Erschienen in Ausgabe: No 98 (04/2014) | Letzte Änderung: 02.04.14 |
von Axel Reitel
Im wohl
berühmtesten Essay über das Absurde* wird dem Leser die Beantwortung der Frage
abverlangt, ob das Leben sich lohnt. Für den Fall der Verneinung bleibt als
einzige Konsequenz freilich nur der Selbstmord. Die Selbstmordrate in der DDR
war extrem hoch; der Rest (etwa 16 Millionen Bürger) wollte zweifelsfrei ein
Leben, das sich lohnt. Und für diesen Willen zum lohnenden Leben hielt der
Staat einen strickt zu lobenden wie einzuhaltenden Lebensentwurf parat.
Der
Lebensentwurf dieser Sozialutopie nach stalinistischem Muster nannte sich die
„Diktatur des Proletariats“. Geschäftsführende Partei dieser Diktatur war die
Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED). Die Partei gebrauchte Losungen
wie „Alles für das Wohl des Volkes“. Es wurden Synonyme für die DDR verwendet
wie „Arbeiterparadies“. Und damit nie wieder jemand aus einem Paradies
vertrieben werden konnte, errichtete der allgegenwärtige SED-Staat am 13.
August1961, bei schönstem Sonnenschein, ringsum seine Hauptstadt einen
Schutzwall. Das war die Berliner Mauer. Wer jetzt fand, dass sich ein Leben in
diesem „Paradies“ nun eigentlich nicht mehr lohne, brauchte nur einen
Fluchtversuch zu wagen. Die unheiligen Erzengel an den Grenzen des Paradies
wurden täglich mit Schießbefehl und scharfer Munition (jedes Magazin 60 Schuss)
„vergattert“, die Unbeflecktheitdes
Schutzwalls zu gewährleisten.
Eine
zuverlässige Gesamtzahl der Toten an der innerdeutschen Grenze gibt es bis
heute nicht,doch darf gesagt sein, es
sind viele. Erschlossen dagegen sind die Tötungen an der Berliner Mauer. Die
Zahl ist dreistellig. Beleuchtende Statements nach dem Untergang dieses
SED-Staates sind inzwischen Legion. "Die DDR war ein überflüssiges
Experiment" ist eines. Es stammt von Dirk Mecklenbeck, einem der
„Mauerkrieger ". Diese Bezeichnung fasst eine Gruppe „junger Ausgereister
aus der Hallenser Heavy Metal - und Punk-Szene“ zusammen, die „von West-Berlin
aus das zunehmende Aufbegehren gegen die politischen Verhältnisse in der DDR
unterstützen“ und „Zeichen der Solidarität nach Osten setzenund gegen die Gleichgültigkeit derjenigen
protestieren, die sich im Westen mit der Mauer arrangiert“ hatten. Der
Klappentext des von den Herausgebern Ole Giec und Frank Willmann sorgfältig
zusammengestellten und kommentierten Bandes, „Mauerkrieger.Aktionen gegen die
Mauer in West-Berlin 1989“, fokussiert wieder einfaszinierendes Stück Neuland innerhalb der
Aufarbeitungsliteratur über die zweite deutsche Diktatur.
Rückblick. „Das
realsozialistische Experiment muss weitergehen", stand auf dem Flugblatt
eines Westberliner FU - Professors, vorgelegt einer kleinen Runde im „Café
Limit“, in der Moabiter Waldstraße, im Herbst '89 , als die Bürger der DDR
ihren Staat soeben entmachteten. Die DDR verkaufte Menschen gegen Valuta und
wurde immer süchtiger nach diesem Handel. Das kapitalistische Erfolgsrezept, in
Investigationen zu investieren, wurde überhaupt nicht verstanden, außer wenn
esum Geheimdienste und deren
Machenschaften ging. Die Wirtschaft ging den Bach runter. Der Kontrollwahn nahm
zu. Für sein Misslingen machte der suchtkranke Staat am Ende das Volk
verantwortlich. Das gab es schon einmal, fürdas eigene Versagen das Volk vorzuschieben: der Mann hieß Hitler,
aufgeschrieben wurd's im Bunker, so steht es in dessen Testament. Das
Aller-Böseste aber für den SED-Staat war der Westen, die Bundesrepublik, der
andere deutsche Teilstaat, der, wie die DDR, nach Hitlers Niederlage entstand,
nur eben kapitalistisch orientiert. Dessen Einfluss auf die DDR-Jugend wurde
von Polizei und Geheimdienst als größte Gefahr gesehen. Der Westen wurde
verboten - und war um so attraktiver. Und nur wer attraktiv ist, gewinnt.
