Erschienen in Ausgabe: No 98 (04/2014) | Letzte Änderung: 02.04.14 |
von Christian Tornau
Begriff,
Funktion und Reflexion von Bildung in der Spätantike[1]
Bildung vermittelt Chancen.
Bildung ist Bildung der Persönlichkeit und als solche
zweckfrei.
Mit diesen oder ähnlichen Schlagworten lassen sich in etwa
die Fronten der gegenwärtigen deutschen Debatte um Bildung und Universität
benennen. Auf der einen Seite stehen, so scheint es, die „Ökonomisierer“, die
von universitärer Bildung in erster Linie die Produktion passfähiger
Absolventen für den Arbeitsmarkt erwarten; auf der anderen die „Humboldtianer“,
die im Sinne eines humanistischen Bildungsideals auf Bildung als
Menschenbildung insistieren und betonen, daß die Idee der Universität
verlorengeht, wenn Bildung nur Ausbildung ist. Es mag aber sein, daß die Linien
dieser Debatte doch nicht ganz so eindeutig verlaufen wie von derartigen
Schlagwörtern suggeriert. Zum einen könnte man darauf hinweisen, dass
diejenigen, die das humanistische Bildungsideal hochhalten – und das sind
meistens wir, die Professoren – mit unserer vermeintlich zweckfreien Bildung
doch (trotz W-Besoldung) ganz einträgliche und gesellschaftlich anerkannte
Positionen erreicht haben und nicht ganz zu Unrecht stolz darauf sind. Zum
anderen: Wer will es unter den Bedingungen der Massenuniversität den
Studierenden verdenken, wenn sie von ihrer universitären Bildung zumindest auch
eine solide und verwertbare Ausbildung und Chancen auf eine künftige Beschäftigung
erwarten? Selbst das ist jedoch zunächst nur eine Unterstellung – das Ideal
zweckfreier Bildung ist ja zuletzt selten hörbarer vorgetragen worden als
während der jüngsten studentischen Proteste gegen die unter dem Stichwort
„Bologna“ firmierende Hochschulreform.
Es scheint also, dass wir es gegenwärtig mit einer eher
unübersichtlichen, aber desto interessanteren Gemengelage aus den
verschiedensten Positionen und Motivationen zu tun haben. Eine Analyse
derselben ist jedoch an dieser Stelle weder meine Aufgabe noch entspricht es
meiner Kompetenz. Stattdessen will ich mich im Sinne des für unsere diesjährige
Tagung programmatischen Versuchs, der gegenwärtigen Debatte eine historische
Dimension zu geben, einer Epoche zuwenden, die ein prononciert klassizistisches
Bildungsideal ebenso wie einen intensiven Bildungsdiskurs kennt und eine wenn
nicht ähnliche, so doch ähnlich unübersichtliche Gemengelage aufweist, deren
Verständnis genaueste Differenzierungen erfordert: der römischen Spätantike.
Ich will gleich zu Anfang betonen, dass es mir dabei nicht um eine
oberflächliche und anachronistische „Aktualisierung“ geht, die schon daran
scheitern würde, dass die Spätantike wie die gesamte Antike keine
„Universitäten im deutschen Sinn“ kannte. Ich will nicht suggerieren, dass wir
aus dem spätantiken Bildungsdiskurs unmittelbar etwas für die Bildungsdebatte
unserer eigenen Zeit „lernen“ können. Mein Ziel ist weit bescheidener: Ich
möchte den römisch-spätantiken Bildungsbetrieb, das sich mit ihm in der
Wahrnehmung seiner Akteure und Nutzer verbindende Bildungsideal und die
dazugehörige „Bildungsdiskussion“, d.h. einige mehr oder weniger kritische
Anfragen vor allem von christlicher Seite, in großen Zügen skizzieren und
dabei, soweit in diesem Rahmen möglich, jene Differenzierung walten lassen, die
für eine historisch-philologische Betrachtung unentbehrlich und (nun kommt doch
noch so etwas wie eine Nutzanwendung) auch für aktuelle Debatten
erstrebenswert, wegen unserer aller Involviertheit ins Geschehen aber ungleich schwieriger
zu erreichen ist.
Bildung in der Spätantike: Die Grundzüge
Die Spätantike (datieren wir sie vorläufig von der Zeit
Kaiser Diokletians am Beginn des 4. Jh. bis zum Ende der Antike im 7. Jh.) ist
eine Phase vielfältiger politischer, kultureller und natürlich religiöser
Transformationen. Sie erlebt die Entstehung einer Staatsform der absoluten
Monarchie mit einem straff organisierten, in unzählige Rangstufen oder dignitates eingeteilten
Verwaltungsapparat, eine zunehmend ständische Gliederung der Gesellschaft mit
der Unterscheidung von honestiores
und humiles, die Degradierung der
„ewigen Stadt“ Rom von der politischen zur nur noch symbolischen Hauptstadt des
Reiches und die Auseinanderentwicklung und schließlich auch staatliche
Scheidung des westlich-lateinischen vom östlich-griechischen Reichsteil; sie
erlebt in der Philosophie das Aufgehen sämtlicher bisherigen Richtungen und
Schulen im Platonismus und auf religiösem Gebiet den Aufstieg des Christentums
und die schließliche Christianisierung nahezu des gesamten Imperiums. Entgegen
einem verbreiteten, zum Teil sicher auf Edward Gibbon und seine zahlreichen
Nachfolger, aber noch mehr auf spätantike kulturelle Eigenwahrnehmung und
Metaphern wie die vom „Greisenalter der Welt“ (senectus mundi) zurückgehenden Missverständnis war die Spätantike
jedoch keine Epoche des Verfalls oder der Dekadenz. Angesichts unseres Themas
wäre es verführerisch, sich den großen Philosophenschulen platonischer
Observanz in Athen und Alexandria zuzuwenden, die wir uns nur zu oft nach dem
Muster unserer Universitäten vorzustellen geneigt sind. Man würde damit jedoch
riskieren, sich von Bildungsideal und Bildungsbetrieb der Spätantike ein völlig
schiefes Bild zu machen. Ganz unabhängig von der Organisation der
philosophischen Schulen: Philosophische Bildung war die Sache Weniger, die über
ausreichend finanzielle Mittel und Muße verfügten sowie nicht zuletzt über
einen philosophischen Lebensentwurf. Die Mehrheit (und natürlich reden wir
hier, wie stets in der Antike, von den vermögenden oberen und mittleren
Schichten) verstand unter „Bildung“ die seit dem Hellenismus traditionelle und
seit der späten Republik in Rom eingebürgerte zweistufige Ausbildung in
Grammatik und Rhetorik, deren Lernziel zunächst die sichere und fehlerfreie
Beherrschung des Lateinischen und die Kenntnis der lateinischen Klassiker und
sodann (im Bereich der Rhetorik) die Fähigkeit geschliffener Rede und des
zweckrational-überzeugenden Einsatzes von Sprache war. Wer diese zwei Stufen –
in der Regel mit Anfang 20 – durchlaufen hatte, galt im spätantiken Sinne als
gebildeter Mann (für die Mädchenbildung hat das System kaum Bedeutung) und war
für eine Laufbahn im höheren zivilen Beamtenwesen qualifiziert – vir litteratus kann im spätantiken
Latein geradezu synonym mit einem erfolgreichen kaiserlichen Beamten stehen.
