Grundlage, versucht jedoch stärker als diese über die Beschreibung des
Verhaltens hinauszugehen und die Mechanismen gesetzmäßig und u.a. auch
mathematisch nachzuvollziehen und so zu fassen, die beim sozialen Verhalten
wirken. Während in der klassischen Verhaltensforschung, wie sie etwa Konrad
Lorenz betrieben hat, die Selektion nicht nur am Individuum, sondern auch an
der Gruppe, der Population oder der Art wirkt, sieht die Soziobiologie das
Wirken der Selektion ausschließlich am Individuum (vgl. Voland 2013, 8). „In
individualselektionistischer Sicht sind Gruppen und Arten letztlich
Epiphänomene biologisch evolvierter individueller Lebens- und
Reproduktionsinteressen und nicht etwas genuine Angriffsfläche und
Modulliermasse der natürlichen Selektion. [...] Gruppendienliche Strategien [werden] »gen-egoistisch« aufgefasst“
(Voland 2013, 9).
Geist und Kultur werden in
der Soziobiologie nur als Imitation gedeutet, als ein „»imitiere die Erfolgreichen!«“ (Voland 2013, 216),
also die genetisch erfolgreichen, so dass „Kulturgeschichte begann, als das survival
of the fittest ein Imitation of the fittest ins Schlepptau nahm“
(Voland 2013, 216). „Diese Überlegungen stellen den Versuch dar, Kulturtheorien
konsequent an die »Theorie des egoistischen Gens« anzubinden“ (Voland 2013,
217), Menschen sind in diesem Verständnis nur „vergängliche »Überlebensmaschinen«“
der genetischen Programme (vgl. Voland 2013, 2). „Fazit: Wenn Menschen sozial konkurrieren,
konkurrieren sie zugleich um genetische Fitness“ (Voland 2013, 63). Nicht die
geistige Fitness ist hier für den Menschen als Fortgang der Entwicklung
relevant, sondern weiterhin wie bei den Tieren die genetische Fitness.
Bezeichnenderweise
kann die Soziobiologie jedoch nicht einmal eindeutig benennen, was sie dabei
eigentlich unter genetischer Fitness versteht. Voland schreibt dazu:
„Angesichts der Tatsache, dass »Fitness«, genauer »differenzielle Fitness«, die
zentrale Erklärungsformel der Evolutionstheorie ist und angesichts der
Tatsache, dass sich dieser Umstand in dem berühmt-berüchtigten Slogan vom survival
of the fittest geradezu schlagwortartig verdichtet hat, was theoretische
Klarheit suggeriert, darf man schon überrascht sein, wenn Experten kleinlaut
zugestehen müssen, dass der empirisch-quantitative Umgang mit dem Konzept
ausgesprochen sperrig ist. Nach wie vor ist unklar und deshalb höchst umstritten,
wie Fitness eigentlich zu messen sei (z. B. Hunt und Hodgson 2010)“ (Voland
2013, 7).
Bei
der Hinterfragung dieser zentralen Erklärungsformel der Soziobiologie erweist
sich auch eine andere Annahme als doch nicht so eindeutig und gesichert, wie
zunächst dargestellt. Die Soziobiologie hat axiomatisch festgelegt, dass die
Evolution nur am Individuum wirkt und nicht wie von der Verhaltensforschung
angenommen, auch an der Art oder der Gruppe. Zu dieser ihrer Festlegung heißt
es dann jedoch: „Die Gründe für diese Unsicherheit sind vielfältig und hängen
nicht zuletzt damit zusammen, dass mal Merkmalen, mal Individuen und mal
Allelen eine Fitness zugeschrieben wird“ (Voland 2013, 7).
Bei
diesen Unsicherheiten verfällt man auf folgende pragmatische und auf den ersten
Blick scheinbar sehr einleuchtende und leicht erkennbare Lösung: „Vor allem aber
ist der wissenschaftstheoretische Status von Fitness nicht eindeutig geklärt.
Handelt es sich dabei um eine messbare Eigenschaft (was wir weiter oben
verworfen haben), ein Wahrscheinlichkeitsmaß für zukünftigen Lebens- und
Reproduktionserfolg oder um eine Relation? Als pragmatische Reaktion auf diese
unbefriedigende Sachlage verzichten viele Soziobiologen darauf, Fitness messen
zu wollen. Stattdessen bemühen sie sich um empirische Kenngrößen, von denen
angenommen werden kann, dass sie gute Schätzer für Fitness abgeben. Häufig geht
es um den Lebensreproduktionserfolg von Individuen, also um die Frage, wie
viele überlebende Nachkommen jemand hinterlassen hat“ (Voland 2013, 7).
Das
Maß dafür, wie erfolgreich oder eben fit der Mensch ist, wird also einfach an
der Anzahl seiner Nachkommen festgemacht, je mehr Kinder ein Mensch hat, umso
erfolgreicher ist er im soziobiologischen Verständnis, wobei Geist nur als
Imitation des genetisch Fitten und Erfogreichen verstanden wird. Wie schnell
diese Annahme in eine Sackgasse führt, erkennt dann Voland selbst an einem
konkreten Beispiel. Dazu stellt er zunächst fest: „Der in allen daraufhin
untersuchten historischen und traditionellen Gesellschaften regelmäßig
gefundene überdurchschnittliche Reproduktionserfolg sozial erfolgreicher Männer
gründet ganz wesentlich auf dem, was man ihren Paarungserfolg nennen
kann, und dies wiederum ist Ausfluss weiblicher Partnerwahl-Präferenzen (vergl.
Abschn. 3.1)“ (Voland 2013, 61). Zweifellos ist diese Feststellung hinsichtlich
der historischen und traditionellen Gesellschaften richtig, ja er ist
kennzeichnend schon für das animalische Sein, bei dem sich gemäß den dort
herrschenden Bedingungen nur die körperlich Stärksten fortpflanzen. Diese als
Gesetzmäßigkeit der früheren genetischen Evolution anzusehende Regel der
Reproduktion des sozial Stärksten wird in der Soziobiologie entsprechend ihrem
gen-zentrierten Ansatz wie selbstverständlich auf den Menschen übertragen.
Allerdings
macht die Verhütung hier der Soziobiologie einen Strich durch die Rechnung.