Und mal ehrlich,
wo produzierte die "Zone" außer Schlaglöcher mal was Eigenes?
DeDeRon? War Perlon. Das ist traurig, aber es gibt keinen Traurigkeitsbonus.
Traurig lohnt sich kein Leben. Das Volk der DDR dachte westlich. Die DDR-Bonzen
lebten westlich. Und hielten am Westverbot für das Volk fest. Eine Niedertracht
mit Folgen. West-Mode und West-Musik dominierten den Osten.Ins Land geschmuggelte Broschüren mit
Berichten und Abbildungen des vermeintlichen Lebensgeschmacks der Westjugend
hatten Konjunktur. Wer sich das im Osten zu eigen machte, lief nun Gefahr, mit
dem kruden Vorwurf des „antisozialistischen Verhaltens“ konfrontiert zu werden
und wanderte auch schnell mal in den Knast. Der Staat kriminalisierte, was ihm
nicht geheuer war. Das verdeutlichen beeindruckend die im „Мauerkrieger“ - Buch
vorgestellten Lebensläufe.
Raik Adam
besucht einen evangelischen Kindergarten, anstatt jene auf sozialistische
Früherziehung ausgerichtete staatliche Kinderschmiede zu besuchen. Von den
Eltern bekommt er das Zwei-Gesichter-System des SED-Staates erklärt: das
ehrliche für zu Hause, das schummelnde für die Öffentlichkeit. Zuhause, privat,
laufen im im Radio undim Fernsehen nur
Westsender. Die Westverwandtschaft schickt zudem reichlich Jeans und T-Shirts.
In der Schule spielt einmal ein Lehrer im Vollrausch verbotene Platten der Rolling
Stones. Ob die LP's der Rolling Stones in der DDR tatsächlich verboten waren,
entzieht sich der Kenntnis des Rezensenten. Das DDR-Label „Amica“ brachte
zumindest 1983 eine Auswahl der bekanntesten frühen Stones-Hits heraus. Auch
schickte der Rezensent selbst etliche Plattenpakete mit Stones-Scheiben in den
Osten und alle kamen unversehrt bei den Adressaten an. Andererseits hieß der
beim RIAS von Osthörern häufigst gewünschte Titel „Street Fighting Man“. Und
der RIAS war Feindsender Nummer 1. Und so eine durchaus sympathische Eskapade
wie die des betrunkenen Lehrers, konnten im Osten eine Vita frühzeitig dicht
machen und eine weitere Karriere ausschließen. Oder man diente sich sich durch
noch größeres Anpassen dem SED-Staat. Etwa alsSpitzel, der verhasstesten Spezies auf Erden. Für derlei Dienste
erweisen sich die vier Helden des Buches als völlig ungeeignet. Sie standen auf
Amerikanische Literatur (seit der 1950ger-Generation unangefochtene Nr.1: Jack
Kerouacs „On The Road“), gründeten eine eigene Punk-Band, sprühten Graffiti a
la „Stell dir vor, es sind Wahlen und keiner geht hin.“ Jeder im Osten wusste,
wie der Staat sein eigenes Volk betrog. Aber sagt man das laut, klebten einem
schon die Häscher an den Fersen. Die Mehrheit verhielt sich still, noch. Die
"Mauerkrieger" gehörten nicht zu dieser Mehrheit.
Heiko Bartsch
ist seit den gemeinsamen Tagenim
evangelischen Kindergarten Adams Kumpel. Nach der Scheidung der Eltern fällt
Bartschs Erziehung größtenteils den Großeltern zu. Der Großvater gehört zu den
nach dem Krieg enteigneten Hallenser Unternehmern. 1979 reisen die Großeltern
in den Westen auf Besuch und kehren nicht zurück. Nun werden die Freude zur
Familie.Auf dem Schwarzmarkt in Polen
gekaufteSymbole wie das Victory -
Zeichen sind Zaubersymbole und Мutmacher in einem.
Gundor Holesch
könnte es besser haben. Für ihn könnte sich ein Leben in der DDR absolutlohnen. Er stammt aus einer
Akademikerfamilie, die voll auf Parteilinie liegt und den Haushalt
„antiseptisch“ sauber hält. Ab der Grundschule schon zeigt er Interesse fürs
Fotografieren, aber eben auch dafür, mit seinen Kumpels „abzuhängen“
(sic).Zudem schwärmt er wie Raik Adam
und Heiko Bartsch für Heavy-Metal und Punk. Hinzu kommt sein Faiblefür westliche Motorräder. Seine Fotomotive findet
er auf dem Parkplatz der Autobahnraststätte Köckern, gelegen an der
Transitstrecke zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik. Der Verkauf der
Fotos findet auf Flohmärkten und unter Freunden statt. Zur Krönung gründet er
zusammen mit René Boche eine eigene Band. Punk, versteht sich. No Future, die
Pose der Verdammten, ätzende Musik Mehr "auf allem herumtrampeln"
ging nicht. Der Staat wartete auf seine Chance zurückzuschlagen.