Eine staatliche Organisation, formale Abschlüsse und Qualifizierungsprofile gab
es freilich nicht; man verblieb in dem zumeist privatwirtschaftlich
organisierten Bildungsbetrieb, solange man es sich leisten konnte und solange
man davon zu profitieren meinte.
Das auffallendste Merkmal an diesem Bildungsgang ist sicher
sein rein literarischer, auf die Sprache und die Autoren der klassischen
lateinischen Literatur ausgerichteter Charakter. Die uns vorliegenden Zeugnisse
(zumeist grammatische und rhetorische Handbücher und Schulkommentare zu den
Klassikern, etwa Vergil und Terenz), machen auf uns oft einen einerseits
elementaren und andererseits rückwärtsgewandten, ja sklerotischen Eindruck. Der
die Spätantike auf literarischem Gebiet auszeichnende Klassizismus hat in der
Tat zu ihrem Ruf als Epoche der Dekadenz beigetragen. Doch darf man dabei nicht
übersehen, dass im Gefüge der spätantiken römischen Gesellschaft gerade diese
Art von Bildung eine präzise und unentbehrliche Funktion hatte. Die spätantike
grammatisch-rhetorische Bildung erfüllt, wie vermutlich jede Bildung, nach
einem von Konrad Vössing formulierten Schema die sozialen Funktionen der
„Integration, Distinktion, Kommunikation und sozialen Promotion“.[2]
Ich will dieses Schema noch etwas weiter vereinfachen und zwei für unsere
Zwecke vorrangige Gesichtspunkte hervorheben. Erstens: Bildung (lateinisch litterae, griechisch παιδεία)
war ein wesentliches Mittel zur Wahrung eines privilegierten sozialen Status
oder zum sozialen Aufstieg. So festgefügt das kaiserliche Verwaltungssystem mit
seiner rigiden Stufung der dignitates
scheint – es war doch sozial durchlässig genug, um die u.U. kostspielige
grammatische und rhetorische Ausbildung begabter männlicher Kinder zu einer
erfolgversprechenden Investition zu machen. Dies bezeugt uns etwa Augustinus
für Region und Klasse seiner Herkunft, die mehr oder weniger vermögenden
Schichten der nordafrikanischen Provinz; er selbst brachte es immerhin bis zum
Stadtrhetor der westlichen Reichshauptstadt Mailand (rhetor urbis Mediolani), einer Position, die u.a. mit Aufgaben in
der kaiserlichen Repräsentation verbunden war, und durfte von da aus auf eine
Provinzverwaltung unterer bis mittlerer Stufe und eine vorteilhafte Heirat
hoffen – eine Karriere, die dann bekanntlich durch seine Bekehrung ihr Ende
fand. Zweitens: Die spätantike literarische Bildung war gerade dank ihrer
konservativ-klassizistischen Erscheinungsform eine Art Code, an dem sich die
Angehörigen der gesellschaftlichen Eliten gegenseitig erkannten und anhand
dessen sich Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit definieren ließen. Sie war gleichsam
eine Art der Gesittung, die es auch in schwierigen Kommunikationssituationen
über ideologische Grenzen hinweg erlaubte, für alle Beteiligten
gesichtswahrende Formen zu finden und eine gedeihliche Zusammenarbeit etwa
zwischen dem paganen Gouverneur einer Provinz und dem christlichen Bischof vor
Ort sicherzustellen. Über die praktische Notwendigkeit hinaus lässt sich hier
bereits eine Art Ideal des gebildeten Menschen erkennen – ein Bildungsideal im
Sinne der humanitas, in dem die
grammatisch-rhetorische Bildung und das durch sie vermittelte Bewusstsein für
gesellschaftliche Formen als Kriterium des Menschseins in einem emphatischen
Sinne fungiert. Man kann dieses Ideal natürlich wegen seines formellen und
außermoralischen Charakters kritisieren. Aus christlicher Sicht ist es überdies
wegen seiner fehlenden religiösen Rückbindung bedenklich, woraus sich
problematische Situationen für kirchliche Würdenträger ergeben konnten, die als
Angehörige der Funktionseliten auf die kommunikativ-integrative Funktion der
grammatisch-rhetorischen Bildung nicht verzichten konnten. Die höchst
unterschiedliche Art und Weise, wie christliche Akteure der Zeit zu diesem
Problem Stellung nahmen – bzw. eine Stellungnahme bewusst vermieden –, wird uns
sogleich beschäftigen; zunächst betrachten wir jedoch noch etwas genauer das
Ineinandergreifen von Idealität und Pragmatismus im spätantiken
Bildungsdiskurs.