Voland sagt dazu: „Perfekte Verhütung verhindert möglicherweise, dass
heutzutage erfolgreiche Männer tatsächlich mehr Kinder zeugen, obwohl sie - wie
ihre geschichtlichen Vorgänger - häufiger sexuellen Kontakt zu mehr
Partnerinnen haben (Abb. 2.17). Die evolvierten Mechanismen der
Verhaltenssteuerung sind also nach wie vor verhaltensbestimmend, lediglich
ihre Fitnessvorteile, wegen derer sie evolviert sind, haben sich möglicherweise
verflüchtigt“ (Voland 2013, 61), so dass dieses Verhalten „unter den
Bedingungen der modernen Industriegesellschaft […] anders als in den
historischen Milieus möglicherweise keine Fitnessunterschiede mehr nach sich
zieht“ (Voland 2013, 61). Voland findet aber eine Untersuchung, die die Theorie
der Soziobiologie doch noch bestätigt, nämlich die männlichen, ausdrücklich
nicht die weiblichen, Beschäftigten der Universität Wien, deren Kinderzahl mit
dem Einkommen steigt (vgl. Voland 2013, 61), so dass hierin das
soziobiologische Gesetz, dem nach sozial erfolgreiche Individuen auch beim
Menschen genetischer fitter sind und dadurch mehr Kinder zeugen, scheinbar
erhalten bleibt. Dass das nur eine Ausnahme sein könnte, da der allgemeine
Trend dahin geht, dass gerade sozial erfolgreiche Individuen in der modernen
Gesellschaft in der Regel weniger Kinder haben als die sogenannte Unterschicht,
wodurch sich nicht nur möglicherweise die Theorie der genetischen Fitness
verflüchtigt, darauf geht Vollmer nicht näher ein. Das ist schade, denn dieser
empirische Widerspruch würde zu der Erkenntnis führen, dass der Ansatz der
Soziobiologie hinsichtlich des Menschen falsch ist.
Die
grundlegende Erkenntnis von Konrad Lorenz, dass Geist beim Menschen eine völlig
neue Art des Lebens und der Evolution ist, und dass von daher die Genetik und
die Anzahl der Kinder beim Menschen und seiner weiteren evolutiven Entwicklung
gar keine Rolle mehr spielen, dass statt genetischer Fitness vielmehr die geistige
Fitness gefragt ist, das kann in der Soziobiologie entsprechend ihrem Ansatz
keine Beachtung finden. Das exklusiv und grundlegend Besondere des menschlichen
Seins in der Evolution hat die Soziobiolgie im Gegensatz zu Lorenz nicht
erkannt. Sie hält damit genau wie Darwin im Fall des Menschen an alten
Erkenntnissen und Gesetzmäßigkeiten fest, die zwar für die genetische Evolution
der Tiere gelten, aber nicht mehr für das eigentlich menschliche Sein in seiner
weiteren geistigen Entwicklung. Hierbei ist noch zu bedenken, dass die
Reichsten und Mächtigsten, denen in der Soziobiologie mit ihrem Ansatz eine
hohe genetische Fitness zuschreibt, zwar den alten Maßstäben und Vorstellungen
von Stärke und Erfolg entsprechen, aber es sind darin nicht unbedingt auch die
Intelligentesten und Vernünftigsten. Es dürfte in der Regel vielmehr so sein,
dass es oft die Rücksichtslosesten und Machtgierigsten sind.
Bei
diesem Versuch die alten evolutiven Gesetze und Werte der Gen-Ebene auch in den
modernen Gesellschaften weiterhin als gültig darzustellen, fällt auf den ersten
Blick nicht so sehr auf, dass dabei der folgende von der Soziobiologie
angewandte Zusammenhang auch umgekehrt gilt: Hohes Einkommen oder hoher
sozialer Stand gleich genetische Fitness. Das heißt nichts anderes, als dass
hohes Einkommen oder hoher sozialer Stand als genetisch verursacht und begründet
angesehen werden und nicht als geistig-kulturell. Das ist dann nichts anderes
als ein biologistischer Determinismus oder anders ausgedrückt, es ist ein
klarer Sozialdarwinismus, auf dem letztlich etwa auch der Rassismus gründet.
Auch wenn solche Zusammenhänge bestritten werden, allein die »Brille« oder die
verwendeten Maßstäbe und Gesetzmäßigkeiten, unter denen das menschliche Sein
hierbei gesehen und bewertet wird, führen immer wieder in diese Richtung und zu
diesen fatalen Resultaten.
In
diesem Sinne ist daher auch die folgende Aussage von Voland kritisch zu sehen:
„Elterliches Vermögen, Kinder sozial vorteilhaft und mit guten eigenen
Reproduktionschancen versehen sozial zu platzieren, ist gerade auch unter den
modernen Lebensbedingungen von ganz wesentlicher Bedeutung für die genetische
Fitness“ (Voland 2013, 60). Mit dem gen-zentrierten Ansatz der Soziobiologie
kann das nur bedeuten, dass die fitten oder guten Gene der hohen sozialen
Schicht, sich zeigend durch hohes Einkommen, großen Reichtum und (eine mehr
oder weniger zutreffend damit verbundene) hohe Intelligenz, durch geeignete
Maßnahmen in ihrer hohen genetischen Fitness gegenüber den schlechteren Genen
der Unterschicht zu bewahren sind, eben wie zu früheren Zeiten (der Stände und
des Adels) durch eine möglichst große und reine genetische Reproduktion der
guten und fitten Gene als sozial vorteilhafte Platzierung. Hohes Einkommen,
großer Reichtum, hoher sozialer Stand und große Reproduktion sind die
alleinigen Maßstäbe, an denen die Soziobiologie die genetische Fitness misst,
sich orientiert und die weitere Entwicklung des Menschen festmacht.
Es
gilt so die Vorstellung, dass der Erfolg letztlich durch die Gene naturgegeben
und in diesem Sinne auch absolut ist, d.h. daran sollte möglichst nichts
geändert werden, ja daran kann in diesem gen-zentrierten Verständnis
geistig-kulturell direkt nichts geändert werden, schon weil das Geistige nur
als Imitation des eigentlich Relevanten angesehen wird. Dieses Verständnis
entspricht zwar der Wunschvorstellung vieler Menschen, die so ihren sozialen
Vorteil möglichst überzeugend und absolut begründen und absichern wollen, doch
wie Untersuchungen etwa zur weitergehenden Schulwahl von Kindern zeigen,
entsprechen diese Wunschvorstellungen der betreffenden Eltern und auch der
Lehrer (!) nicht den tatsächlichen Gegebenheiten, also hier dem schulischen
Leistungsvermögen der Kinder.
Von
der Soziobiologie her abgeleitet würde hier gelten: Die Kinder der höheren
sozialen Schicht sind die genetisch fitteren und da an dieser genetischen
Festlegung individuell und geistig-kulturell nichts verändert werden kann oder
soll, sollte diese genetische Fitness dadurch erhalten und gepflegt werden,
indem die genetisch fitteren Kinder die ihrer genetischen Fitness entsprechende
bessere Ausbildung erhalten und die genetisch nicht so fitten Kinder eine ihrer
genetisch bedingten Herkunft und ihrer späteren Rolle in der Gesellschaft
entsprechende einfachere Bildung. Der eigentlich zur geistig-kulturellen
Weiterentwicklung nötige und sinnvolle Wettstreit auf der geistig-kulturellen
Ebene wird so aufgrund von Wertungen ausgehebelt, die darin ganz dem
gen-zentrierten Ansatz nach noch der animalischen Rangordnung und dem
animalischen Recht des Stärkeren entsprechen. Mit ihrem gen-zentrierten Ansatz
versucht die Soziobiologie diese rückständigen gesellschaftlichen Zustände zu
erhalten, zu rechtfertigen und wissenschaftlich zu untermauern.
