Erschienen in Ausgabe: No 41 (7/2009) | Letzte Änderung: 09.03.09 |
von Majid Sattar
Düsseldorf, im Mai 2001. An einem lauen Frühsommerabend
versammelt sich in einer Altbierkneipe in der Düsseldorfer Altstadt politische
Prominenz. Die Leute scheinen guter Dinge, tragen sommerliche Hemden ohne
Krawatte, den Pullover lässig über die Schulter gelegt, oder blumige Kleider.
Die Kneipe ist rappelvoll, viele stehen draußen in der Fußgängerzone. Es ist
der Abend vor dem FDP-Bundesparteitag, auf dem die Partei einen
Generationswechsel vollziehen und den 39 Jahre alten Guido Westerwelle zu ihrem
Vorsitzenden wählen wird. Beim Presseabend zeigen sich die Funktionäre gerne
smart-casual. Es sind ebenso viele Journalisten wie FDP-Mitglieder gekommen;
leitende Redakteure überregionaler Zeitungen, die sonst die Parteitage der
kleinen FDP gerne aus der Ferne kommentieren, reisen an den Rhein, wollen
Zeitzeuge sein. Es bewegt sich etwas in Deutschland, der Generationswechsel der
Partei scheint auch der einer Republik zu werden. Der „Spiegel“ hat pünktlich
zum Parteitag einen Titel über „Die Mächtigen von morgen“ auf den Markt
gebracht. Vorgestellt wird die „Generation Guido“. Rot-Grün, so scheint es,
wird nur Episode, nicht Epoche. Die Achtundsechziger, die 1998 nach dem langen
Marsch endgültig in den Institutionen angekommen waren, kamen offenbar zu spät;
die nächste Wachablösung steht scheinbar bevor. Einen Monat zuvor, im April
2001, hatte der Börsenboom seinen Höhepunkt erreicht. Dass die vergleichsweise
leichten Verluste am neuen Markt einen Wendepunkt darstellten, war im Mai noch
nicht zu erkennen: eine kleine Delle, mehr nicht. Noch befand sich die
Republik im Rausch, mittlere Angestellte eröffneten Depots, Schüler nahmen
Kredite auf, um Aktien zu kaufen, und Analysten verkündeten das Ende des
Gegensatzes von Kapital und Arbeit in der New Economy. Die Grenze zwischen
selbstständiger und unselbstständiger Arbeit wurde für aufgelöst erklärt. Jeder
Beschäftigte sei über Wertpapier- oder Optionenbesitz nun auch Unternehmer.
Nicht die nächste Tarifrunde, sondern die Dividendenausschüttung war das
entscheidende Datum des Jahres. Und die FDP erschien nicht nur als Partei des
Shareholder-Value und der Internet-Generation, sondern verbreitete zudem noch
gute Laune.
Wer Guido Westerwelle an diesem Abend in der Düsseldorfer Kneipe sucht, muss
innerhalb der Menge nur Ausschau halten nach einer ständig umherwandernden
Menschentraube: Er zieht stets umringt von vier, fünf Journalisten durch die
Kneipe, begrüßt Freunde, wird von aufgedonnerten Damen mit Schmatzern bedacht,
lacht viel, gibt sich ausgelassen. Seine Wahl zum Parteivorsitzenden ist nach
dem Sturz Wolfgang Gerhardts ausgemachte Sache. Tatsächlich aber fühlt er sich
auch an diesem Abend getrieben von Jürgen Möllemann. Er steht unter Strom; es
ist die übliche Dosis. Später am Abend setzt er sich endlich, trinkt nun auch
mal ein Bier und führt, immer noch umgeben von Journalisten, die Guido-Show
auf. Was solle denn das Gerede von der Spaßpartei, das komme doch von
Achtundsechzigern, die ihr eigenes Dasein immer schon moralisch überhöht
hätten. Dann legt er los: Worum es denn in Woodstock gegangen sei? Saufen,
kiffen, vögeln – das sei auch Spaßgesellschaft gewesen. Ein Journalist wirft
ein: Die Musik damals sei besser gewesen. Stimmt, konzediert Westerwelle. Am
nächsten Tag spricht er zu den Delegierten. Aus dem hessischen Limburg melden
Agenturen, Außenminister Joschka Fischer habe auf einem Landesparteitag der
Grünen vor der „FDP der Generation Guido“ gewarnt, die die Probleme des Landes
bestimmt nicht lösen werde. Westerwelle ist es ein besonderes Anliegen, die Provokation
zu erwidern. Die Generation Joschka habe doch stets die falschen Entscheidungen
getroffen – ob sie nun gerade Polizisten verprügelte oder den Standort
Deutschland ruinierte. Und so verkündet er in Düsseldorf das Ende der
Vorherrschaft der Achtundsechziger. Westerwelle ist die Verkörperung des
neoliberalen Zeitgeistes. Guido ist der Anti-Joschka.