Die Konvergenz von Karriere und Bildung: Macrobius
„Der Aufstieg zu den höchsten Ämtern wird häufig durch
Bildung befördert“[3]
– mit diesen Worten gratulierte der römische Senator Q. Aurelius Symmachus dem
Dichter Ausonius brieflich zum Amt des Konsulats. Damit ist einerseits
pragmatisch die sozial promovierende Funktion der litterae explizit festgestellt; andererseits ergäbe ein solcher
Satz in einem Gratulationsschreiben kaum Sinn, wäre damit nicht auch die ideale
Seite der Bildung des Adressaten angedeutet, die seinen Aufstieg als einen verdienten
erscheinen lässt. Dasselbe Ineinander finden wir in einem der interessantesten
Dokumente nichtchristlicher spätantiker Bildung, den Saturnalien des Macrobius. Neben der breiten Darstellung von
Bildungsinhalten führt uns dieses Werk den mit ihrer Hilfe erreichbaren
gesellschaftlichen Rang ebenso wie das damit verbundene Ideal vor Augen und
liefert uns so gleichsam ein Selbstporträt des gebildeten Heiden im 4. und 5.
Jh. n. Chr. Die wohl um 430 (das
Todesjahr des Augustinus) herum verfassten Saturnalien
sind ein Dialog in der Tradition der Symposionsliteratur. Im Dezember des
Jahres 383 treffen sich mehrere namhafte Angehörige der römischen
Senatsaristokratie, u.a. der soeben genannte Symmachus, um das Saturnalienfest
– das römische Karneval – fern von den Belustigungen des gemeinen Volkes mit
kultivierten Gesprächen zu verbringen.Das Niveau der von den
Dialogpartnern ausgebreiteten Wissensinhalte ist weitgehend das der Sprach- und
Realienkunde des spätantiken Grammatikunterrichts – passend zu dem Widmungsträger
des Werks, dem im Teenageralter befindlichen Sohn des Macrobius, dessen
Unterrichtung es nach Angabe der Vorrede vorzüglich dienen soll. In diesem
Sinne hat der Verfasser die Dialogform zweifellos auch wegen des entscheidenden
pädagogischen Vorteils gewählt, dass sie die grammatischen Stoffe nicht nur
präsentieren, sondern die sich nach spätantiker Vorstellung mit ihnen
verbindenden Funktionen und Ideale gleichsam in Aktion zeigen kann. Die am
Dialog beteiligten Personen sind nicht nur dank ihres schier unermesslichen
Wissens beeindruckende Persönlichkeiten. Vor allem zeichnen sie sich durch
unerschütterliche Stilsicherheit und hohe gegenseitige Wertschätzung aus sowie
durch die Fähigkeit, auch in kritischen Situation weder die Contenance noch das
Gesicht zu verlieren – mit einem Wort, durch perfekte aristokratische
Umgangsformen. Bildung ist hier deutlich das integrierende Element eines
elitären Kreises. Besonders plastisch wird das dadurch, dass Macrobius als
Kontrastfigur zu den Hauptunterrednern einen Störenfried namens Euangelus
eingeführt hat, dessen Wissen eher durchschnittlich und dessen Persönlichkeit
unausgeglichen ist und der den Wert der von den anderen vertretenen Bildung
immer wieder polemisch in Frage stellt. Die Dialogregie des Macrobius gibt den
positiv gezeichneten Hauptunterrednern stets die Gelegenheit, auf diese
Attacken mit souveränem Lächeln zu reagieren und einen Wissenstrumpf aus dem
Ärmel zu ziehen, der den Angreifer mühelos zum Schweigen bringt.
Die idealisierten Hauptfiguren des Macrobius gehören nicht
zufällig der Senatsaristokratie, der angesehensten und vermögendsten sozialen
Klasse Roms, an; Euangelus ist dagegen nicht nur ungebildet, sondern auch von
gesellschaftlich eher obskurem Rang. Wer einem Symmachus nacheifert, befriedigt
damit also auch sein Streben nach Ansehen, Reichtum und möglicherweise sogar
nach politischer Macht – und die Pädagogik des Macrobius suggeriert einen
Tun-Ergehens-Zusammenhang, nach dem sich die Befriedigung solcher Bedürfnisse
für einen im Sinne seines Ideals gebildeten Menschen gleichsam von selbst
ergibt. Es sei dahingestellt, wie realistisch diese Vorstellung im spätantiken
römischen Kontext gewesen ist; in jedem Fall dient Bildung bei Macrobius in
kaum verhüllter Weise der Konservierung gesellschaftlicher Privilegien.
Auffallend ist, dass das Bildungsideal – oder genauer, das
Bildungs- und Gesellschaftsideal – des Macrobius durch und durch säkular ist.
