Erschienen in Ausgabe: No. 92 (10/2013) | Letzte Änderung: 27.09.13 |
von Karim Akerma
Mit dem zunächst einschüchternden Titel „L’art de
guillotiner les procréateurs“ (Die Kunst, die Erzeuger zu guillotinieren) legt
der belgische Philosoph Théophile de Giraud (*1968) ein gleichwohl
humanistisches Werk vor: ein für die Beendigung menschlicher Misere und
deswegen für die Einstellung menschlicher Fortpflanzung argumentierendes
Manifest. Worin sollte eine „Kunst, die Erzeuger zu guillotinieren“ bestehen?
Nun, de Girauds Werk, sein auf den Leser zugehender, geschmeidiger und
neologismenreicher Stil ist diese Kunst:
Das bislang nur in französischer Sprache vorliegende Buch richtet sich an eine
nach 100en Millionen Menschen umfassende Leserschaft: an Umweltschützer,
Globalisierungsgegner, vor allem aber an Menschen, die vor der ungeheuren
Entscheidung stehen, Menschen zu zeugen. Zugleich erfüllt das Buch die von
vielen anderen Autoren unerfüllten Wünsche der Literaturkritik, die sich nicht
selten in der Klage ergeht, es gebe keine kräftigen, engagierten, korrosiven
und revolutionären Texte mehr.
Der Autor darf sich als Humanist verstehen, da er für die Einstellung der
Fortpflanzung plädiert. Wer nicht für die Einstellung der Fortpflanzung
plädiert, verordnet den eigenen Kindern, als Element der Conditio humana,
dreierlei Schmerz: 1. Den vom zur Welt kommenden Menschen durchzustehenden
Schmerz des Geborenwerdens; 2. den mit der Daseinsfristung einhergehenden
Schmerz; 3. den Schmerz des Sterbens. Den zwischen Geborenwerden und Sterben
liegenden Daseinsschmerz fächert Giraud näherhin in einen bionomischen Dekalog
auf, in 10 Gesetze der Existenz, deren unverbrüchlichstes darin besteht, dass
Schmerzen und Entbehrungen länger währen, intensiver sind und einfacher zu
haben sind als Glückserfahrungen. Markant ist, dass Giraud unser Augenmerk auf
den Geburtsschmerz des Geborenwerdens lenkt, während sich die perinatale
Aufmerksamkeit bislang auf die Schmerzen der Gebärenden richtete.
Weit davon entfernt, die Fortpflanzung ungeprüft abzulehnen, untersucht – und
verwirft – unser Autor eine Serie von Gründen, die für sie sprechen könnten:
Liebe, das großartige Abenteuer des Daseins; die Fortsetzung der Menschheit;
der Wunsch, etwas zu hinterlassen; religiöse Pflichten: Gott verlangt…; das
Kind als Wirtschaftsfaktor und Rentenbringer; Neid und andere Gründe mehr.
Nach der Demontage dieser nativistischen Beweggründe präsentiert de Giraud
seinen Lesern diejenigen Mechanismen, die seines Erachtens die tatsächlichen
Lokomotiven der Fortzeugung sind. Neben unserer genetischen Justierung sind
dies: Egoismus, Narzissmus, Sadismus, Eifersucht, Stolz, Despotismus, verkappte
Pädophilie, Infantilismus. In Anbetracht dieser vom Autor aus der generativen
Psyche herausdestillierten Liste eher niederer Beweggründe stellt sich die
Frage, warum wir unsere Eltern dennoch lieben oder ehren. de Giraud bleibt
seinen Lesern keine Antwort schuldig, sondern erinnert an das
Stockholm-Syndrom, dem zufolge das Opfer einer Untat (hier: die Zeugung)
Sympathien für den Missetäter entwickelt, der ihn – in diesem Fall: ins Dasein
– entführt hat. Der Autor bleibt seinen Lesern nicht bloß keine Antwort
schuldig, sondern vorenthält ihnen auch kein Zitat. Wer Giraud liest, wird mit
einer Fülle humanistisch geprägter Stellungnahmen zahlloser Autoren aus
Philosophie, Religion und Weltliteratur beschenkt, ohne den Eindruck zu
gewinnen, der Autor, wolle seine Belesenheit zur Schau stellen.
Ethisches Hauptstück des antinatalistischen Manifests bildet das fünfte
Kapitel, welches von der Inkompatibilität von Ethik und Fortpflanzung handelt,
die de Giraud mit folgendem Syllogismus transparent macht:
Zu bewirken, dass ein anderer leidet, ist mit jeglicher Ethik unvereinbar;
wer lebt, kommt nicht umhin zu leiden;
folglich ist es unethisch, jemanden zu zeugen.
An das Kapitel über die Unvereinbarkeit von Ethik und Fortpflanzung schließen
sich Ausführungen über ein künftig zu etablierendes Recht aller Kinder an, die
eigenen Eltern dafür zur Rechenschaft ziehen zu können, dass sie (die Kinder)
gezeugt wurden. Diesbezüglich hat Giraud einen französischen in Georges Poulet
einen Vorläufer, der diesen Gedanken 1913 in seinem Roman Rien n’est
formulierte (siehe: http://www.tabularasa-jena.de/artikel/artikel_3818/).
