Erschienen in Ausgabe: No 43 (9/2009) | Letzte Änderung: 03.03.09 |
Hans Magnus Enzensberger Hammerstein oder Der Eigensinn: Eine deutsche Geschichte Dhv der Hörverlag, München (August 2008) 3 CDs, ca. 224 Minuten ISBN-10: 3867172765 ISBN-13: 978-3867172769 Preis: 24,95 EURO
von Heike Geilen
Im Januar dieses Jahres legte Hans Magnus Enzensberger sein
wohl umstrittenstes Buch vor: "Hammerstein oder der Eigensinn". Es
ist die Lebensgeschichte eines klugen, weder autoritäts-, noch obrigkeitsversessenen,
aber auch eigensinnigen Charakters und dessen Familie: des aus altem
westfälischem Adel stammenden, heutzutage kaum mehr bekannten Kurt von
Hammerstein-Equord, General der Reichswehr (1878-1943).
Als Adolf Hitler 1933 bei einer Zusammenkunft in Hammersteins
Haus seine Weltkriegspläne enthüllte, entschied sich der Chef der Heeresleitung gegen einen
Militärputsch und quittierte seinen Dienst. Hammersteins Töchter und Söhne
wählten jedoch den aktiven Widerstand, die Mädchen hauptsächlich im kommunistischen
Untergrund. Helga zum Beispiel war mit Leo Roth liiert, einem Spitzenagenten
des illegalen M-Apparats der KPD und sie spionierte auch selbst. Die Motorrad
fahrende Maria Therese heiratete einen Halbjuden und führte ein abenteuerliches
Exilleben, unter anderem in einem Kibbuz. Marie Luise, die Älteste, ging nach
dem Krieg sogar in die DDR, wurde SED-Mitglied und Anwältin, gerüchteweise
sogar KGB-Agentin.
Ludwig und Kunrat wiederum gehörten zu den direkt
Involvierten des Hitlerattentats am 20. Juli 1944.
Fiktives
Totengespräch
Enzensberger - fasziniert von diesem klugen, aber auch
streitbaren Kopf - konstruiert ihn als tragendes, den Stoff zusammenhaltendes
Grundgerüst in seine Geschichte und legt die Handlung um ihn herum an. "Es gibt keine gründliche Publikation über
diesen Mann, der immerhin der erste Mann in der Reichswehr war, vor dem
Machtantritt Hitlers. [Eine Figur], die eine ganze deutsche Geschichte in ihrer
Breite, in ihrer Vielfältigkeit, in ihren Nuancen, in ihren Widersprüchen"
darstellt, so Enzensberger in einem Interview. Der Autor hat überlegt, wie er
sich diesem Mann literarisch nähern könnte. Roman und wissenschaftliche
Abhandlung sollten es nicht sein. Der historischen Wahrheit wollte er jedoch
unbedingt nachleuchten.
Die noch lebenden Familienmitglieder bezweifelten, dass sich
diese Geschichte überhaupt von einem Außenstehenden darstellen lässt, nicht
zuletzt, weil es von Versionen und Widersprüchen wimmelt. Hinzu kommt der
"Erlebnisabgrund" des Erzählenden gegenüber den Leuten, die damals
gelebt haben.
Doch der Autor hat den schwierigen Spagat großartig
geschafft. Er bedient sich einer alten literarischen Technik - dem fiktiven Totengespräch,
der posthumen Erzählung. Enzensberger zitiert aus Akten und widersprüchlichen
Zeugenberichten, er unterhält sich mit den Toten, integriert Meinungen von
Zeitgenossen und greift erklärend ein, wo es geboten scheint: eine präzis-kühle,
aber spannende Collage aus vielfältigen Auffassungen und Tatsachen.
Äußerst wertvolle
Hörspielproduktion
Dies wiederum scheint geradezu prädestiniert für die
gewählte Hörspielfassung zu sein, die mit achtzehn hervorragenden Sprechern
besetzt wurde - unter ihnen solch großartige Schauspieler wie Gisela May,
Dietmar Mues oder aber Hans-Michael Rehberg, der den General persönlich
intoniert. Für die Rolle des Autors, des Interviewenden, zeichnet sich
Friedhelm Ptok mit seiner markanten und charismatischen Stimme besonders aus.
Er fungiert hierbei als überaus beeindruckender und souveräner Gesprächsführer,
der die Fäden während der ganzen Zeit unfehlbar und eigenständig in der Hand
behält und seine stimmlichen Fertigkeiten in den Dienst des Textes stellt,
dessen Substanz er erkenntnisklar zum Vorschein bringt.
Und so ist eine äußerst wertvolle Hörspielproduktion entstanden,
die eine streitbare Familie beleuchtet. Der Zweifel jedoch bleibt bestehen, ob
die Nachgeborenen über genügend Vorstellungskraft verfügen, um dem, was vor
vielen Jahrzehnten geschah, gerecht zu werden. "Wie dem auch sei, jedenfalls herrscht bei den Hammersteins ein
Schweigen besonderer Art. Wer in Zeiten der Diktatur lernen musste, dass es
gefährlich sein kann, alles zu äußern, was einem durch den Kopf geht, dem mag
ein solches Training zur zweiten Natur werden und er wird nicht leicht davon
ablassen.", intoniert Friedhelm Ptok am Ende der Produktion. "Es bleibt ein ungesagter Rest, den keine
Biografie auflösen kann. Und vielleicht ist es dieser Rest, auf den es ankommt."
Besonders angenehm ist hervorzuheben, dass Hans Magnus
Enzensberger nicht urteilt, sondern eine unverbindliche Distanz zu seinen
Figuren hält.
Als harmonisches Bindeglied fungieren sparsame
Musikeinspielungen. Ein Booklet mit den wichtigsten Daten Kurt und Maria von
Hammersteins sowie deren sieben Kindern und ein Stammbaum der Familie ergänzen
das eindrucksvolle Hörspiel.
Fazit:
Enzensberger hat ein ungemein spannendes Buch vorgelegt,
welches anhand von Biografien der Familie von Hammerstein ein Zeitalter der
Extreme in komprimierter, verdichteter Form analysiert und so ein facettenreiches
Bild über eine nicht einfach zu beurteilende Persönlichkeit und deren Familie entstehen
lässt.
Die Umsetzung als Hörspiel ist großartig gelungen.
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