Wo
liegt hier der eigentliche Missstand und Fehler? Dem nähert man sich anhand
folgender Aussage von Voland: „Vor diesem Hintergrund wird das eigentliche
Problem der sogenannten »nature/nurture-Debatte« sichtbar: die
unter manchen Biologen und Kulturwissenschaftlern gleichermaßen weit
verbreitete Auffassung, wonach »Sozialisation« oder »Kultur« Alternativen zur
evolutiven Erklärung menschlichen Verhaltens sein sollen, beruht schlichtweg
auf einem Kategorienfehler“ (Voland 2013, 215). „Die
Auffassung von der gen-zentrierten Wirkweise der biologischen Evolution steht
in krassem Widerspruch zu Vorstellung, wie sie zuvor in der Verhaltensforschung
vorgeherrscht haben“ (Voland 2013, 8). Liegt der Kategorienfehler wirklich in
der Verhaltensforschung oder nicht eher in der Soziobiologie?
Der
Widerspruch zu dem Verständnis der vergleichenden Verhaltensforschung und hier
besonders zu Konrad Lorenz ist tatsächlich krass und immens. Im Rahmen seiner
Theorie der geschichteten Systeme kritisiertLorenz illegale Grenzüberschreitungen darin (vgl. Lorenz 1987, 60), die
„böse in die Irre führen“ (Lorenz 1987, 61). Weiter sagt er dazu: „Wir
verstehen genau, warum es unmöglich ist, die Eigenschaften des höher integrierten
Systems aus denen des niedrigeren zu deduzieren (s. S. 55) [etwa Leben aus
anorganischer Materie], und ebenso, warum es blanker Unsinn ist bei den
einzelnen Untersystemen einer Ganzheit oder bei einfacheren Vorfahren höherer
Lebewesen nach Eigenschaften und Leistungen zu fahnden ‑ geschweige denn solche
zu postulieren ‑, die erst mit dem schöpferischen Akt höherer Integration in
Existenz getreten sind“ (Lorenz 2013, 61).
Als
Beispiel einer solchen Grenzüberschreitung führt Lorenz das einst von dem
Chemiker Weidel einem Eisenatom zugeschriebene subjektive Erleben an (vgl.
Lorenz 1987, 60), aber dieser Fall liegt auch vor, wenn einem Gen ein
egoistisches Verhalten zugeschrieben wird. In diesem gen-zentrierten
Verständnis ist der Mensch mit seinem Geist und seiner Kultur, wie es die
Soziobiologie ja auch konkret aussagt, nur ein ins „Schlepptau“ genommenes
Epiphänomen, eine Begleiterscheinung oder ein Erfüllungsgehilfe der genetischen
Programme. Es wäre dasgleiche, als würden wir davon ausgehen, dass nicht ein
Dichter seinen Text erschafft, sondern dass die egoistischen oder intelligenten
Buchstaben des Textes die eigentlich Handelnden sind, wobei der Mensch als Dichter
nur ein Epiphänomen der Buchstaben ist, um diese zu verbreiten. Das menschliche
Interagieren spielt sich jedoch auf der Ebene des Geistes ab und auf diese
Ebene gehören dann auch die entsprechenden Eigenschaften und Beschreibungen
dieses Verhaltens. Die Gene spielen dabei eine ähnlich untergeordnete Rolle wie
allgemein das Körperliche oder Materielle, d.h. die Übertragung von Elementen,
Beschreibungen oder Eigenschaften der geistigen Ebene oder Schicht auf die
darunterliegende ist der eigentliche Kategorienfehler, den jedoch die
Soziobiologie auch mit ihrem auf den Menschen angewandten gen-zentrierten
Ansatz begeht. Gerade das geschichtete System verdeutlicht diesen
Kategorienfehler als unzulässige Überschreitung dieser Schichten mit ihren
eigenständigen Gesetzmäßigkeiten.
Die
Grundlage und der Anfang dieses Kategorienfehlers liegt dabei in der
sogenannten Verwandtenselektion, die auf William D. Hamilton zurückgeht.
Zwischen den Verwandten gibt es ein altruistisches Verhalten, das zwischen
Familienmitgliedern oder Verwandten dabei ausgeprägter als in der restlichen
Gemeinschaft wirkt und am stärksten ist es in der Mutter-Kind-Beziehung
vorhanden. Die Selektion hat also in den menschlichen Gemeinschaften ein
Verhalten hervorgebracht, das näherungsweise mit dem genetischen
Verwandtschaftsgrad korreliert und sich so im bestimmten Umfang auch
mathematisch erfassen lässt.
Dieser
spezielle Umstand in der Struktur und dem Verhalten in einer Gemeinschaft wird
dann jedoch von der Soziobiologie nicht als eine nur unter bestimmten
Bedingungen gültige, relative Regel- oder Gesetzmäßigkeit verstanden, sondern
zu einem absoluten Gesetz und gar zur „zentralen Erklärungsformel“ der
Evolution erhoben, so als könnte man damit das gesamte Evolutionsgeschehen in
einer einzigen mathematischen Formel fassen. Demnach gibt es keinen wirklichen
Altruismus, sondern ein altruistisch erscheinendes Verhalten, wie das der
Mutterliebe oder das von Individuen, die ihren Verwandten bei der Aufzucht der
Jungen helfen, ist gemäß den Vorstellungen der Soziobiologie stets ein
gen-egoistisches Verhalten, da dadurch ja die verwandten Gene reproduziert
werden. Der mathematischen Hamilton-Ungleichung nach breitet sich ein solches
Verhalten nur dann aus, wenn die Bedingungen dieser Formel erfüllt sind (vgl.
Voland 2013, 4-5). Daraus folgt: „Die durch die eigene Fortpflanzung erreichte
Fitness nennt man direkte Fitness (oder »Darwin-Fitness«), die durch Verwandtenunterstützung
erreichte indirekte Fitness. Die Summe aus beiden ist die Gesamtfitness“
(Voland 2013, 6). Ausgehend von dieser Formel wird dann versucht, das gesamte
Sozialverhalten und Sein des Menschen damit zu erklären.
In
der vergleichenden Verhaltensforschung ist die Selektion dagegen nicht einem
absoluten mathematischen Gesetz oder Zweck unterworfen, genausowenig wie sie
zielgerichtet ist. In dem Verständnis der Verhaltensforschung hat die Evolution
zwar die Regel- und scheinbar absolute Gesetzmäßigkeit des mit der genetischen
Verwandtschaft korrelierten Verhaltens des Altruismus hervorgebracht, aber nur
aufgrund speziell herrschender Lebensbedingungen und nur soweit, wie diese
Bedingungen herrschen. Unter geänderten Bedingungen, wie sie dann auf der
geistig-kulturellen Ebene des Menschen gegeben sind, gilt dieser Zusammenhang
nicht mehr, d.h. der Altruismus etwa der Freundschaft, Kollegialität,
Kameradschaft usw. hat nichts mehr mit der Hamilton-Formel oder einer differenziellen
genetischen Fitness als scheinbar „zentrale Erklärungsformel der Evolutionstheorie“
zu tun.