Zwar haben die Saturnalien eine
gewisse religiöse Grundierung im Sinne des die meisten nichtchristlichen
Gebildeten der Zeit auszeichnenden herabgetönten philosophischen Monotheismus,
doch scheint diese Religiosität (die, nebenbei bemerkt, nicht bei allen
Dialogpartnern gleich ausgeprägt ist) eher Bestandteil als Voraussetzung der
Bildung zu sein. Jede antichristliche Polemik fehlt, selbst Kenntnis des
Christentums scheint zu fehlen; der Grund dafür ist vermutlich die Überzeugung
des Macrobius und seiner Dialogfiguren, dass das Christentum, sollte es einmal
im Stil des Euangelus lästig werden, leicht von einer Position der überlegenen
Bildung her zu disziplinieren wäre und ansonsten eine Auseinandersetzung nicht
lohnt. Mit anderen Worten: Ein Christ, der als Gesprächspartner akzeptabel ist,
wird sich seinerseits an die Kommunikationsregeln des spätantiken
Bildungsdiskurses halten und religiös motivierte Brüskierungen vermeiden. Mit
dieser Annahme wird Macrobius für große Teile der alltäglichen Kommunikation
unter Gebildeten sogar richtig gelegen haben, und vermutlich ist das einer der
Gründe für das Beharrungsvermögen des spätantiken Bildungssystems, das trotz
fortschreitender Christianisierung bis ans Ende der Antike stabil bleibt und
erst mit dem Zusammenbruch der staatlichen und urbanen Strukturen erlischt.
Doch hören wir auch andere Stimmen – nach Lage der Dinge sind es die der
Kirchenväter, die über die Jahrhunderte natürlich lauter tönen als die eines
Macrobius oder Symmachus, deren Positionen jedoch (und das muss eine historisch
sein wollende Interpretation berücksichtigen) zu ihrer Zeit nicht
notwendigerweise mehrheitsfähig gewesen sind. Andererseits standen diese Männer
jedoch durchaus im praktischen Leben und mussten aufgrund ihrer Tätigkeiten als
Bischöfe und Priester Strategien im Umgang mit dem gängigen spätantiken
Bildungsdenken und mit den in ihm verwurzelten Menschen entwickeln. Die dabei
implizit oder explizit zum Ausdruck kommende Bildungsreflexion differiert
freilich je nach Wirkungsintention und Adressatenkreis und kann vom offenen
Protest gegen das tradierte Bildungsideal bis zur subtilen Modifikation
reichen. Ich will versuchen, dies anhand der Kirchenväter Augustinus und
Hieronymus (beide etwa eine Generation älter als Macrobius) exemplarisch
vorzuführen.
Eine theologisch-moralische Kritik: Augustinus
Augustinus, der doctor
gratiae und wohl einer der wirkungsmächtigsten Kirchenlehrer aller Zeiten,
war nach seiner Bekehrung und einem kurzen Zwischenspiel die meiste Zeit seines
Lebens Bischof in der nordafrikanischen Hafenstadt Hippo Regius.[4]
Seine christliche Ethik ist durch einen strengen Intentionalismus geprägt:
Nicht die äußere Handlung, sondern nur die innere Motivation ist einer
moralischen Beurteilung zugänglich; und gute innere Motivationen ermöglicht –
jedenfalls nach dem mittleren und späten Augustinus – allein die Gnade Gottes.
„Nur der Glaube rechtfertigt“ (vgl. Galater 2,16), aber der Glaube selbst ist
bereits eine göttliche Gabe. Für unsere Zwecke ist die Bildungsreflexion
Augustins deswegen von besonderem Interesse, weil sie Gesichtspunkte, die in
dem insgesamt zur Indirektheit neigenden Charakter des spätantiken
Bildungsdiskurses (siehe Macrobius) allenfalls implizit vorkamen, direkt und
bisweilen schroff thematisiert und weil kritische Aussagen – jenseits des
traditionellen christlichen Verbalradikalismus im Stile Tertullians – bei ihm
ein philosophisch-theologisches Fundament erhalten.
Augustinus zeichnet im ersten Buch seiner „Bekenntnisse“,
der Confessiones, bekanntlich ein
beklagenswertes Bild von seiner durch den literarischen Unterricht beim grammaticus geprägten Jugend.[5]
Aus der Perspektive des Bischofs und Autors war der junge Grammatikschüler
Augustinus von äußerlichen und unwesentlichen Dingen abhängig, während ihm der
Zugang zu dem Wichtigsten fehlte: zu Gott und zu sich selbst. Das Ergebnis war
ein Zustand von Sündhaftigkeit und Unglück. Inwiefern trug der
Grammatikunterricht zu diesem Zustand bei? Augustinus stellt ihn pointiert dem
Elementarunterricht im Lesen und Schreiben gegenüber:
Nun aber soll mein Gott in meiner
Seele rufen, und deine Wahrheit soll mir sagen: so ist es nicht, so ist es
nicht; besser ist gewiss jene frühere Ausbildung. Denn schau, ich bin eher
bereit, die Irrfahrten des Aeneas und alles Derartige zu vergessen als das
Lesen und Schreiben. [...] Sie sollen nicht gegen mich anschreien, die ich
nicht mehr fürchte, während ich dir bekenne, was meine Seele will [...]; nicht
gegen mich anschreien sollen die Verkäufer und Käufer der Grammatik, denn wenn
ich ihnen die Frage vorlege, ob es wahr sei, was der Dichter sagt: dass Aeneas
einmal nach Karthago gekommen sei, so werden die weniger Gelehrten von ihnen
antworten, dass sie es nicht wissen, und die Gelehrteren werden sogar sagen,
dass es nicht wahr sei (Augustinus, Confessiones
1,22).
Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass damit auch
Fiktionalitätskritik intendiert ist. Wesentlich für das Verständnis dieses und
anderer vergleichbarer Texte scheint mir jedoch das gewollte Paradoxe und bewusst
Provozierende der augustinischen Sprechweise zu sein. Die Kulturtechniken des
Lesens und Schreibens werden mit Blick auf ihre elementare Nützlichkeit positiv
mit den literarischen Studien kontrastiert, die lediglich Fiktives zu bieten
haben – eine befremdliche Gegenüberstellung, die immer noch zu oft (sei es im
Positiven oder Negativen) dem heiligen Zorn des Kirchenvaters mit dem
flammenden Herzen zugeschrieben und nicht mit Blick auf ihre höchst kalkulierte
Wirkung auf den Leser betrachtet wird. Paradoxie ist ein von Augustinus in den Confessiones immer wieder eingesetztes
rhetorisches Mittel, eine Art Verfremdungseffekt, der die gewohnheitsmäßigen,
gemeinhin unreflektierten Haltungen und Wertungen des Lesers in Frage stellen
und ihm zu einer neuen, von Konventionen unbeeinflussten und entschieden
christlichen Perspektive verhelfen soll. Entscheidend ist das Stichwort
„Wahrheit“, mit dem der Text bereits einsetzt. Der Begriff ist von höchster
theologischer Bedeutung, insofern die „im“ Menschen gegenwärtige, sich „rufend“
bemerkbar machende Wahrheit Gottes für die zweite Person der Trinität steht,
für Christus, der in Augustins philosophischem Denken durch seine Gegenwart in
der menschlichen Seele Grund und Kriterium für jede dem Menschen mögliche
Erkenntnis ist. Vor diesem Hintergrund ist der Kern von Augustins Vorwurf gegen
die Grammatiker nicht oder doch nicht in erster Linie, dass die mythologische
Erzählung von Aeneas’ Ankunft in Karthago, die man bei ihnen auswendig lernte,
keine historisch verbürgte Tatsache ist. Der Vorwurf würde in derselben Weise
treffen, wenn alle Erzählungen der Aeneis
historisch richtig wären oder wenn statt der mythologischen Dichtung Vergils
das historische Epos Lucans Schullektüre wäre. Die Grammatiker geben offen zu,
dass sie über die historische Richtigkeit der vergilischen Erzählung nicht
Bescheid wissen oder dass sie sie sogar für falsch halten; Wahrheit ist ein
Gesichtspunkt, der für das Funktionieren ihres Unterrichts ohne Relevanz ist.
Damit, so Augustinus, versperrt der Grammatikunterricht den Zugang zu der in
unserem Inneren vernehmbaren Wahrheit, konkret: zur Gotteserkenntnis und den
Grundsätzen eines ethisch richtigen Lebens.
Das wäre eine völlig
überzogene Kritik, wenn sie sich nur gegen den Schulunterricht und seine
Inhalte, wie eben die Vergillektüre, richtete. Man versteht diesen und ähnliche
Texte Augustins indessen m.E. nicht richtig, wenn man unberücksichtigt lässt,
dass ihre eigentliche Stoßrichtung die gesellschaftliche, sozialisierende oder
im ungewollten oder zumindest nicht ausdrücklich gewollten Sinne erzieherische
Wirkung dieses Unterrichts ist, mit anderen Worten: eben jene Züge der
spätantiken Bildung, die im zeitgenössischen Bildungsdiskurs verschwiegen oder
allenfalls angedeutet wurde und gemeinhin hinter dem idealisierenden Charakter
dieses Diskurses verschwand. Im diametralen Gegensatz zu einem Macrobius, der
der literarischen Bildung per se einen moralischen Nutzen zuschrieb, behauptet
Augustinus, dass die Grammatik nicht nur nicht moralisch neutral ist, sondern
sogar moralisch deformierend wirkt. Wie sich das konkret vollzieht, sagt er uns
in seinem Bericht über die Erziehung zur Fehlervermeidung. Fehler zu vermeiden,
war eines der ausdrücklichen Lernziele des Grammatikunterrichts; und die
wichtigsten, in den Quellen immer wieder genannten Fehler waren die falsche
Aussprache („Barbarismus“) und die falsche grammatische Fügung („Solözismus“).
Wenn allerdings sprachliche Richtigkeit die einzige Norm ist, nach der sich das
erzieherische Handeln richtet, dann, so Augustinus, verkümmert notwendig das
moralische Empfinden der Schüler. Der
Lehrer vermittelt durch sein Verhalten Werte, auch ohne es ausdrücklich zu
wollen.Verursacht durch die Belange des Unterrichts, ergibt sich
bei den Schülern eine inhaltliche Festlegung der ethischen Grundbegriffe „gut“
und „schlecht“ auf äußere, nicht-moralische Werte: Im sozialen Kontext der
Grammatikschule ist derjenige Schüler ‚gut’, der kein höheres Lob als das
seiner guten Aussprache und Ausdrucksfähigkeit kennt und den keine Kritik
härter trifft als die an seinen sprachlichen Fähigkeiten. In dieser Wertsetzung
bestärkt ihn der Erfolg, den er damit erzielt, wenn er etwa seinen Mitschülern
als Vorbild präsentiert wird (vgl. Confessiones
1,28). Bedenkt man nun noch die Bedeutung des Grammatikunterrichts als
Vorbereitung auf das gesellschaftliche Leben, so wird man – so jedenfalls
Augustins Argumentation – überall und gerade an den Schaltstellen der
Gesellschaft Menschen begegnen, die die Werte dieses Unterrichts verinnerlicht
haben und ihr Selbstbewusstsein und Überlegenheitsgefühl allein aus ihrer
sprachlichen Kompetenz beziehen, während ihnen der Gedanke moralischer
Kompetenz fremd ist. Das ist nichts anderes als ein mit höchster analytischer
Schärfe und höchstem moralischen Anspruch vorgenommenes negatives Psychogramm
der Idealfiguren spätantiken Bildungsdenkens, die uns bei Macrobius begegnet
sind, und der zahlreichen Mitglieder der spätantiken Gesellschaft, für die
dieses Ideal das Ziel aller Wünsche war.
