Erschienen in Ausgabe: No 95 (01/2014) | Letzte Änderung: 20.12.13 |
von Michael Lausberg
Wer erwartet, dass es sich bei
diesem Buch um einen Beitrag zur Diskussion um Critical whiteness[1]
oder antirassistischer Pädagogik im Allgemeinen handelt, wird enttäuscht. Die
langjährige Journalistin Charlotte Wiedemann, die „in 26 außereuropäischen
Länder(n)“ (7) gearbeitet und gelebt hat, möchte „auf persönliche, subjektive
Weise“ (7) den Versuch starten, „einen Blick auf die Welt zu werfen, der sich
von der Enge des Eurozentrismus befreit“. (7) Sie berichtet von ihren
Erlebnissen in verschiedenen europäischen wie außereuropäischen Ländern und hat
den Anspruch „in einer sich entwickelnden polyzentrischen Welt“ zu zeigen, „wie
schwierig interkulturelle Annäherung tatsächlich ist und wie leicht wir
Fehlurteilen erliegen“. (7) Für Wiedemann ist es entscheidend, welche Art von
Menschenbild unsere Wahrnehmung prägt. Daher beschäftigt sie sich mit Fragen
nach der Entstehung unseres Weltbildes, der Konstruktion von Wirklichkeit und
Erkenntnis. (8)
Wiedemann, die auch als Dozentin an der
Evangelischen Journalistenschule Berlin tätig ist, erstellt ein idealtypisches
Anforderungsprofil für Journalisten, die mitverantwortlich für die Prägung
unseres Weltbildes seien. Dabei kritisiert sie, dass sich „Journalisten als
professionelle Allesversteher sehen“ und sich nicht der „Grenzen ihrer eigenen
Erkenntnisfähigkeit“ bewusst seien. (22) Wiedemann bezieht sich dabei implizit
auf die Transzendentalphilosophie Immanuel Kants, die
postuliert, dass alles Objektive bereits subjektiv geformt sei. Unabhängig von
aller Erfahrung (a priori) liegen laut Kant im menschlichen Verstand Formen oder Kategorien bereits vor,
nach denen das Objektive erfahren und geordnet wird. Hinter der Welt der
Erscheinung liegt eine Welt der Dinge an sich,
über die der Mensch nichts wissen kann. Die Verknüpfung von Erfahrungen zu
Erkenntnissen (Synthesis) wird ebenfalls durch die Beschaffenheit der
menschlichen Vernunft bestimmt, in der Kategorien des Denkens a priori angelegt
sind. Diese Erkenntnisse führten Kant zu seiner Kritik an der menschlichen
Vernunft, die durch diese Gegebenheiten begrenzt sei.
Im heutigen Journalismus seien „billige,
gefügige Generalisten, die Multimedia füttern und technische Abläufe
verwalten“, prägend: „Die Qualität journalistischer Produkte und das anmaßender
Auftreten ihrer Produzenten stehen oft in keinem nachvollziehbaren Verhältnis.“
(12) Dagegen setzt sie sich für einen „Journalismus der Bescheidenheit und des
Respekts“ ein: „Bescheidenheit bedeutet, dass wir uns der Grenzen der
Erkenntnis und der Relativität unserer Urteile bewusst sind. Respekt gilt
zunächst denen, über die wir schreiben. (…) Mehr Respekt zugleich vor den
Mediennutzern, die heute einem betäubenden und krankmachenden Ansturm
kontextloser Nachrichten ausgesetzt sind.“ (20) Journalismus müsse
„orientierend, aufklärend, verlässlich sein, ein Filter aus Faktentreue und
gebildeter Reflexion gegen die Zumutungen der Datenflut.“ (137) Er müsse
„beitragen zu einem ganzheitlichen Weltverständnis nach menschlichem Maß.“ Die
Medien sollten „die Welt so mehrdeutig zeigen, wie sie meistens ist.“ (20)
Dabei sei die westliche „Definition von Realität und Normalität (…) nicht das
Maß aller Dinge“ (23), da das, was wir als „real“ charakterisieren, „eine
symbolische Ordnung“ sei, „die von unserem kulturellen Kontext und unseren
Traditionen geprägt“ wäre. (22) Wiedemann plädiert für eine gedankliche
„Dezentrierung“, um „sich von den Normalitätsvorstellungen seiner eigenen
Kultur (zu) distanzieren und das Fremde aus dessen eigenem kulturellen und
sozialen Kontext (zu) begreifen“. (28) Handlungen, die aus dem eigenen
kulturellen Anspruch interpretiert werden, sollen durch den Anspruch, das
Fremde in Begriffen des Eigenen zu übersetzen, ersetzt werden. Die Autorin
stützt sich dabei sowohl auf den Ansatz einer interpretativen Anthropologie des
US-amerikanischen Ethnologen Clifford Geertz als auch auf die Theorien der
Postcolonial Studies. Das Ziel von Geertz‘ interpretativer Anthropologie
besteht darin, den Standpunkt der zu untersuchenden Menschen, ihren Bezug zum
Leben zu verstehen, und sich idealtypischerweise ihre Sicht seiner Welt vor
Augen zu führen. Geertz kommt es demnach in der Auseinandersetzung mit anderen
Lebensformen und Weltbildern ganz entscheidend darauf an, die eigenen
Vorstellungen zurückzunehmen, um die Erfahrungen anderer Kulturen im Kontext
ihrer eigenen Ideen zu betrachten. Diese Kulturen sollten „from the native’s
point of view“ untersucht und an andere Lebensformen keine kontextfremden
Kategorien herangetragen werden. Geertz Forderung lautete, im Eigenen nicht
länger das einzig Mögliche, das schlechthin Wahre und Notwendige zu sehen. Er
möchte andere Möglichkeiten der Welterschließung in einem gleichberechtigtem
Sinne erfahrbar machen, um zu einer Erweiterung des menschlichen
Diskursuniversums beizutragen (130).