Bemerkenswert
und bezeichnend ist, dass kein Geringerer als der Namensgeber der Soziobiolgie,
Edward O. Wilson, zwischenzeitlich gänzlich von der Gesamtfitness-Theorie als
der auf der Hamilton-Formel gründenden Verwandtenselektion abgerückt ist.
Wilson hält diesen von Voland weiterhin als „zentrale Erklärungsformel der
Evolutionstheorie“ (Voland 2013, 7) angesehenen Ansatz für einen Irrtum und
groben Methodenfehler in der Forschung. Wilson schreibt dazu: „Schlimmer noch:
Der Glaube an die vermeintliche Schlüsselrolle der Verwandtschaft bei der
sozialen Evolution hat uns dazu geführt, dass die normale Reihenfolge
biologischer Forschung umgekehrt wurde. In der Evolutionstheorie wie in den
meisten Naturwissenschaften ist es erwiesenermaßen die beste Methode, ein
Problem zu definieren, das sich aus der empirischen Forschung ergibt, und dann
die geeignete Theorie zu seiner Lösung auszuarbeiten. Bei der
Gesamtfitness-Theorie ist fast die gesamte Forschung umgekehrt verlaufen: Erst
wurde hypothetisch die zentrale Rolle der Verwandtschaft und der Verwandtenselektion
festgelegt, dann wurde nach Beweisen gesucht, die diese Hypothese belegen
sollten“ (Wilson 2013, 213).
Weiter
sagt er in vernichtender Weise dazu: „Das alte Paradigma der sozialen
Evolution, das nach vier Jahrzehnten fast schon Heiligenstatus genießt, ist
damit gescheitert. Seine Argumentation von der Verwandtenselektion als Prozess
über Hamiltons Ungleichung als Bedingung für Kooperation bis zur Gesamtfitness
als darwinschem Status der Koloniemitglieder funktioniert nicht. Wenn es bei
Tieren überhaupt zur Verwandtenselektion kommt, dann nur bei einer schwachen
Form der Selektion, die ausschließlich unter leicht verletzbaren
Sonderbedingungen auftritt. Als Gegenstand einer allgemeinen Theorie ist die
Gesamtfitness ein trügerisches mathematisches Konstrukt; unter keinen Umständen
lässt es sich so fassen, dass es wirkliche biologische Bedeutung erhält. Auch
für den Nachvollzug der Evolutionsdynamik genetisch bedingter sozialer Systeme
ist es unbrauchbar“ (Wilson 2013, 221-222).
Die durch die Eigenständigkeit des geistigen Lebens bedingte
zweigeteilte Natur des Menschen und die dadurch geprägte Entwicklung
In der Erkenntnis
von Konrad Lorenz mit seinem »geist-zentrierten« Ansatz heißt die völlig „neue
Art von Leben“ ganz nach der Schichtung des Seins ein Verhältnis des Aufruhens,
der Bedingtheit >von unten< her, und doch zugleich „der Selbständigkeit
des Aufruhenden in seiner Eigengeformtheit und Eigengesetzlichkeit“. Das Wirken
dieser Eigengesetzlichkeit des geistigen Lebens lässt sich u.a. schon in einer
Erkenntnis von Darwin wiederfinden, die ihn in seinem »alten Denken« der
genetischen Gesetzmäßigkeiten sehr verwundert, auf der in diesem alten Denken
letztlich der Sozialdarwinismus gründet und die von Vielen bis heute als problematisch
gesehen wird. Darwin bemerkte:„Unter den Wilden werden die an Körper und Geist
Schwachen bald eliminiert; die Überlebenden sind gewöhnlich von kräftigster
Gesundheit. Wir zivilisierten Menschen dagegen tun alles mögliche, um diese
Ausscheidung zu verhindern. Wir erbauen Heime für Idioten, Krüppel und Kranke.
Wir erlassen Armengesetze, und unsere Ärzte bieten alle Geschicklichkeit auf,
um das Leben der Kranken so lange als möglich zu erhalten. Wir können wohl
annehmen, daß durch die Impfung Tausende geschützt werden, die sonst wegen
ihrer schwachen Widerstandskraft den Blattern zum Opfer fallen würden.
Infolgedessen können auch die schwachen Individuen der zivilisierten Völker
ihre Art fortpflanzen. Niemand, der etwas von der Zucht von Haustieren kennt,
wird daran zweifeln, daß dies äußerst nachteilig für die Rasse ist. Es ist überraschend,
wie bald Mangel an Sorgfalt, oder auch übel angebrachte Sorgfalt, zur
Degeneration einer domestizierten Rasse führt; ausgenommen im Falle des
Menschen selbst wird auch niemand so töricht sein, seinen schlechtesten Tieren
die Fortpflanzung zu gestatten“ (Darwin 2002, 171-172).
Darwin erkennt in
diesem Zitat die hinderlichen bzw. der alten genetischen Gesetzmäßigkeit
widersprechenden Eigenschaften der neuen gesellschaftlichen Bedingungen, die
durch die geistig-kulturelle Entwicklung geschaffenen wurden. Aber er erkennt
leider nicht wie Lorenz das Neue beim Menschen in seiner Wirksamkeit, Systematik
und den neuen Gesetzmäßigkeiten, oder er will es nicht erkennen, aus Angst
davor, es in dieser großen, den genetischen Gesetzen und der Vererbung
widersprechenden Wirkmächtigkeit nicht auf natürliche Weise erklären zu können.
So hält er weiter und verstärkt an dem fest, das wir mit dem heutigen Begriff
»genetische Fitness« benennen.
Eine dieser neuen
Gesetzmäßigkeiten besteht in der Konsequenz des vorangegangenen Darwin-Zitats
darin, dass die geistige Evolution nicht nur die Lebensweise beim Menschen
völlig neu bestimmt hat (Sesshaftigkeit, größere Gemeinschaften, Handwerk und
Technik, weniger gewalttätige Problemlösungen), sondern dabei auch den alten
Evolutionsmechanismus außer Kraft gesetzt hat. Es gibt zwar noch Mutationen auf
der Gen-Ebene, aber, wie es das Darwin-Zitat klar beschreibt, keine Selektion
mehr. Auch die letzte große Steigerung der genetischen Fitness, die durch die
Viehwirtschaft bedingte Laktosetoleranz bei Erwachsenen, konnte sich letztlich
nur dadurch verbreiten, dass diejenigen, die diese Genmutation nicht aufwiesen,
zur Weitergabe ihrer Gene geringere Chancen besaßen. Diese durch Leid oder Tod
bedingten geringeren Chancen gibt es heute jedoch so gut wie nicht mehr, d.h.
jede Genmutation, egal ob passend oder unpassend, besitzt in den modernen Gesellschaften
dieselben Chancen dazu, sich genetisch zu verbreiten. Mit anderen Worten, in
den modernen Gesellschaften hätte sich die Genmutation der Laktosetoleranz
nicht verbreiten können, da ja auch diejenigen Menschen, die diese Genmutation
nicht besitzen, sich heute gleichermaßen fortpflanzen können und diese Genmutation
damit keinerlei Einfluss auf die Fortpflanzung besitzt. Grundsätzlich gilt das
in den modernen Gesellschaften wegen der fehlenden Selektion für alle
Genmutationen, so dass damit der »alte Motor« der evolutiven Entwicklung beim
Menschen außer Kraft gesetzt ist, was sich jedoch, wegen der Langsamkeit der
genetischen Weiterentwicklung, in unserer Wahrnehmung nicht groß bemerkbar
macht. Außerdem kann es nur insoweit als Mangel oder „Torheit“ verstanden
werden, wie nicht die an diese Stelle getretene neue Art der geistigen evolutiven
Entwicklung gesehen wird.
