Erschienen in Ausgabe: No 94 (12/2013) | Letzte Änderung: 10.12.13 |
von Axel Reitel
Da war ich also gestern. Gewissermaßen als Alumnus. Die
Akademie der Künste lud für den gestrigen Abend aktuelle und ehemalige
Döblin-Stipendiaten in in den kleinen Saal im vierten Stock am Pariser Platz 4.
Die Stuhlreihen bieten etwa einhundert Gästen Platz und sind restlos besetzt.
Auf dem Podium stellen Luise Boege, Ricoh Gerbl, Boris Preckwitz und Ellen
Wesemüller ihre 2012 im von Günter Grass gestifteten Alfred-Döblin-Haus in
Wewelsfleth entstandenen Texte vor. In Luise Boeges französisch betiteltem
Text, den weder sie noch der gut aufgelegte Moderator Jörg Feßmann eindeutig
übersetzen kann, stattet ein „öffentlicher Körper“ in der Beschreibung eines
Kapuze tragenden Streuners, der nichts kafkaeskes oder browneskes hat, dafür
aber viel von einem einem verzweifelten Dealer oder Prostituierten, der
Erzählerin des Textes einen Besuch ab. Das heißt, eigentlich will er zum
abwesenden Mitbewohner Dimitri, aber der ist nicht da. Den Dimitri, so stellt
es Frau Boege im anschließenden Gespräch dar, hätte sie sich aus Dostojewskijs
"Dämonen" ausgeliehen, weil die das Buch gerade gelesen hatte und
„auch so was schreiben“ wollte. Merke: Solcher Wille ist des Autors bitterste
Pille! Dass Frau Boege, jung an Jahren, geschickt ihren Text zu drehen und zu
wenden vermag und ganze Szenen neu zu ordnen weiß, was sie womöglich bei Lynch
beobachtet haben mag, täuscht nicht darüber hinweg, dass ihr ein eigenes Thema,
ein eigenes nachvollziehbares Interesse an irgend einer nachvollziehbaren
Ungerechtigkeit in dieser Welt, noch fehlt. Obwohl der „Öffentliche Körper“,
etwas kafkaesker, etwas brownesker, diese Rolle mit Bravour stemmen könnte. Der
Blick des Zuhörers vom Kleinen Saal rüber zur gläsernen goldlichtig
illuminierten Reichstagskuppel wäre in Bezug auf Boeges "Öffentlichen
Körper" vielleicht noch zu erwähnen. Und dass der Rezensent davon
überzeugt ist, dass Frau Boege diese Hürde auch wirklich noch überwindet. Sie
liest mit sicherer Stimme und zeigte sich schlagfertig gegenüber Moderator
Feßmann.
Vor der genannten Hürde steht nach Ansicht des Rezensenten
auch noch Ricoh Gerbl, die von der Bildenden Kunst, zu der sie „über eine Lüge“
gekommen sei, was sie an anderer Stelle einmal äußerte, zur schönen Literatur
spagatierte. Ihre, aus vielen Textpassagen, Textschnipseln und
Alltagsreflexionen und der Darstellung eines Kopfkinos während einer Selbstbefriedigung
bestehenden Textproben, aus ihrem Romanprojekt „Miriam Wolf – Eine Anpassung“,
sind zwar ebenfalls gut geschrieben und mit Verve montiert, doch ob da auch ein
Roman dabei heraus kommt, wurde nicht ersichtlich. Warum nicht? Vielleicht
gerade deshalb, weil sich eine tiefere (gesellschaftliche) Wahrheit in den
ausgewählten Szenen einfach nicht ausmachen lässt. Ohne diese Tiefe aber kann
zwar Roman drauf stehen, aber es muss noch lange kein Roman drin sein. Dies als
Anregung für den weiteren Hürdenlauf, der nun einmal sein muss. Der Rezensent
mag Frau Gerbl im Ziel einlaufen sehen. Nun Boris Preckwitz und Ellen
Wesemüller. Ellen Wesemüller las zuletzt, der Rezensent zieht sie hier im Text
vor. Ellen Wesmüller war ihm die liebste. Ellen Wesemüller ist wohl die erste,