Die Confessiones
bieten also eine drastische, das spätantike Bildungsdenken zur Kenntlichkeit
entstellende Bildungsreflexion, die – übrigens in durchaus sokratischer Weise –
auf die innere Verunsicherung eines in diesem Bildungsdenken verhafteten Lesers
zielt. Natürlich ist diese Verunsicherung kein Ziel an sich; die Lektüre der Confessiones soll keine innere
Leerstelle hinterlassen, sondern im Denken des Lesers Raum für die wahre,
christliche Philosophie schaffen. Dieser protreptische und, wenn man so will,
missionarische Zug von Augustins Bildungskritik ist deutlich erkennbar in
solchen Texten, die von konkreten Begegnungen Augustins mit Absolventen des in
den Confessiones kritisierten
Bildungsbetriebs – Christen wie Heiden – zeugen: seinen Briefen. Die Briefe
führen uns klar vor Augen, dass Augustinus sich den scharfen, an wunde Punkte
rührenden und Unausgesprochenes explizit machenden Tonfall der Confessiones, der einen eklatanten Bruch
der ungeschriebenen Regeln des Umgangs unter Gebildeten darstellte, nur
aufgrund einer zweifachen Autorität leisten konnte: zum einen seiner
Amtsautorität als Bischof, zum anderen aber, weil er selbst ein im spätantiken
Sinne hochgebildeter Mann war, dem – zumindest in seinem nordafrikanischen
Umfeld – niemand das Wasser reichen konnte. Wir finden in seinem Briefcorpus
immer wieder Zeugnisse dafür, wie Korrespondenten sich ihm auf der Ebene des
Bildungsdiskurses, d.h. auf der Basis der spätantiken Kommunikationsregeln, zu
nähern versuchen. Natürlich sind seine Reaktionen in diesen Fällen nur
ausnahmsweise von derselben Drastik wie in dem literarisch-überpersönlichen
Text der Confessiones. Je nach
gesellschaftlichem Rang des Briefpartners waren – auch kirchenpolitische –
Rücksichten zu nehmen; im Interesse der Einwirkung auf das Gegenüber ist der
Ton in aller Regel recht verbindlich. Dennoch kenne ich kein Beispiel, in dem
sich Augustinus den ihm vom Gegenüber nahegelegten Regeln einfach fügt.
Spätestens nach einigen höflichen einleitenden Zeilen wird die christlich-ethische
Perspektive eingenommen, und Tonfall und Thema wechseln zu einer schonungslosen
Analyse der Motive und Intentionen des Briefpartners.
Bildung als Vehikel der christlichen Mission: Hieronymus
Eine ganz andere Art des Umgangs mit der Bildung und mit den
Gebildeten finden wir bei Augustins etwas älterem Zeitgenossen Hieronymus, dem
Übersetzer des Alten Testaments aus dem Hebräischen und größten Bibelphilologen
der antiken lateinischen Christenheit.[6]
Der Adressatenkreis seiner exegetischen Schriften und insbesondere seiner
Briefe war die christliche Fraktion der stadtrömischen Senatsaristokratie, die
er für das strenge monastische Asketentum östlichen Stils und das mönchische
Virginitätsideal zu gewinnen suchte. Er hatte es also in noch weit höherem Maße
als Augustinus mit Adressaten zu tun, die von ihrer gesellschaftlichen Stellung
und ihrer ganzen Sozialisation her Vertreter eben jener Bildungsideologie und
jenes aristokratischen Bildungsideals waren, dessen Selbstporträt wir bei
Macrobius kennengelernt haben. Es war trotz des Christentums dieses
Personenkreises und trotz ihrer unbezweifelbaren Sympathien für das Mönchtum zu
erwarten, dass das Bildungsdenken, mit dem sie großgeworden waren und das das
integrative Element ihrer sozialen Klasse darstellte, in innere und äußere
Konflikte mit ihrem neuen, christlichen Bekenntnis geriet – man muss sich
erinnern, dass im 4. Jh. individuelles Christentum zumeist die Folge einer
Bekehrung im Erwachsenenalter war. Und dass insbesondere die unliterarische Sprache
der lateinischen Bibelübersetzung für an Vergil und Cicero geschulte Personen
ein ernstes Bekehrungshindernis war, bezeugen uns nahezu alle lateinischen
Kirchenväter. Hieronymus hatte es also mit einem selbstbewussten,
anspruchsvollen und in mancher Hinsicht schwierigen Publikum zu tun, und er
stellte seine protreptisch-missionarische Strategie darauf ab. Zunächst kam es
darauf an, auf seine Leser den Eindruck eines würdigen Gesprächspartner zu
machen, mit anderen Worten: sich als einen hochgebildeten Schreiber mit
geschliffenen Manieren in Szene zu setzen. Hieraus erklären sich die häufigen
und recht ostentativen Zitate aus der klassischen lateinischen Literatur, die
Hieronymus in seinem eigenen Umfeld, dem Mönchtum, manche Kritik eintrugen, die
aber für seinen Umgang mit einem durch Grammatikunterricht sozialisierten
Publikum unverzichtbar waren. Doch erschöpft sich seine Strategie darin nicht.
Hieronymus versteht es vielmehr, seinen Adressaten in einer ihren höchsten
literarischen Ansprüchen genügenden Form nahezulegen, dass die Bildung, aus der
sie ihr Selbstbewusstsein beziehen, letzten Endes nur eine elementare ist, die
für die wahre Bildung nicht mehr als eine notwendige Voraussetzung etwa vom
Range des Lesen- und Schreibenkönnens ist – und wahre Bildung ist für den
Bibelübersetzer und Philologen Hieronymus selbstverständlich die biblische
Gelehrsamkeit. Das ist Hieronymus‘ Botschaft, die noch aus den
bildungsbeflissensten seiner Briefe spricht und mit der er seine auf ihre
traditionelle Bildung stolzen Adressaten immer wieder von neuem in eleganter
und doch deutlicher Form konfrontiert. Nehmen wir das folgende Stück aus einem
Brief an die römische Aristokratin Marcella, in dem Hieronymus die eben
skizzierte Position nicht nur biblisch mit einem Pauluszitat beglaubigt,
sondern ihr durch eine höchst amüsante, spätantikem literarischem Geschmack
genau entsprechende Pseudo-Bescheidenheit alles Anstößige nimmt:
Du weißt ja, ich habe mich so
lange bei hebräischer Lektüre aufgehalten, dass ich im Lateinischen Rost
angesetzt habe und mir sogar beim Sprechen manche unlateinischen Zischlaute
dazwischenkommen. Verzeih mir also den trockenen Ton. Der Apostel sagt: „Auch
wenn ich in der Sprache ungebildet bin, so bin ich es doch nicht im Wissen“ (2.