Wie sehr Darwin mit
seinem »alten« Verständnis der Evolution und Entwicklung beim Menschen daneben
gelegen hat, wird nicht nur an seiner Verwunderung in dem zuletzt angeführten
Zitat deutlich, sondern auch an dem schon genannten Beispiel der Kultivierung
der westlichen Völker Europas, das Darwin als „dunkles Rätsel“ sieht. Darwin
versucht diesen Fortschritt als Wirken des menschlichen Geistes und als weitere
Entwicklung von Kultur allein mit den von ihm erkannten Gesetzmäßigkeiten der
evolutiven Entstehung der Arten und damit über die Vererbung zu erklären. Eine
moderne Erkenntnis zur Genetik liefert dabei zunächst die Grundlage zur
Aufklärung des Rätsels und Irrtums von Darwin. Der Bioinformatiker
Steffen Schmidt vom Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie bringt diese
moderne Erkenntnis der Genetik auf den Punkt, wenn er sagt: „Die Variabilität,
die wir innerhalb des menschlichen Genpools haben, ist bei Europäern,
Afrikanern und Australiern gleich. Es sind nur geringe Unterschiede, die über
unsere Hautfarbe entscheiden. Die Variabilität kann innerhalb einer
Bevölkerungsgruppe größer sein als zwischen verschiedenen. Ein Beispiel: Nimmt
man zwei Individuen aus Japan und vergleicht sie mit einem Australier, kann es
sein, dass der Japaner dem Australier ähnlicher ist als dem anderen Japaner.“
Das erklärt sich aus dem
relativ jungen gemeinsamen Ursprung aller heute auf der Erde lebenden Menschen
(ca. 130.000 Jahre), und einer Besiedlungsgeschichte der einzelnen Erdteile
beginnend vor 15.000 – 50.000 Jahre, die sich auf eine sehr kleine Gruppe von
Auswanderern aus Afrika zurückführen lässt. Alle heute lebenden etwa 7
Milliarden Menschen lassen sich also auf eine kleine Gruppe von wenigen hundert
Individuen zurückführen. Genetisch hat es seither nur geringe Veränderungen
gegeben wie die der Hautfarbe, der Laktoseverträglichkeit usw. Es hat dagegen
keine größeren Veränderungen gegeben wie etwa die der durchschnittlichen
Intelligenz eines Volkes, so dass wir heute irgendein menschliches Volk als
weniger intelligent oder gar als Zwischenwesen zu den Affen einstufen könnten.
Die genetische Grundlage oder Fitness zu dem, was der durchschnittlichen
Intelligenz des Menschen zugrundeliegt, hat sich in den letzten 130.000 Jahren
nicht geändert.
Mit dieser neuen Erkenntnis
lässt sich das von Darwin angeführte „dunkle Rätsel des Erwachens der europäischen
Völker aus dem Dunkel des Mittelalters“ leicht und vollständig auflösen. Die
vererbte oder genetische Grundlage der geistig und kulturell hochstehenden
alten Griechen gegenüber den noch wilden und barbarischen germanischen Völkern
spielte bei dieser Kultivierung überhaupt keine Rolle, weil die genetische
Grundlage beider Völker (abgesehen von geringfügigen, äußerlich sich zeigenden
Unterschieden) dabei als gleich und unverändert anzusehen ist! Das, was bei
dieser Kultivierung die entscheidende Rolle spielte, hat Darwin nur beiläufig
erwähnt, nämlich dass die aufgestiegenen westlichen Völker Europas „auch den
Schriftwerken dieses hervorragenden Volkes viel verdanken“. Nur darin »zündete«
der neue »Motor« der geistig-kulturellen Entwicklung mit seinen
Eigengesetzlichkeiten bei den „wilden Völkern“ Europas sozusagen eine neue, von
den alten Griechen schon erreichte Stufe, und zwar nicht über die Vererbung
(oder eine „genetischen Fitness“), wie von Darwin (bzw. der heutigen
Soziobiologie) angenommen und vergeblich zu begründen versucht, sondern allein
über die geistig-kulturelle Ebene mit der dort möglichen Schnelligkeit und
Wirkmächtigkeit. Im Grunde ist es damit vergleichbar, als würde ein Kleinkind
der Wilden bei den alten Griechen großgezogen. Die Schnelligkeit und
Wirkmächtigkeit dieses Prozesses, der dann besonders in der technischen
Entwicklung schnell über den Stand der alten Griechen hinausging, konnte selbst
die Kirche im Mittelalter nicht verhindern, die einerseits mit ihren Klöstern
erst für die Verbreitung des alten Wissens sorgte und dann mit der Inquisition
verzweifelt das »Feuer« des Geistes einzudämmen versuchte, das plötzlich an
vielen Stellen über den dogmatischen Rahmen ihrer Lehre hinausschlug.
In
der weiteren Entwicklung haben die neuen geistigen Fähigkeiten des Menschen
seit der Neuzeit zu einer beispiellosen insbesondere technischen Entwicklung
geführt, die nicht nur die Reise zum Mond ermöglicht, sondern etwa auch die
Entschlüsselung und die Manipulation des genetischen Codes, des Bauplans aller
Lebewesen einschließlich des Menschen. Den Menschen früherer Zeiten würde das
heutige Leben in den modernen Industriestaaten mit der medizinischen
Versorgung, der gesicherten Ernährung, den ganzen technischen Annehmlichkeiten
usw. als Paradies erscheinen.
Diese
entscheidende kulturelle Entwicklung des Menschen hat auch im sozialen
Verhalten ihren Niederschlag gefunden, den ganz ohne Evolutionstheorie schon
Schiller treffend und prägnant erfasst hat, wenn er über den Menschen schreibt:
„Von dem blinden Zwange des Zufalls und der Noth hat er sich unter die sanftere
Herrschaft der Verträge geflüchtet und die Freiheit des Raubthiers hingegeben,
um die edlere Freiheit des Menschen zu retten“
(Schiller 2006, 15). Weiter heißt es bei Schiller in seinen auch
evolutionstheoretisch interessanten Erkenntnissen: „Alle diese Fertigkeiten,
Kunsttriebe, Erfahrungen, alle diese Schöpfungen der Vernunft sind im Raume von
wenigen Jahrtausenden in dem Menschen angepflanzt und entwickelt worden; alle
diese Wunder der Kunst, diese Riesenwerke des Fleißes sind aus ihm
herausgerufen worden. Was weckte jene zum Leben, was lockte diese heraus?