René Boche
wächst ohne Vater auf. Die Mutter ist Journalistin und hat immer wenig Zeit.
Von einer Lehre als Fertigungstechniker wird er aus „pädagogischen Gründen“ vom
Staat in eine Lehre als Tischler„zwangsumgesetzt“. Während der Ausbildung erhält er finanzielle
Unterstützung durch die Mutter. Was im Staat geschieht, gefällt ihm nicht. Er
hat andere Pläne und stellt im Jahr 1984 einen Antrag auf Übersiedlung in den
Westen. Doch anstatt ihn in den Westen zu entlassen, zieht ihn der Staat in die
Armee ein. René Boche leistet seine Grund Wehrdienst und hält das schikanöse
Leben in der nationalen Volksarmee (NVA), wie übrigend auch Heiko Bartsch,
fest.
Die Walze zur
Zerschlagung der Punk-Bewegung in der DDR rollte seit dem Jahr 1980 im großen
Maßstab über die DDR hinweg. Immer mehr Spitzel werden in die bunte Szene
eingeschleust. Für den Staat musste stets neues Wissen her: Gibt es Kontakte in
den Westen zu ähnlichen Gruppierungen? Alle Namen, Äußerungen, Absichten. Nach
außen hin soll die DDDR demokratisch dastehen, doch muss der SED-Staat alles in
der Hand haben. Das ist die innerste Parole. Wolfgang Leonhard hielt Wortlaut
und Herkunft in seinem Buch „Die Revolution frisst ihre Kinder“ fest. Der
SED-Staat entzieht den rebellierenden Jugendlichen endgültig sein Vertrauen,
alsihm auch noch deren Reisen zu den
Montagsgebeten nach Leipzig bekannt wird. Die Nikolaikirche ist dem SED-Staat
wie der Westen verhasst. Er reagiert mit dem Einzug der Personalausweise und
erteilt den berüchtigten vierblättrigen „PM 12“. Der PM 12 ist sozusagen letzte
Warnung und erste Stufe der Kriminalisierung (Niederhaltung) vermeintlich
entgegensteuernder Bürger.Wer mit einem
PM 12 außerhalb seines Wohnkreises, seiner Stadt, kontrolliert wird, hat
schlechte Karten, seinen Weg unbehelligtfortzusetzen. Und den Ausweise bei sich zu führen, ist im SED-Staat
Pflicht.
Auslandsfahrten
sind mit einem „PM 12“ völlig unmöglich. Das Schild-und Schwert der SED, das
Ministerium für Staatssicherheit, wartete auf seine Chance, die Jugendlichen
einzubuchten. Und dies ist ihm beinahe auch gelungen.
Ein weiterer im
Bunde, Dirk Mecklenbeck, wird ebenfalls eingezogen. Auch er leistet nur seinen
Grundwehrdienst. Auch er lehnt die großzügigen Angebote des SED-Staates für
länger Dienende ab. Er will sich das Vertrauen dieses Staates nicht verdienen.
Und als er im März 1986 auf Urlaubsfahrt an einer Grenzübergangsstelle von der
DDR in die Tschechoslowakei (Tschechien und die Slowakei bildeten damals einen
gemeinsamen Staat) mit dem Vorwurf auf Vorbereitung zur Flucht (in den Westen)
festgenommen wird, hängt an der Stasi-Angel wirklich ein kleiner fetter Fisch.
Denn an jenem
Tag wird Dirk Mecklenbeck in der Tschechoslowakei von seinem Cousin Raik Adam
erwartet, der wenige Wochenzuvor in den
Westen, nach West-Berlin, ausreisen durfte. Bei diesem Treffen will Dirk
Mecklenbeck an Raik Adam die Briefe mit Heiko Bartsch NVA-Auszeichnungen
übergeben. Sie sollen im Westen veröffentlicht werden. Daraus wird nichts. Dirk
Mecklenbeck wird auf der Fahrt verhaftet. Die Briefe hat er bei sich.Verurteilungen stehen in solchen Fällen bisher
außer Frage. Doch nach einer Woche Untersuchungshaft kehrt Dirk Mecklenbeck in
seiner Kaserne zurück. Wie konnte das geschehen?