In Düsseldorf berauscht sich die Partei an sich selbst:
Unabhängigkeitsstrategie, Partei für das ganze Volk, „Projekt 18“ – nichts
scheint unmöglich. Mit Möllemann liefert Westerwelle sich die Redeschlacht
seines Lebens. Im richtigen Moment die richtigen Worte – dafür ist er bekannt.
Alte Weggefährten, die zwanzig Jahre vor Düsseldorf mit ihm die Julis gegründet
haben, erinnern sich an eine ähnliche Rede und an eine Kampfabstimmung, an
deren Ende Westerwelle Vorsitzender der Jungen Liberalen wird. Nun ist er
Bundesvorsitzender der Freien Demokratischen Partei. Noch wichtiger: Er ist
nicht Vorsitzender neben oder unter einem Kanzlerkandidaten Möllemann: „Auf
jedem Schiff, das dampft und segelt, gibt es einen, der die Sache regelt – und
das bin ich“ – mit diesem Satz setzt er den Schlusspunkt in der Machtfrage. Es
ist, wie sich bald zeigt, ein vorläufiger Schlusspunkt. Ein Jahr später stellt
Möllemann mit dem, was als Antisemitismus-Streit in die Geschichte eingehen
wird, abermals die Machtfrage. Westerwelle laviert zwischen Mitmachen und
Ausbooten – und bei der Bundestagswahl im September 2002 wird er 100 Meter vor
dem Ziel von Möllemann zum Stolpern gebracht. Wiederum ein Jahr später springt
Möllemann in den Tod. In dieser Zeit steckt die Partei in ihrer schwersten
Krise.
Guido Westerwelle übersteht diese und zieht sich nach einer Zeit des Rückzugs
am eigenen Schopf aus dem Schlamassel. Heute ist er Oppositionsführer und sieht
sich als Vizekanzler im Wartestand. Seine Partei, die er an einem streng
marktwirtschaftlichen Kurs ausgerichtet hat, präsentiert sich als liberales
Korrektiv zu den etatistischen Parteien linker und rechter Ausprägung. Seine
reaktivierte Unabhängigkeitsstrategie liefert ihm mehrere Koalitionsoptionen.
Er selbst hat die vergangenen Jahre für einen Crashkurs in Außenpolitik
genutzt, hat die Hauptstädte der Welt bereist, hat sich in Debatten der
internationalen Politik eingemischt und eine zuweilen sehr taktisch motivierte
Abgrenzung zum außenpolitischen Kurs der großen Koalition gesucht. Er hat auf
diese Weise kein Geheimnis daraus gemacht, dass es ihn ins Auswärtige Amt
zieht, in den alten Erbhof der FDP, der eine Dekade lang okkupiert war von
keinem anderen als seinem Antipoden Joschka Fischer – und von Frank-Walter
Steinmeier, dem Zufallsprodukt einer Wahl, die doch eigentlich ganz anders
verlaufen sollte. Da es 2002 und 2005 für Westerwelle nicht gereicht hat mit
dem Ziel aller Politik – dem Regieren –, muss es 2009 reichen, sonst wird er
sich wohl nach einem neuen Tätigkeitsfeld umschauen müssen.
Die vorgezogene Bundestagswahl hatte zur Folge, dass die „Generation Guido“
längst mit an der Macht ist in Berlin, ob die Guidos nun Ronald Pofalla oder
Sigmar Gabriel heißen. Die in den späten fünfziger und frühen sechziger Jahren
geborenen Kinder des bundesrepublikanischen Wohlstands regieren mit. Sie
stellen den Typus des Modernisierers dar, der scheinbar ideologiefrei und
pragmatisch das Land reformiert und alle Politik über ihre Außenwirkung
definiert. Westerwelle musste mit ansehen, wie andere aus seiner Alterskohorte
an ihm vorbeizogen – an ihm, der diese Generation prototypisch verkörpert. Nun
bekommt er eine letzte Chance.