Korinther 11,6). Ihm fehlte beides nicht, aber das eine leugnete er demütig ab;
mir fehlt beides, weil ich jede lobenswerte Fähigkeit, die ich als Knabe hatte,
verloren und das Wissen, das ich haben wollte, trotzdem nicht erlangt habe; ich
habe – Äsops Fabel vom Hund – Großes erstrebt und dabei auch das Geringere
eingebüßt (Hieronymus, Epistulae 29,7,2).
Es spricht für die Humorresistenz mancher Philologen, dass
man Hieronymus’ Behauptung, er habe Latein mit syrischem Akzent gesprochen,
bisweilen buchstäblich genommen hat. Hieronymus gibt uns hier in brillanter
Weise zu verstehen, dass seine Stilsicherheit im Lateinischen ebenso wie seine
Expertise in der alttestamentlichen Wissenschaft erstrangig ist, indem er genau
das Gegenteil sagt. Die Hierarchie der beiden Wissensgebiete ist zudem durch
die Assoziation von literarischer Bildung und Knabenalter sowie die Anspielung
auf die Phaedrusfabel – fraglos ein elementarer Text des Grammatikunterrichts –
deutlich gemacht. Von der bisweilen schroffen, auf Verunsicherung angelegten
Kritik Augustins am zeitgenössischen Bildungsideal ist das weit entfernt, doch
regt fraglos auch dieser Text zum Überdenken der in Hieronymus‘ Adressatenkreis
als selbstverständlich geltenden, den Bildungsbegriff betreffenden
Wertsetzungen an. Schematisch gesprochen, ist die Differenz zwischen Hieronymus
und Augustinus (vom theologischen Niveau einmal abgesehen) die zwischen
Explizitheit und Implizitheit, von frontalem Angriff und Dekonstruktion von
innen heraus. Kern der Differenz ist die Frage, wie weit man sich bei der
christlichen Nutzung „paganer“ Kulturgüter und insbesondere der paganen Bildung
auf das Terrain des Gegners begeben sollte. Ich kann hier nur andeuten, dass
dieses Problem in dem langjährigen und keineswegs nur von Harmonie geprägten Briefwechsel
zwischen den beiden Kirchenvätern zu der einen oder anderen Verwerfung geführt
hat.
Es liegt auf der Hand, dass man eine direkte kritische
Thematisierung der sozialen Funktion von Bildung, wie wir sie bei Augustinus
kennengelernt haben, bei Hieronymus nicht finden wird. Sie wäre für seine
missionarische Strategie schlicht kontraproduktiv gewesen. Es gibt allerdings
eine Ausnahme. Gegenüber dem christlichen römischen Senator Pammachius, der
sich nach seiner Verwitwung für eine monastisch-karitative Lebensweise
entschieden hatte, äußert sich Hieronymus wie folgt:
Die erste Tugend eines Mönchs
besteht darin, die Urteile der Menschen zu verachten und stets das Wort des
Apostels im Sinn zu haben: „Wenn ich den Menschen noch gefallen wollte, wäre
ich nicht Christi Diener“ (Galater 1,10). [...] Einen Geist, der eine freie
Bildung genossen hat, bezwingt leichter Scheu als Furcht; wen Qualen nicht
besiegen, den besiegt bisweilen die Scham. Es ist nicht zu unterschätzen, dass
ein vornehmer, beredter und begüterter Mann auf der Straße die Gesellschaft der
Mächtigen meidet, sich mit der breiten Masse mischt, sich bei den Armen aufhält
und unter die Ungebildeten geht, kurz, dass er nicht mehr
Führungspersönlichkeit, sondern Pöbel ist (Hieronymus, Epistulae 66,6,1-2).
Es handelt sich hier um warnende Worte, mit denen Hieronymus
seinen Freund auf Gefährdungen aufmerksam macht, denen sein Entschluß zu einem
streng christlichen Leben ausgesetzt sein wird. Der Hauptgesichtspunkt ist das,
was Hieronymus „Scheu“ (verecundia)
oder „Scham“ (pudor) nennt – mit
anderen Worten, die Erfahrung, von der eigenen sozialen Gruppe, von der man
Anerkennung und Respekt gewohnt war, ausgeschlossen und erniedrigt zu werden.
Gerade weil der Zusammenhalt der senatorischen Schicht nicht primär auf
finanziellen oder Machtinteressen gründet, sondern auf etwas Sublimerem wie der
Bildung, entfaltet er bei vornehmen Gemütern wie Pammachius eine besondere
Bindekraft – Hieronymus stellt sich, sicher nicht ganz zu Unrecht, vor, dass es
dem Senator leichter fallen wird, sich von seinem Vermögen zu trennen, als sich
von der traditionellen klassischen Bildung zu distanzieren. Hieronymus‘
treffende Einsicht, dass die Kultur der spätantiken Gebildeten – wie man nur
leicht anachronistisch sagen könnte – eine Schamkultur darstellt, ist dabei
bemerkenswert: Sie wird durch das Selbstporträt dieser Schicht, das Macrobius
für uns gezeichnet hat, in vollem Maße bestätigt. Das Gegenmittel, das
Hieronymus seinem Adressaten anempfiehlt, ist das der christlichen Demut (humilitas): Pammachius soll an die
Stelle seiner durch Bildung beförderten Zugehörigkeit zur Elite das symbolische
Außenseitertum des radikalen christlichen Asketen setzen (er soll, wie
Hieronymus imaginiert, in der Mönchskutte im Senat sitzen) und in Spott und
Ablehnung seiner ehemaligen Standesgenossen Bestätigung und Kraft für sein
Leben in Christus finden. In einem solchen Kontext, wo das missionarische Ziel
des Hieronymus in der Lösung seines Adressaten von seiner Bezugsgruppe besteht,
war es missionsstrategisch sinnvoll, die integrative Funktion der Bildung für
diese Gruppe ausdrücklich zu benennen und neu, nämlich negativ, zu bewerten.