Der im Buch
abgebildete Auszug eines Vernehmungsprotokolls jener Haft-Woche gibt darauf
zumindest die eine Antwort, dass die deutliche Nichtbereitschaft, selbst in
dieser ausweglosen Situation, dem SED-Staat Rede und Antwort zu verweigern,
sprich auch dann nicht Verrat zu üben, versetzte nunmehr den Staat in eine
ausweglose Situation. Die Situation - kippt.
„[...] Frage:
Hat ihr Cousin [Raik Adam] ausländische Stellen, Einrichtungen oder Personen im
Zusammenhang mit der Durchsetzungseiner
Übersiedlungsabsichten nach der BRD eingeschaltet? Antwort: Mein Cousin hat
irgendwie entweder weitläufige Verwandtschaft in der BRD und auch zwei seiner
ehemaligen Schulfreunde wohnen seit etwa einem Jahr in Westberlin. Ober er aber
im Zusammenhang mit der Durchsetzung seiner Übersiedlungsabsichten nach der BRD
diese Personen mit einbezogen hat, oder über diese Personen staatliche Stellen
der BRD mit einbezog, entzieht sich meinen Kenntnissen. [...]“
Eine weitere
Antwort ergibt sich womöglich auch aus der Verunsicherung der SED-Organe, seit
dem offiziellen Kurswechsel Gorbatschows. Zwar wurde als äußerstes Zeichen des
Nichteinverständnisses mit einer „Perestroika“ (Umgestaltung) in der DDR das
beliebte sowjetische Wissensmagazin „Sputnik“ verboten, andererseits wurde auch
Heiko Bartsch nicht verhaftet. Vor Gorbatschows war das undenkbar!In der Sowjetunion war ein zweites
"Tauwetter" ausgebrochen und so manches Tabus flog über Bord.
Solschenizyns Meistererzählung über das stalinistische Gulagsystem, „Ein Tag im
Leben des Iwan Denissowitsch“, wurde gedruckt. In der DDR gab für den Besitz
und/oder die Vervielfältigung des Buches weiterhin einige Jahre Knast.
Das alte
DDR-System verharrte in alten Zeiten und zementierte sich. An seine alten
Feinde war es gewohnt. Die neuen Feinde aber meldeten erst gar keine
Widerspruch an. Ihr eigener, ganz anderer Lebensentwurf war es - der
Widerspruch schlechthin. Alles half nichts, keine Änderung in Sicht.
Schließlich will der SED-Staat die Jungens leise loswerden. Nach Raik Adam erhielten
auch die anderen Freunde die Ausreisepapiere. Sie aus der Staatsbürgerschaft
der DDR zu entlassen, war der DDR-Organe innigster Wunsch. Vielleicht. Denn die
Bundesrepublik bezahlte auch für dies sogenannten legal Ausgereisten die
gleiche Summe, wie für die Freigekauften aus den DDR-Knästen. Pro Kopf fast
100.000 DM. Ein "Gott-sei-Dank und-Schwamm-Drüber“ gibt in dieser
Geschichte aber nicht. Für die ausgereisten Hallenser geht der Kampf gegen das
DDR-System in West-Berlin erst richtig los.
Radikalisiert
durch die (hier nicht weiter wiedergegebenen) Schikanen des DDR-Systems und den
Schock über den Jubel in der DDR-Presse über den brutalen Massenmord auf dem
Platz des himmlischen Friedens in Peking, werden nun Aktionen gegen die Mauer
durchgeführt. Durch die "Mauerkrieger", wie sich die Jugendlichen von
nun an nennen, werden mittels Molotow – CocktailsWachtürme in Brand gesteckt, Grenzzäune nach
der Art von Papierschneidearbeiten"verschönert", will sage, zerstört - und kein Mensch soll und
kein Mensch wird dadurch in Gefahr gebracht. Und bald darauf, am 04. November
1989,ist die Mauer auch schon
Geschichte. Sicher auch Weltgeschichte.
Alle
Hintergrunde und Beweggründe werden von den Herausgebern faktenreich
dargestellt. Sie enthalten dem Leser nichts vor. Denn auch Ambivalenz und
Teilhabe der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) an den
Aktionen in West-Berlin gegen die Mauer werden gründlich erörtert. Das Buch
baut sich logisch auf und liest sich wie das Skript eines rasanten Films. Wenn
Mut, Engagement und hohes Handwerk Preise gewinnen könnten, dann bitte einmal
alle an "Mauerkrieger". Eine herausragende Lektüre.
* Albert Camus,
Der Mythos von Sisyühos, Gallimard 1942
Ole Gic, Frank
Willmann(Hg.), Mauerkrieger, Aktionen
gegen die Mauer in West-Berlin 1989, Verlag Ch. Links (VÖ: 24. Februar 2014),
ISBN: 978-3-86153-788-5, 128 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 14,90 Euro
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