Welche Zustände durchwanderte der Mensch, bis er von jenem Aeußersten zu diesem
Aeußersten, vom ungeselligen Höhlenbewohner – zum geistreichen Denker, zum
gebildeten Weltmann hinauf stieg?“ (Schiller 2006, 17).
Diese
Frage von Schiller ist auch jetzt noch in der Hinsicht von besonderem
Interesse, da dieser Prozess ja entgegen unserem subjektiven Empfinden noch
lange nicht abgeschlossen ist. Schon Schiller hat das erkannt, wenn er sagt:
„Wahr ist es, auch in unser Zeitalter haben sich noch manche barbarischen
Überreste aus den vorigen eingedrungen“ (Schiller 2006, 16). Das hat sich ca.
einhundert Jahre nach Schiller in den Katastrophen unseres letzten Jahrhunderts
mit einem Rückfall in die größte Barbarei eines Höhlenbewohners auf dramatische
Weise bestätigt.
Im
Sinne der geistig-kulturellen Weiterentwicklung ist angesichts dessen danach zu
fragen, wie das vor noch hundert Jahren allgegenwärtige barbarische Verhalten
gegenüber andersartigen Völkern, auch in den Ansichten vieler Intellektueller,
sich heute, zumindest in weiten Teilen der Gesellschaft, zu einem zivilisierten
Verhalten gewandelt hat, und ob auch heute noch „manche barbarischen Überreste
aus dem vorigen Zeitalter“ existieren. Hoimar von Ditfurth drückt diese Art der
Entwicklung und die Rückfälle dabei vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie
mit den Worten aus, dass wir uns noch in einem „Tier-Mensch-Übergangsfeld“ (v.
Ditfurth 1976, 263) befinden und das wahre Mensch-Sein noch lange nicht
erreicht haben. Wie lässt sich das auch als aktuelle und weitere Entwicklung
des Menschen von dem Ansatz der geschichteten Systeme her erklären, oder anders
ausgedrückt, was ist die Natur des Menschen?
Die
schon bei den Tieren vorhandene, immer weiter steigende neuronale Verarbeitung
der Sinneswahrnehmungen hat irgendwann, wie Konrad Lorenz es erkennt
„blitzartig“, das von Wallace genannte „Instrument“ der neuen
Systemeigenschaften oder der neuen geistigen Schicht ergeben, also das einer
eigenständig auf das Verhalten wirkenden Evolution auf dieser geistig-kulturellen
Ebene, das
nach Wallace „den Bedürfnissen seines Besitzers vorauseilt“. Doch das heißt nicht, dass damit wie in der
Vorstellung eines göttlichen Schöpfungsaktes der Mensch von einem Augenblick
zum anderen ein neues Wesen erhielt. Ganz im Gegenteil war am Anfang zunächst
die animalische Verhaltenssteuerung weiterhin allein relevant und bestimmend
für das menschliche Verhalten. Damit die neue Fähigkeit überhaupt wirksam
werden konnte, musste die alte, instintkbestimmte Verhaltenssteuerung aufgebrochen
oder gelockert werden, was der Mensch darin bis heute als Freiheit aber auch
als Unsicherheit und Bedrohung empfindet. Erst in diesen Lücken konnte sich die
neue geistige Fähigkeit langsam entwickeln und an Einfluss auf das Verhalten
des Menschen gewinnen. Dieses neue geistige System mit seiner eigenen
Gesetzmäßigkeit entwickelte sich seitdem mit einem langsamen, aber konstant
steigenden Einfluss im Sein und Verhalten des Menschen, vor allem in den zur
weiteren Entwicklung nötigen Auseinandersetzungen. Darwin erkennt das
hinsichtlich der Sittlichkeit, wenn sie „tatsächlich seit den frühesten Zeiträumen
der Menschengeschichte eine aufsteigende Linie verfolgt habe“ (Darwin
2002, 159).
Diese stetig steigende Linie der
weiteren geistig-kulturellen Entwicklung ist nicht im Sinne einer Teleologie
aufzufassen, sondern es ist einfach die Konsequenz aus dem erfolgreichen und
effektiven Verhalten, das sich aus den von Lorenz erkannten neuen, geistigen
Systemeigenschaften oder mit dem von Wallace genannten „Instrument“, das dem
Menschen plötzlich zur Verfügung stand, ergab. Dieses „Instrument“ ermöglichte
zuerst völlig neue Erfindungen, die damit zu einer anderen Lebensweise führten,
aufgrund dessen wiederum instinkthafte Verhaltensweisen unangepasst wurden, die
dann jedoch nur mit diesem neuen „Instrument“, also geistig-kulturell,
angepasst werden konnten usw. Dieses „Instrument“ eilte zwar den Bedürfnissen
des Menschen voraus, doch die unteren Schichten im menschlichen Sein mussten
dabei sozusagen »mitgeschleppt« werden (umgekehrt zum Verständnis der
Soziobiologie, bei der die genetische Entwicklung die geistige Entwicklung „in
Schlepptau nimmt“). Dabei wurde eine ganz neue Form der Evolution auf der
geistigen Ebene in Gang gesetzt, die sich zusammen und in Auseinandersetzung
mit dem vorhandenen animalischen Erbe aus sich selbst heraus immer weiter
entwickelte. Das bestimmt entscheidend die Natur des Menschen in seinem
Verhalten.
In
diesem geist-zentrierten Verständnis des menschlichen Seins und der menschlichen
Entwicklung spielt die genetische Weiterentwicklung beim Menschen überhaupt
keine Rolle mehr, ganz im Gegensatz zum soziobiologischen Verständnis mit
seinem Begriff der „genetischen Fitness“, bei dem eine eigenständige geistige
Entwicklung keine relevante Rolle spielt. Was allerdings auch im
geist-zentrierten Ansatz weiterhin mitspielt, sind die schon vorhandenen, durch
das alte System geschaffenen und genetisch verankerten Verhaltensweisen, wie
die Sexualität, die Fremdenfeindlichkeit oder das uralte Streben nach großer
Macht und großem Ansehen, um einen möglichst hohen Rang innerhalb des Rudels
oder der Gemeinschaft einzunehmen, usw. Diese Instinkte sind genetisch
verankert und können, wenn sie zu einem unangepassten Verhalten werden, mit dem
neuen geistigen System nicht eliminiert, sondern geistig-kulturell nur
überdeckt werden, so dass stets die Gefahr eines von Darwin genannten
„Rückschlags“ oder auch eines Irrwegs im Festhalten an einem zwischenzeitlich
unangepassten Instinkt besteht.
