Erschienen in Ausgabe: No 97 (03/2014) | Letzte Änderung: 04.03.14 |
von Adorján F. Kovács
Nicht lange noch, und alle Kunst ist so langweilig und domestiziert wie die
deutschen Leitmedien. Das Essener Folkwang-Museum hat jetzt eine Ausstellung
mit Polaroid-Fotoarbeiten des bekannten Malers Balthasar Klossowski, genannt
Balthus, abgesagt. Der Grund sind sehr reale Befürchtungen um juristische
Querelen. Denn der Entscheidung ging eine heftige Debatte worum? – natürlich um
Pädophilie in der Kunst voraus.
Ein hochaktuelles Thema: Pädophilie bei den 68ern, Pädophilie bei den Grünen,
Pädophilie im Internet, pädophile Freier und pädophile Väter. Schon richtig,
dass der Schutz von Kindern vor Missbrauch konsequent vorangetrieben werden
muss. Aber wie ist das bei der Kunst? Die Zeiten der Freiheit scheinen auch
hier, wie in so vielen Bereichen, vorbei zu sein, zumindest weht ein
moralinsaurer Wind. Die Moralapostel der Korrektheit führen ihren Krieg nun
auch auf diesem Gebiet. Die Kunst hat ihre Skandale früher gewonnen, als die
Skandalisierten noch altmodisch genannt werden durften. Heute begreifen sich
die, die bestimmen wollen, was erlaubt ist, als durch und durch
fortschrittlich. Und heute gewinnen sie.
Noch anno 1989 stand im mittlerweile politisch überkorrekten „Spiegel“
folgender Bericht über den Verkauf der Kunstsammlung des Filmregisseurs Billy
Wilder zu lesen: „Der Mädchenakt hängt in Billy Wilders Schlafzimmer: Fast
lebensgroß ist die Nackte, etwa Zwölfjährige, die vor ihrem Bett steht. Das
Bild von 1957 (Titel: »Die Toilette«), das eine spröde Erotik ausstrahlt, hat
der französisch-polnische Maler Balthus gemalt, auf dessen Bildern
»pubertierende Mädchen in ihren bürgerlichen Interieurs ungeduldig auf die
Gewaltsamkeit eines sexuellen Aktes warten« – so der Kunsthistoriker Giulio C.
Argan.
Eines Tages, so erzählt Wilder, sei Vladimir Nabokov bei ihm auf Besuch
gewesen. Der russische Autor habe all die Picassos, Schieles, Miros in Wilders
Wohnung nur eines flüchtigen Blicks gewürdigt, sei dann fasziniert vor der
Nackten stehengeblieben, habe Wilders Hand ergriffen, geschüttelt und »Balthus«
gemurmelt.
Da das Bild nur auf der Rückseite signiert ist, war Wilder verblüfft, bis
ihm „Lolita« eingefallen sei. Über Balthus verständigten sich die beiden fast
wortlos: Wilders erster Film, »The Major and the Minor« von 1942, zwölf Jahre vor
»Lolita«, handelt von einer (scheinbar) Zwölfjährigen, in die sich ein Major
verliebt – ein geschickt gegen die Zensur als Komödie maskierter Lolita-Film.“
Kaum auszudenken, was ein Kunstliebhaber wie Wilder heute an Unterstellungen
und Verdächtigungen zu gewärtigen hätte. Und Nabokov? Sein berühmter Roman über
einen verzweifelt eine Minderjährige liebenden Literaturwissenschaftler wurde
zwar nach seinem Erscheinen heftig attackiert, doch ist es überhaupt nicht mehr
statthaft, sich über die angeblich so biederen und verklemmten 50er Jahre zu
mokieren. Heute werden diese angeblich dunklen Zeiten der Prüderie locker
übertroffen.
Ein David Hamilton könnte seine Filme weichgezeichneter Elfen und Nymphchen
nicht mehr machen, und jemand wie Balthus säße heute wohl im Gefängnis. Sicher,
es wird argumentiert, seine gemalten Bilder hätten eine künstlerische Distanz,
die eine Ausstellung gerade noch erlauben würden. Doch die Polaroids von jungen
Mädchen, die er offensichtlich als Vorlagen für seine Bilder verwendet hat,
seien klar pädophil inspiriert. Was soll man da zu Degas sagen, der seine
kleinen Ballettratten fotografierte, bevor er sie in bronzene Posen goß, die
jedem Voyeur das Herz aufgehen lassen.
Die Brisanz einer Ausstellung von Jungmädchen-Aufnahmen in einem Museum
dürfte heutzutage von einem (jedem jederzeit möglichen) Besuch jeder beliebigen
Kinderporno-Webseite weit übertroffen werden. Die Absage der Ausstellung ist so
verlogen wie der Protest dagegen. Der russischen Regierung wird in Deutschland
vorgeworfen, mit dem Verbot, vor Kindern von Homosexualität positiv zu
sprechen, eine absurde Befürchtung vor der Möglichkeit sexueller Beeinflussung
von Kindern zu haben. Was ist denn das Verhalten der Diskutanten im Falle der
Balthus-Ausstellung anderes? Sie sind keinen Deut besser. Befürchten sie
wirklich, dass die latente Pädophilie der Fotos sich auf die Besucher
überträgt?
Was hat der Maler getan ausser Fantasien verbildlicht, die ohne Zweifel
nicht nur er hat, sondern die menschlich sind, seien sie gut oder schlecht?
Kunst muss nicht moralisch sein. Und schliesslich lebt nicht jeder seine
Fantasien aus. Balthus, zweimal verheiratet, starb 2001 in einem gesegneten
Alter. Selbst wenn er pädophil gewesen wäre, wovon jedoch nicht das Geringste
bekannt ist, würde das an der Qualität seiner Kunst nichts ändern, die übrigens
keine sexuellen Akte zeigt. Es sind die Betrachter, die pädophile Haltungen und
Handlungen in die Bilder hineinlesen.
Es ist das uralte Spiel, wie man Kunst missversteht. Wer den Künstler mit
seinem Werk eins zu eins setzt, hat das Wesen der künstlerischen Fantasie nicht
verstanden: Wer glaubt, Romanautoren hätten alles erlebt, was sie beschreiben,
täuscht sich und wer Regisseure von Gewaltfilmen für gewalttätig hält, irrt
sich gewaltig. Die Kunst setzt Gedanken in Gang, und es sind die Leser,
Zuschauer, Betrachter, wir alle also, deren Gedanken und Gefühle in Gang
gesetzt werden. Der Künstler mag spielen mit unseren Gedanken, aber noch sind
es wir, die verantwortlich sind für das, was wir bei der Betrachtung von Fotos
denken. Aber auch wenn wir Gewaltfilme mögen, billigen wir noch lange nicht
reale Gewalt.
Übrigens: Was heisst schon pädophil? Wie immer sollte auch hier
differenziert werden. Jeder Lehrer muss in gewisser (also nicht sexueller) Weise
pädophil sein, um seine Arbeit gut ausüben zu können. Es handelt sich geradezu
um eine Grundvoraussetzung seiner Tätigkeit. Die Schwierigkeit und Kunst ist
dabei, die notwendigen Grenzen einzuhalten. Das gelingt in aller Regel extrem
gut. Mögen die modernen Tugendwächter denken, was sie wollen – vor allem sie
selbst scheinen ein Riesenproblem mit ihrer Sexualität zu haben.
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