Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 05.02.14 |
von Jörg Bernhard Bilke
Noch heute gibt es, fast 70 Jahre nach Kriegsende, in den
Grenzregionen Tschechiens zu Sachsen, Bayern und Österreich Dutzende von
verfallenen Dörfern, die von ihren sudetendeutschen Bewohnern bei der
Aussiedlung 1945/46 aufgegeben wurden. Die Häuser verfielen, da Tschechen dort
nicht einziehen wollten, Mauern, Gartenzäune, Dächer und Hauswände stürzten
ein, Gras und Gestrüpp überwucherten die sudetendeutsche Geschichte. Wenn man
Glück hat, findet man noch einen verwitterten Dorffriedhof, dessen kaum moch
lesbare Grabsteine davon zeugen, dass hier acht Jahrhunderte lang Deutsche
lebten.
Eines dieser verlassenen Dörfer ist Wittine, zwischen Aussig
an der Elbe und Tetschen gelegen, dessen Bewohner arme Obstbauern waren , die
ihre Apfel- und Birnenernte im Herbst in Aussig auf Elbkähne verluden undbis nach Hamburg zum Verkauf brachten. Aus
diesem Dorf stammen die Vorfahren des einstigen Dresdner Oberbürgermeisters
(1990-2001) Herbert Wagner, der nach 40 Jahren DDR-Diktatur sein Amt in
demokratischer Wahl errang. Er selbst ist als Sohn sudetendeutscher Eltern, die
nach Mecklenburg vertrieben wurden, 1948 in der Residenzstadt Neustrelitz
geboren und berichtet, dass sich die heimatbewusste Familie seit 1978 jedes
Jahr zu Pfingsten in Aussig getroffen hätte, einschließlich der
Westverwandtschaft,, um ihrer sudetendeutschen Herkunft zu gedenken. Später,
als er Oberbürgermeister geworden war, hätte es auch dienstlich Kontakte nach Aussig
gegeben, wegen der zu bauenden Autobahnstrecke nach Dresden. Auch zu dem
Aussiger Stadtarchivar Vladimir Kaiser wären Kontakte aufgenommen worden, der
hätte ihm Dokumente über sein untergegangenes Heimatdorf Wittine übergeben
können.
Jetzt steht dieses Dorf oder, was davon noch übrig geblieben
ist, zum Verkauf an. Nach einer Anzeige in der Prager Zeitung „Mlada Fronta
Dnes“ („Junge Front heute“) kann das ehemals deutsch besiedelte Ruinendorf für
14 600 Euro vom Staat erworben werden, nur anfangen kann der neue Besitzer
damit überhaupt nichts. Denn einmal ist es weit abgelegen in der Wildnis und
schwer erreichbar, und dann liegt es noch im Landschaftsschutzgebiet
„Böhmisches Mittelgebirge“, wo keine Ruinen abgerissen und Neubauten errichtet
werden dürfen.
Andererseits gibt es, in Südböhmen oder im „Schluckenauer
Zipfel“ in Nordböhmen, durchaus sudetendeutsche Dörfer, die heute wieder bebaut
sind. Nachlesen kann man das in einem Buch „Tragische Erinnerungsorte. Ein
Führer durch die Geschichte einer Region 1938-1945“ (2011) des tschechischen
Historikers Ondrej Mateika. Er gilt als Kenner der sudetendeutschen Geschichte
und hält, nur weil der Staat Geld braucht, den Verkauf eines „nicht mehr
existierendenDorfes“ für „absurd“.
Das Thema der verfallenen Dörfer in den sudetendeutschen
Gebieten ist inzwischen auch Thema der hohen Literatur geworden. In Bohumil
Hrabals (1914-1997) Roman „Ich habe den englischen König bedient“ (1978), wird
der Kellner Jan Dite, der in Karlsbad aufgewachsen und mit einer Sudetendeutschen
verheiratet ist, nach 15 Jahren Zuchthaus in ein sudetendeutsches Dorf
verbannt, was offensichtlich als Strafe gilt. Auch in Sidonia Dedinas Roman
„Als die Tiere starben“ (1988) spielen die sudetendeutschen Dörfer eine
tragende Rolle.
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Warszawski 02.02.2014 18:15
Ein Vorschlag zur Güte: Die Nachfahren von Sudetendeutschen mögen das Dorf für wenig Geld kaufen und dort der sudetendeutschen Geschichte gedenken.