Die
Schicht der Instinkte und Emotionalität im menschlichen Sein ist als
animalisches Erbe mit der dazu gehörenden Gesetzmäßigkeit, etwa der
Lernunfähigkeit der Instinkte, darin weiterhin präsent und trotz einer völlig
anderen Funktionsweise, genetisch-emotional statt neuronal-geistig, sehr eng
mit der darüber liegenden geistigen Schicht zu einem einheitlichen Verhalten
hin verwoben. Weder kann die moderne Naturwissenschaft von den physiologischen
Vorgängen her die Anteile beider Schichten im Verhalten eines Menschen in den
genau Abgrenzungen auseinanderhalten, noch kann das der Mensch subjektiv in
seinem Bewusstsein (gröbere Zuweisungen sind dagegen schon möglich). Zwar sind
auch die materiell-körperliche Ebene und die vegetative Ebene weiterhin im
Menschen präsent, doch hinsichtlich seines Verhaltens und der nur darin
weitergehenden evolutiven Entwicklung spielen nur die beiden letzten Schichten
mit ihren teilweise verschiedenen Gesetzmäßigkeiten die entscheidende Rolle.
Der Mensch besitzt darin in seinem Verhalten eine gespaltene Natur. Maßgebend
für die weitere Entwicklung des Verhaltens in dieser Zweigeteiltheit ist jedoch
ausschließlich die Weiterentwicklung und Anpassung auf der geistig-kulturellen
Ebene und nicht mehr eine genetische Weiterentwicklung oder Anpassung als
„genetische Fitness“. Eine genetische Weiterentwicklung findet beim Menschen
nicht mehr statt.
In diesem stetigen
geistig-kulturellen Aufstieg wurden
schließlich immer mehr die Lebensbedingungen des Menschen geändert, was heute
im Leben der modernen Menschen, der mit Hilfe der Technik die Welt selbst bis
hin zu seinen eigenen Genen immer mehr verändert, einen neuen Höhepunkt
erreicht. In einem entsprechenden Ausmaß wurden und werden dabei alte
Instinktverhaltensweisen zu unangepassten Verhaltenweisen. Die daher nötigen
Anpassungen des Verhaltens geschahen zu früheren Zeiten zunächst zwar schon auf
geistig-kulturelle Weise, aber noch gänzlich indirekt und unbewusst durch die
Religionen mit Hilfe ihrer durch die neuen geistigen Fähigkeiten ermöglichten
übernatürlichen Vorstellungen allmächtiger »Rudelführer« mit ihren moralischen
Vorschriften, dann auch direkter und bewusster durch andere geistig-kulturelle
Einrichtungen wie Philosophie, Justiz, Politik, Naturwissenschaft usw.
Bis
heute geschieht dieser Prozess der Verhaltensanpassung jedoch noch nicht
vollständig direkt und bewusst, da dazu das (Selbst)Verständnis der rein
natürlichen Herkunft des Menschen und zusammenhängend damit das Bewusstsein
über sein animalisches Erbe und seine zweigeteilte Natur fehlen. Die weitere
evolutive Entwicklung mit all ihren Anpassungen und Umbrüchen versteht der
Mensch daher allein von seiner subjektiven, anthropozentrischen Sicht her. Das Erreichte
war für ihn immer schon da und das Weitergehende versteht er als sein eigenes
Wollen aufgrund für ihn feststehender überlieferter Werte. Bis heute geschehen
so die entscheidenden Änderungen und Weiterentwicklungen, und zwar wenn die
überlieferten und darin instinktgebundenen Werte nicht mehr passen, auf diese
Weise nicht aus der Vernunft heraus auf geistige Weise, sondern in der Regel
erst aus physischen Notwendigkeiten oder gar Katastrophen heraus.
Die beiden
Katastrophen des letzten Jahrhunderts, die nur deswegen möglich waren, weil
dabei bestimmte altvertraute Instinkte im Menschen angesprochen wurden, wie die
der Überhöhung des eigenen Volkes bei gleichzeitiger Diskriminierung und
gewaltsamen Unterjochung anderer Völker, sind Paradebeispiele für diese weitergehende
evolutive Entwicklung des Geistigen beim Menschen, jedoch eben leider
Paradebeispiele nicht in ihrer humanen, direkten und bewussten Form der
Anpassung, sondern ihrer eher animalischen Weise der Anpassung und
Weiterentwicklung. Der Mensch ist sich, im Gegensatz noch vor 100-200 Jahren,
zwar heute zumindest in weiten und den entscheidenden Teilen der Gesellschaft
darüber bewusst, dass der Rassismus aufgrund der dadurch geschehen Katastrophen
etwas »Böses« ist. Er hat aber bis heute nicht die tiefer liegenden evolutiven
Gesetzmäßigkeiten erkannt, die es ermöglicht hätten, dieses Verhalten schon im
Vorfeld als unangepasst zu erkennen und auf geistig-kulturelle Weise human
anzupassen und vor allem auch nachhaltig und umfassend zu überwinden.
Aus
einer evolutiven Perspektive und objektiv gesehen ist der Entwicklungsprozess
des Menschen als stetig aufsteigende Linie dadurch gekennzeichnet, dass sich
die spezielle evolutive Entwicklung beim Menschen mit all den dazu gehörigen
Auseinandersetzungen mehr und mehr auf die geistig-kulturelle Ebene verlagert,
trotz der vielen Rückschläge und Sackgassen, die einer nicht zielgerichteten
evolutiven Entwicklung zu eigen sind. Die Errungenschaft der Demokratie ist
hierbei der einsichtigste Beleg für diese Entwicklung, denn die Demokratie
definiert sich in dieser evolutiven Perspektive dadurch, dass die
Auseinandersetzungsform der »alten«, genetisch-animalischen Entwicklung, die
Gewalt, strikt ausgeschlossen wird. Die neuen Formen und Organisationen des
geistig-kulturellen Seins und die evolutiv wirksamen Auseinandersetzungen darum
finden so als weitere relevante evolutive Entwicklung beim Menschen
idealerweise nur noch auf der geistig-kulturellen Ebene mit den dort geltenden
Gesetzmäßigkeiten und Werten statt, also auf demokratische Weise mit der Eigenschaft
des Menschen, die sein menschliches Sein exklusiv erst bedingt und vom
animalischen Sein und Erbe in seiner gespaltenen Natur abhebt. Auch die
Menschenrechte lassen sich von dieser neuen Evolution des geistigen Seins her
deuten. Von diesem Ideal als umfassende Verwirklichung seines eigentlichen
Seins in seiner zweigeteilten Natur ist der Mensch, was die gewalttätigen
Auseinandersetzungen in der heutigen Welt beweisen, aber noch sehr weit
entfernt. Er ist sich nicht einmal darüber bewusst.
Heute wäre es im Sinne einer weiteren erfolgreichen
Evolution des Menschen mit den großen Potentialen des neuen „Instruments“ auf
der geistigen Ebene, d.h. einer zunehmenden geistigen Fitness und der weiter
aufsteigenden Linie von Geist und Kultur (in unseren menschlichen Begriffen
ausgedrückt) wünschenswert, vernünftig und im wahrsten Sinne des Wortes
humaner, die aktuellen und weiteren im fortdauernden evolutiven Prozess des
Menschen unangepasst werdenden Verhaltensweisen mit den
geistigen und vernünftigen Fähigkeiten schon im Vorfeld als solche zu erkennen
und so das menschliche Verhalten vorausschauend, direkt, elegant und bewusst
auf geistig-kulturelle und darin humane Weise anzupassen, statt erst über eine
durch unangepasst gewordene Verhaltensweisen verursachte Katastrophe auf der
physischen Ebene indirekt und unbewusst im Nachhinein wie bisher.