Hat ein Mann, der noch nicht das fünfzigste Lebensjahr erreicht hat, der noch
nie ein Staatsamt innehatte, ein Mann, der Politik scheinbar nur als Spiel
betrachtet, eine politische Biografie verdient? Westerwelle macht seit mehr als
25 Jahren Politik. Und obwohl er sich noch in keinem öffentlichen Amt bewähren
musste, hat er doch oft Einfluss auf den Lauf der Dinge genommen – angefangen
im Wendeherbst 1982 als stellvertretender Bundesvorsitzender der Jungen
Liberalen, als er Hans-Dietrich Genscher beim Koalitionswechsel zur Union
unterstützte, indem er einen Teil der FDP-Jugend mobilisierte, bis hin zur im
Jahr 2004 stattfindenden Nominierung Horst Köhlers als Kandidat für das
Präsidialamt, die gemeinsam mit Angela Merkel erfolgte. Eine andere Frage mag
lauten: Hat ein Mann eine Biografie verdient, der bislang das scheinbar
langweilige Leben eines aalglatten Karrieristen geführt hat? Was ließe sich
über einen solchen Mann sagen, außer, dass er immer schon nach oben wollte,
dass der Zweck stets die Mittel heiligte, dass er stets die Nase nach dem Wind
drehte? An diesem Zerrbild seiner selbst trägt Westerwelle gewiss eine
Mitschuld. Doch wird ihm auch häufig schlicht der Spiegel seiner Generation
vorgehalten. Sein Image-Problem ist das einer ganzen Alterskohorte: Der Politikergeneration,
die Guido Westerwelle verkörpert, fehlt jede historische Aufladung ihrer
Politik. Sie sind nicht geplagt oder gesegnet mit biografischen Brüchen. In
dieser Generation gibt es keine Kriegs- oder Wiederaufbau-Erlebnisse, keine
Heldengeschichten von 1968. Politik dient der Selbstverwirklichung. Das allein
freilich unterscheidet sie nicht von ihren Antipoden, die ihre wahre
Antriebskraft stets hinter der großen Sache, der Gesellschaftsveränderung,
versteckt haben. Ihre scheinbar brave Angepasstheit, ihre oftmals zur Schau
gestellte Bürgerlichkeit, ihren geradezu lustvollen Materialismus haben sie in
den siebziger und achtziger Jahren in Abwehr des linken, zukunftsskeptischen,
postmaterialistischen Zeitgeistes entwickelt. Den Mangel an einem Lebensthema
kompensieren sie mit allerlei öffentlich zur Schau gestellter
Selbstbeobachtung. Damit unterstreichen sie noch ihr Bild von der
Selbstbezogenheit. Keiner ist darin so gut wie Westerwelle. Er ist die Ikone
der Generation Ich.
Wie zur ständigen Selbstrechtfertigung arbeitet Westerwelle sich an den
Achtundsechzigern ab. Als er 1996 in den Bundestag nachrückt, kommt es zum
Aufeinandertreffen mit seinem Antagonisten: Joschka Fischer, der seinerzeit
heimliche Oppositionsführer führt im Plenum die ermüdete christlich-liberale
Koalition ein ums andere Mal vor – in der ihm eigenen Selbstgerechtigkeit. Im
gleichen Jahr lädt der „Spiegel“ beide zu einem Streitgespräch. Der Moderator
sucht die Provokation, karikiert Westerwelle als wohlfrisierten Aktenkofferträger,
der über APO-Opas lästere. Westerwelle erwidert ganz liberal: „Andere haben
Lust auf zerfetzte Jeans und Jesuslatschen, ich nicht. Erlaubt ist, was gefällt
und keinem Dritten schadet.“ Fischer provoziert Westerwelle mit einer
eindeutigen Anspielung: „Es ist sicher gut, dass es keinen rigiden Moralkodex
mehr gibt – eine große Leistung der achtundsechziger Generation. Seither ist
eine Vielfalt der Lebensstile möglich. Erfreulicherweise wissen das
mittlerweile auch Konservative zu schätzen.“ Westerwelle übergeht die
Anspielung und erwidert nur den zweiten Teil der Provokation, den
Alleinvertretungsanspruch der Linken auf gesellschaftspolitischen Fortschritt:
„Inzwischen aber wächst eine postgrüne Generation an den Schulen und an den
Universitäten heran, für die Leistungsbereitschaft nichts Negatives ist. Sie,
Herr Fischer, stehen für einen bestimmten Zeitabschnitt der deutschen Politik.