Wenn wir also in so gut wie sämtlichen anderen Briefen des Hieronymus eine
derartige Umwertung nicht finden, so liegt das nicht an der mangelnden Einsicht
des Autors, sondern an einer differierenden Sprechsituation: In aller Regel
versucht Hieronymus die römischen Gebildeten für seine Sicht des Christentums
zu gewinnen, indem er ihr Selbstbewusstsein und Selbstbild nicht unterminiert,
sondern übernimmt und von da aus Brücken zu seiner eigentlichen Botschaft
schlägt. Die Modifikationen, die er dabei vornimmt, sind ernst zu nehmen;
dennoch ist festzustellen, dass literarische Bildung von Hieronymus – anders
als von Augustinus – im Grundsätzlichen in der gesellschaftlich akzeptierten
Weise eingesetzt wird.
Schluss
Versuchen wir abschließend eine Zusammenfassung und einen
kurzen Ausblick. Wie wir gesehen haben, ist das spätantike Bildungsideal, wie
es sich in den Saturnalien des
Macrobius exemplarisch artikuliert, bei Augustinus Gegenstand einer ebenso
energischen wie scharfsinnigen und philosophisch-theologisch gestützten Kritik
gewesen, während der Umgang des Hieronymus mit demselben Ideal zwar kunstvoll
lavierend, aber seinem Profil nach jederzeit klar und explizit christlich ist.
Keiner dieser Kirchenväter hat sich also mit der sozialen Funktion von Bildung
in der Spätantike und mit der Tendenz, diese Funktion mit einem idealisierenden
Diskurs zu verschleiern, ohne weiteres abfinden wollen. Aber haben sie wirklich
etwas an ihre Stelle zu setzen? Gewiss propagiert Hieronymus biblische
Gelehrsamkeit, und Augustinus entwirft in De
doctrina christiana ein positives Konzept „christlicher Bildung“. Doch
denkt keiner von beiden in dieser Hinsicht gesellschaftlich oder
institutionell. Letztlich werben sie beide für ein entschiedenes, asketisch
orientiertes Christentum; und unter dieser Perspektive gehört das Bildungswesen
unaufhebbar zur „Welt“, dem Bereich des Daseins, der prinzipiell widergöttlich
und mithin unreformierbar ist. Es verwundert daher nicht, dass die spätantike
grammatisch-rhetorische Bildung mit ihrer Tendenz zum „Ineinanderfallen von
Schulbildung und Bildungsideal“ (Vössing)[7]
Bestand hatte, solange die spätantike Gesellschaft selbst bestand – übrigens
auch und gerade bei fortschreitender Christianisierung des Imperiums. Als mit
zunehmender Erosion der staatlichen Verwaltungsstrukturen die Bischöfe
zunehmend an die Stelle weltlicher Funktionsträger traten und das Bischofsamt
zum Karriereweg der Oberschichten wurde, wurde auch deren Bildungsideal fast
bruchlos übernommen – Zeugnisse aus dem römischen Gallien des 5. Jahrhunderts
zeigen uns Bischöfe, die ihrem Bildungsdenken und ihren Umgangsformen nach wie
Zwillinge der Protagonisten des Macrobius wirken. Wenn daher am Ende der
Antike, bei Cassiodor und Isidor von Sevilla, die Klöster als Bewahrer der
antiken Bildung an die Stelle der Schulen treten, so ist das weder der
Bildungsreflexion der Kirchenväter noch überhaupt im engeren Sinne
bildungsgeschichtlichen Ursachen geschuldet, sondern schlicht dem Ende der
urbanen Strukturen, in deren Rahmen die alten Bildungseinrichtungen existiert
hatten.
[1]
Vortrag, gehalten während der 35. Tagung der Sokratischen Gesellschaft am 30. April/1. Mai 2011 in Würzburg.
[2]
K. Vössing, Schule und
Bildung im Nordafrika der Römischen Kaiserzeit, Brüssel 1997, S. 595-613.
[3] Symmachus,
Epistulae 1,20: Iter ad capessendos magistratus saepe litteris promovetur.
[4]
Zur Biographie vgl. P. Brown,
Augustinus von Hippo. Eine
Biographie, München 22000 (11973; zuerst englisch:
Augustine of Hippo. A Biography, Berkeley 22000, 11967).
[5]
Vgl. zum Folgenden C. Tornau,
Augustinus und das ‚hidden curriculum’.
Bemerkungen zum Verhältnis des Kirchenvaters zum Bildungswesen seiner Zeit,
Hermes 130, 2002, S. 316-337; ders., Zwischen Rhetorik und Philosophie.
Augustins Argumentationstechnik in De
civitate Dei und ihr bildungsgeschichtlicher Hintergrund, Berlin/New York
2006, S. 20-35.
[6]
Zum Folgenden vgl. C. Tornau,
Zwischen Rhetorik und Philosophie (oben Anm. 4), S. 73-105. Zur Biographie des
Hieronymus: A. Fürst, Hieronymus. Askese und Wissenschaft in der Spätantike,
Freiburg 2003.
[7]
Vössing, Schule und Bildung
(oben Anm. 1), S. 39-42.
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