Bei den Postcolonial Studies geht es darum, das
eurozentrische Bewusstsein und die Identitäten, die durch Kolonialismus und
westliche Herrschaft geschaffen wurden, zu kritisieren und Gleichberechtigung
zu generieren. Dabei sollen transkulturelle Identitäten und verflochtene
Beziehungen zwischen Beherrschern und Beherrschten in den Mittelpunkt gerückt
werden.[2]
Die Betrachtung und Beurteilung inner- und außereuropäischer Kulturkreise auf
der Grundlage der in Europa hegemonialen Werte werden abgelehnt.
Wiedemann kritisiert weiterhin, dass innerhalb
der Berichterstattung in Deutschland über Migration und Integration „viele
Journalisten Opfer ihrer Selbsttäuschung“ seien und „völlig ihre eigene Rolle“
verkennen würden. Die Neigung, Migration in einer Semantik der Gefahren zu
präsentieren, ist innerhalb der deutschen Presselandschaft weit verbreitet. Dies
liegt auch an der Tatsache, dass „für Journalisten mit Migrationshintergrund
die Tür nur einen Spaltbreit geöffnet“ wird und es in diesem Bereich einen
hohen Nachholbedarf gibt. (24)
Sie beanstandet auch die
jahrelange Debatte in der Bundesrepublik über den Islam und Islamismus: „Wer in
islamischen Ländern unterwegs ist, wer sich ernsthaft mit der Entwicklung
muslimischer Gesellschaften beschäftigt, erträgt das Niveau hiesiger Debatten
nur schwer.“ (82) In dieser Debatte werde eine „extrem komplexe und heterogene
Materie (…) auf extreme Simplizität“ (82) reduziert. Die von konservativen
Leitmedien bis hin zum „Spiegel“ lancierte hegemoniale Sichtweise, dass „ein
monolithischer Islam einen wehrlos-heterogenen Westen bedroht“, (82) bietet
eine verzerrte Wahrnehmung auf die Pluralität der islamisch geprägten
Lebensformen. Daher fordert Wiedemann, „den Islam im Plural zu denken“, der
sich in einer dynamischen Zeit der Globalisierung immer weiter
ausdifferenziert. (96)
Insgesamt gesehen ist das Buch
als Bereicherung der immer wieder aufflammenden Debatte über die Qualität des
Journalismus in der Bundesrepublik zu sehen. Die unangenehmen Fragen Wiedemanns
und ihre zutreffende Kritik an weite Teile ihres Berufsstandes machen
nachdenklich. Die unreflektierten, populistischen Produkte des Boulevards, die
nur an hohen Verkaufszahlen interessiert sind und ihrem Bildungsauftrag nicht
nachkommen, dürften sich hier besonders angesprochen fühlen. Allerdings bleiben
die hier im Kontext des Buches immer wieder gestellten Fragen nach Wahrnehmung,
Realität und Erkenntnis doch etwas an der Oberfläche. Damit ist nicht die
Forderung nach einer philosophischen oder psychologischen Abhandlung gemeint,
sondern die Auseinandersetzung mit Vertreter_innen der Culturel Studies, Richard
Rorty, Maurice Merleau-Ponty oder Paul Watzlawick.
[1]
Die
Critical Whiteness Studies verfolgen das Ziel, Weißsein als reales
Gewaltverhältnis vor allem in westeuropäischen Gesellschaften und als
nicht-markierte Normalität und Identitätsproduktion kritisch zu analysieren.
Zur Forschung in der BRD siehe Eggers, M. M.:/Kilomba, G./Piesche, P./Arndt, S.
(Hrsg.): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in
Deutschland, Münster 2005. Grundsatzdiskussionen und Kritik am Konzept sind zu
verfolgen in Analyse & Kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis vom
21.9.2012 oder Jungle World vom 26.7.2012
[2]Dabei spielen die von Homi
Bhabha in seinen Essays entwickelten Begriffe Hybridität und Mimikry eine zentrale
Rolle. Hybridität beschreibt das Entstehen neuer, transkultureller Formationen
in Kontaktzonen, die durch Kolonisation entstanden sind bzw. geprägt wurden.
Identität entsteht für Bhabha stets in diesem ambivalenten „in-between”-Raum
der kulturellen Hybridität, der keine hierarchische Ordnung der Kulturen oder
Exotismus mehr zulässt. Siehe Bhabha, H.K.: The Location of Culture, London
1994, S. 36-38 oder Conrad, J.:/Randeria, S. (Hrsg.): Jenseits des
Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektive in den Geschichts- und
Kulturwissenschaften, Frankfurt/Main/New York 2002, S. 219-246
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