die ihren Döblin – Aufenthalt dazu nutzte, das erlebte Leben oder die
„wirkliche Wirklichkeit“ jener drei Monate in Wewelsfleth in scharf
geschnittener feuilletonistischer Manier festzuhalten. Der Rezensent findet,
dass Ellen Wesemüller dazu ein wunderbares Talent hat. Die auftretenden und ja
in wirklich in W. lebenden Protagonisten_innen gehen einem ans Herz und der
Rezensent hätte Frau Wesemüller gern noch eine Stunde zugehört und länger. Das
liegt auch daran, weil ersichtlich wurde, dass sich in W. seit zwanzig Jahren
weder an der nordischen selbstbestimmten Höflichkeiten noch an der nachgiebigen
Bockigkeiten etwas geändert hat. Und das gefällt er Ewigkeit - und für die
schreiben ja alle. Auch gefallen haben dem Rezensenten Frau Wesemülles
Beobachtungsgabe und ihr Händchen für Verknappung - wann es mit dem Gesagten
eben gut ist. Alles präzise und unglaublich charmant. Das Buch bitte schnell
auf den Tisch! Nun also Boris Preckwitz, über dessen vorgestellten vier Kapitel
aus einem politischen Langgedicht (erschienen in der Münchner Lyrikedition
2000, anwesend der Herausgeber Florian Voß), es einiges zu sagen gibt. Erstens:
das politische Gedicht fristete in Deutschland seit der Wiedervereinigung ein
Altersdasein in Antiquariaten. Warum das so war, mag an den erst jetzt
einsetzenden Wirkungen der Teilung liegen. Die sich über die letzten zwei
Dekaden erstreckenden Versuche einer Rückeroberung des gemeinsamen deutschen
Nationalgefühls auf kultureller Ebene, verurteilten das politische Gedicht zur
Lebensunfähigkeit. Von Walter von Vogelweide bis zum moderneren Dreigestirn
Wecker-Biermann-Wader gehörten das artifizielle politische Gedicht - und
Liedgut fest zu unserer deutschen Kultur. Als Deutschland 1990 endlich am Ziel
seines Traumes eines einheitlichen Staates angelangt war, verschwand diese
Tradition im Keller. Nun zeigen, ein Vierteljahrhundert nach der Einigung, die
vierzig Jahre Trennung plötzlich ihre Wirkung: der größte Verlust, den
Politiker wie Carlo Schmid am meisten fürchteten, tritt zutage: der Verlust des
gemeinsamen Nationalgefühls – und mehr noch: das schwindende Interesse für den
eigenen Kontinent Europa. Überhaupt überall Interpolationen, die Boris
Preckwitz, in der späten Nachfolge von Georg Herwegh vielleicht, zum
hoch-aktuellen poetischen Appellplatz schleift. Merke: Bitten politisch
verboten!
In seinem kraftvollen Poem „Der schlimmste Feind“ schreibt
Herwegh:
„[...]
Dies Volk, das im gemeinen Kitzel
Der Macht das neue Heil erblickt
Und als 'Erzieher' seine Spitzel
Dem unterjochten 'Brüdern' schickt.
[...]“
Wer sind heute die Brüder und Schwestern in der heutigen
Europäische Union und was ist mit ihnen los? Wie greifen die Zeitschriften die
Wahrheit auf? Wie geht es hinter den geschlossen Türen der Industrie- und
Machtzentralen zu? Türen öffnen scheint die Herausforderung für Wissenschaften
und Künste zu bleiben. Boris Preckwitz hat das gestern Abend eindrucksvoll
zelebriert. Und in diesem Punkt ziehen schließlich auch seine Mitstreiterinnen
Luise Boege und Ricoh Gerbl mit. Ellen Wesemüller aber bleibt dem Rezensenten
die liebste. Und Jörg Feßmann ist ein fescher, sich auf angenehme Weise nicht
in den Vordergrund drängender Moderator.
Der Abend - von moderater Kontur.
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