Das
Problem dabei ist, dass diese Prozesse, ähnlich wie etwa die
Kontinentalverschiebungen, außerhalb unseres subjektiven Wahrnehmens und
Erkennens liegen. Wir sehen diese Ereignisse und Entwicklungen aus der
anthropozentrischen Perspektive eines in einer gegebenen Welt real seienden und
aufgrund scheinbar unveränderlicher, emotional geprägter Werte selbst und
willentlich handelnden Subjekts und nicht aus der objektiveren Perspektive als
Weitergang der evolutionären Entwicklung, die auch dieses Subjekt und sein Erkenntnisvermögen
letztlich vollkommen hervorgebracht hat und weiterhin verändert. So war es zur
Zeit Darwins etwa selbst für die damalige Wissenschaft eine nicht hinterfragte
Selbstverständlichkeit, dass die außereuropäischen Völker minderwertig sind,
Darwin selbst geht ja davon aus. Dennoch ist gerade die Evolutionstheorie, wenn
sie gemäß Lorenz als geschichtetes System verstanden wird, ein sehr gutes
Werkzeug oder eine recht objektive »Brille« dazu, mit diesem Hilfsmittel das
wahrzunehmen, was schon Schiller in seinem abstrakten Denken nur mit seiner
Geschichts»brille« richtig erkannt hat.
Ein zukünftiger empirischer Prüfstein für den von Voland genannten
krassen Theorienwiderspruch zwischen Soziobiologie und Vergleichender
Verhaltensforschung
Die
evolutive Entwicklung beim Menschen ist nicht vor langer Zeit abgeschlossen
worden, wie es uns aus unserer subjektiven Sicht erscheint, sondern sie geht im
Gegenteil gerade mit nie dagewesener Dynamik und Dramatik weiter. Das lässt
sich mit Diagrammen auf einfache Weise veranschaulichen. Das Diagramm für die
Ausgangslage und die in der Evolution bis zum neuzeitlichen Menschen gültige
Entwicklung findet sich zunächst bei Voland, wobei dieses Diagramm mit folgender
Erläuterung von ihm versehen ist: „Jede Population hat das Potenzial zu exponentieller
Vermehrung. Natürliche Grenzen des Wachstums sorgen dafür, dass dennoch die
Populationsgrößen über die Zeit mehr oder weniger konstant bleiben“ (Voland
2013, 3). In diesem Diagramm stellt die durchgezogene Linie das im Grunde jeder
Art zur Verfügung stehende Potential des exponentiellen Wachstums dar, wobei
durch die natürlichen Grenzen dieses Wachstum jedoch stets mehr oder weniger
schnell in das tatsächliche der gestrichelt dargestellten Kurve übergeht, bei
der die Population mit gewissen Schwankungen konstant bleibt.
Das
Besondere und Dramatische der zu diesem Diagramm abweichenden heutigen
Entwicklung des Menschen und damit zugleich den Prüfstein der weiteren Entwicklung
liefert der Historiker Ian Morris. Er untersucht die Entwicklung der
menschlichen Gesellschaften seit der letzten Eiszeit und baut dabei zunächst
auf der schon zitierten Erkenntnis der modernen Genetikforschung auf, nämlich
dass zwar genau wie bei den Tieren offenkundig nicht alle Menschen (genetisch)
gleich sind, dass aber große Menschengruppen im Gegensatz zu den Individuen
alle ziemlich gleich sind (vgl. Morris 2011, S. 35). In der Konsequenz dessen
widerspricht er mit seinem Buch „Wer regiert die Welt?“ strikt denjenigen, „die
meinen, die westlichen Führungsrolle sei schon in ferner Vergangenheit
festgeschrieben worden“ (Morris 2011, 25). Morris wendet sich damit sozusagen
gegen die letzten Reste des vor ca. hundert Jahren auch in der Wissenschaft
noch allgegenwärtigen Rassismus. Nach Morris beruht die bis heute
andauernde Überlegenheit des Westens ausschließlich auf bestimmten Umweltbedingungen,
wie etwa den Vorteilen eines Binnenmeeres wie dem Mittelmeer als einfacher und
guter Transportweg, einer zur Verfügung stehenden großen Anzahl von
domestizierbaren Tieren und Pflanzen usw. Wie er schreibt reagieren allerdings
viele seiner Kollegen auf diesen Ansatz „wie der Stier auf ein rotes Tuch“
(Morris 2011, 38).
In seiner Beschreibung und Bewertung der
Entwicklung der menschlichen Gesellschaften seit der letzten Eiszeit bis heute
stößt Morris mit seinem neuen Ansatz auf eine für die weitere evolutive
Betrachtung des menschlichen Seins relevante Erkenntnis. Er schreibt, dass „wir
dazu verdammt [sind], in interessanten Zeiten zu leben“ (Morris 2011, S. 560)
und weiter: „Im 21. Jahrhundert verspricht – oder
droht – die gesellschaftliche Entwicklung so hoch zu steigen, dass sie auch den
Einfluss der natürlichen und sozialen Bedingungen verändern wird. Wir nähern
uns der größten Diskontinuität der Geschichte“ (Morris 2011, S. 567). Als Fazit
seiner Untersuchungen stellt Morris fest: „Neue Formen der Entwicklung
und der Zerstörung drohen nicht nur die geographische, sondern auch die
biologische und die soziologische Landschaft grundlegend zu verändern. Die
große Frage unserer Zeit stellt sich nicht danach, ob der Westen seine
Vormachtstellung auch weiterhin wird halten können, sondern danach, ob die
Menschheit insgesamt den Durchbruch zu einer vollkommen anderen Seinsweise
schafft, bevor uns die Katastrophe ereilt - und uns für immer erledigt“ (Morris
2011, 45). Der Evolutionsprozess der menschliche Entwicklung mit dem diese
Entwicklung begründenden neuen „Instrument“ des Geistes ist in dieser Hinsicht
nicht vor langer Zeit abgeschlossen worden, wie es uns subjektiv erscheint, die
Auseinandersetzungen darum bzw. der Höhepunkt dieser Entwicklung steht vielmehr
noch bevor.
Das
kann bildlich durch das folgende Diagramm der Entwicklung der Weltbevölkerung
während der letzten 3000 Jahre veranschaulicht werden. Bis zur Neuzeit
entspricht die Vermehrung des Menschen noch dem, was bisher gemäß dem Diagramm
von Voland in der Evolution galt. Doch mit der Neuzeit änderte sich das
radikal, der Anstieg der Population seit der Neuzeit ist extrem und eine wahre
Explosion (Quelle des Diagramms: Wikipedia unter „Bevölkerungsentwicklung“ vom
30.08.2013).
Auch
das folgende von Morris erstellte Diagramm der Energieausbeute pro Kopf seit
der letzten Eiszeit veranschaulicht in gleicher Weise die Explosivität der
heutigen Entwicklung (Morris 2011, 597).
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.