Im siebten Kapitel machen wir nähere Bekanntschaft mit einem von mehreren
gelungenen Neologismen de Girauds: Surpollupopulation, was sich mit
Übervölkerungsverschmutzung übersetzen ließe. Mit jedem zusätzlichen in
fortgeschrittenen Industriegesellschaften gezeugten Kind, rechnet Giraud uns
vor, werden 200.000 kg Abfall in die Welt gesetzt, die unseren bereits
moribunden Planeten weiter belasten. Bei unverminderter Surpollupopulation
würden die im Jahr 2050 ihr Dasein fristenden 10–12 Milliarden Menschen nur
mehr als zum Vegetarismus Zwangsbekehrte ernährt werden können. Leider nimmt
Giraud den Vegetarismus nur als enggeschnallten Gürtel wahr, statt in ihm einen
Komplizen des Antinatalismus zu erkennen, dem es schließlich nicht nur um
Menschen, sondern um alle schmerzempfindlichen Wesen gehen sollte. de Giraud
lässt unbedacht, dass der Vegetarismus praktizierter Antinatalismus ist, sofern
eine pflanzenbasierte Ernährung die Nachfrage nach neuen Schlachtungen,
Zeugungen und somit Geburten sogenannter Nutztiere mindert.
Unter der Überschrift Agathogenese fordert de Giraud nach dem Vorbild des für
Fahrzeuge obligatorischen Führerscheins einen Elternschein, der erst nach
gründlicher Ausbildung vergeben werden sollte. – Eine Forderung, wie sie auch
G. Bleibohm in seinem Fluch der Geburt (2. Aufl. 2011) ausspricht. Mit dem
obligatorischen Elternschein sollen die Chancen künftiger Kinder auf eine
erträgliche Kindheit und Jugend erhöht werden. Eng verknüpft mit der Forderung
nach einem Elternschein ist de Girauds Eloge auf die Adoption: Wer die Kinder
dieser Welt liebt und nicht das eigene Selbst, zu dessen Feier, Aufwertung,
Schutz oder Verwirklichung Kinder gezeugt werden, möge existierende Kinder
adoptieren, um deren Los zu verbessern. Statt mit einem eigenen Kind neue
Notlagen hervorzubringen, so kann Giraud überzeugend argumentieren, sollte man
mittels Adoption ein bereits in Not befindliches Kind aus seiner misslichen
Lage befreien. Nachdrücklich und -denklich wirft de Giraud die Frage auf, warum
noch die ungeeignetsten Eltern beliebig viele Kinder in ein voraussichtlich
leiderfülltes Dasein treten (lassen) dürfen, während mutmaßlich gute Eltern
umständlich belegen müssen, dass sie psychosozial zur Adoption eines bereits
notleidenden Kindes geeignet sind.
Zu seinen Verbündeten kürt de Giraud den Feminismus sowie die
Globalisierungsgegner. Die Globalisierungsgegner ruft er zu einem weltweiten
Fortpflanzungsstreik auf, der so lange währen soll, bis die Welt von ihnen
selbst als bewohnbar beurteilt wird. Den Gegeneinwand: „Aber unser Kind wird
mit uns für eine bessere Welt kämpfen!“, lässt Giraud nicht gelten. Es obliege
den gegenwärtig lebenden Menschen, die Welt so einzurichten, dass sie bewohnbar
wird. Sich Kinder als Werkzeuge zu zeugen, auf dass sie die Welt bewohnbar und
das Leben für künftige Generationen lebbar machen, sei infam.
Neben praktischen Forderungen nach einem Elternschein oder dem Aufruf zu einem
globalen Fortpflanzungsstreik tritt unser Autor als bedeutender Theoretiker
hervor. de Giraud bietet eine theoretische Handhabe zum Verständnis des
kulturenübergreifenden Phänomens der Misogynie sowie der Scham. Warum sind die Religionen
bestrebt, uns davon zu überzeugen, dass das Böse durch die Untat einer Frau in
die Welt kam, wenn nicht deshalb, weil die Person, die die Schuld für unseren
Eintritt in diese Welt trägt, eine Frau war? Weil wir durch die Frau ins Böse
kommen, kommt alles Böse von der Frau, was die Misogynie aller Zeiten und aller
Orte konstituiere. Auch für seine Hypothese zur Deutung des Phänomens der Scham
zieht Giraud die von ihm so genannte Genethliophobie herbei: Das schamhafte
Verbergen der Fortpflanzungsorgane, gründe wie die Misogynie in unserer
unbewussten Ablehnung des Gezeugt- und Geborenwordenseins, woran diese Organe
erinnern. In letzter Instanz sei der vielen Religionen eignende Keuschheitskult
der Erbe eines gegen die Fortzeugung gerichteten esoterischen Kerns der
jeweiligen Religion, deren antinatalistischer Impetus längst verwässert sein
mag.
In zwei Anhängen stellt uns de Giraud pessimistische (also realistische) sowie
feministisch-antinatalistische Zitatensammlungen zur Verfügung – leider ohne genauere
Literaturangaben. Man gehe einmal der Frage nach, wie viele der zitierten
nativitätskritischen Frauen neben ihren geistigen oder künstlerischen Werken
leibliche Kinder zur Welt brachten.
Théophile de Giraud
L’art de guillotiner les procréateurs. Manifeste anti-nataliste, Nancy 2006,
207 S.
ISBN: 2-9165-0200-9
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