Der ist inzwischen Vergangenheit.“
Fischer ist erst zehn Jahre später Vergangenheit. Und zu Westerwelles
Vergangenheit gehören durchaus auch zerfetzte Jeans. Bevor er der pfiffige
Jungliberale wird, ist Westerwelle ein mitunter aufsässiger Schüler, der grüne
Parkas und lange Haare trägt und sich seine Zigaretten selbst dreht. Ein Teil
seiner späteren Aggression gegen die Achtundsechziger stammt daher, dass deren
kulturelle Dominanz eine Zeit lang, sicher noch auf sehr unpolitische Weise,
auch auf den Heranwachsenden gewirkt hat. Dass er später Exponent einer
Bewegung gegen die „No future“-Mentalität wird, ist auch eine Folge der
Ablehnung, die er im Umgang mit arroganten, linken Bürgerkindern im Bonn der
späten siebziger Jahre erfährt. Zu der Zeit, da sich die Julis formieren und
als Polit-Popper durchs Land ziehen, ist Westerwelle noch nicht der
gescheitelte Yuppie, sondern ein zuweilen schriller Einzelkämpfer, der hungrig
ist und auf der Suche. Trotzig wird er Wortführer des Gegendiskurses zum linken
Mainstream und setzt auf Optimismus, der dieser Strömung freilich als
Kapitulation vor den gegenwärtigen Verhältnissen gilt. Und trotzig erträgt er
das Image, das jenen zuteil wird, die sich der alternativen Konformität
widersetzen.
Bis ins Jahr 2004 macht er seine Homosexualität nicht zu einem öffentlichen
Thema. Da Medien und Politik davon wissen, aber allenfalls kodiert darüber
sprechen und schreiben, dient seine sexuelle Neigung vielen als Steinbruch für
trivialpsychologische Deutungsversuche des Menschen Westerwelle. In kaum einem
Porträt wird nicht ein mangelndes seelisches Gleichgewicht, eine ständige Suche
nach einer Rolle, eine künstlich wirkende Persönlichkeit diagnostiziert. Das
besondere Merkmal wird dabei zur Projektionsfläche für alles und jedes –
mitunter auch für die Kleingeistigkeit des Betrachters. Das öffentliche Bild
Westerwelles kennzeichnet etwas, das in dem Streitgespräch mit Fischer deutlich
wird: Ein Teil der linksliberalen Öffentlichkeit kann diesem „oberflächlichen
Yuppie“ nicht verzeihen, dass er ihre Denkmäler einzureißen versucht, dass er,
der lange Zeit heimliche Homosexuelle, mit Toleranz und Minderheitenschutz
Rechte einfordere, die er doch eben jener politischen Kraft zu verdanken habe,
die er nun so erbarmungslos bekämpft. Die Geschichte Guido Westerwelles und der
Öffentlichkeit ist auch eine Geschichte enttäuschter Erwartungen. Immer wieder
werden schulterklopfende Aufmunterungen an ihn gerichtet, er möge doch endlich
die Maske des kühlen Technikers der Macht ablegen und „er selbst sein“ und
„einfach leben“. Bisweilen kommt er diesen Aufforderungen nach, lädt zu
Homestorys ein und macht die Sache so nur noch schlimmer. Es treibt ihn,
geliebt zu werden.
Sein stilles Coming-out verändert ihn. Auf viele wirkt er seither
ausgeglichener, ruhiger. Doch es ist keine völlige Befreiung. Westerwelle ist
weiterhin auf der Hut. Dieses Grundmisstrauen wurde oft mit seiner lange nicht
offen gelebten Homosexualität erklärt. Es basiert aber mindestens so sehr auf
der Erfahrung früher Niederlagen und auf Selbstzweifeln eines Menschen, der
stets der Jüngste in seinem Wirkungsfeld war. Westerwelle sagt sich ständig, er
dürfe keine Fehler machen. Das macht ihn bisweilen zu einem ängstlichen
Menschen, aber auch zu einem vollendeten Taktiker. Eine Zeit lang – im Jahr
2002 – verliert er bei diesem Taktieren derart an Schärfe, dass er wie seine
eigene Karikatur erscheint. Majid Sattar will mit seinem Buch aus der Karikatur
wieder ein scharfes Bild machen.
Majid Sattar, "...und das bin ich", Guido Westerwelle, Eine
politische Biografie, München 2009, ISBN: 978-3-7892-8303-1.
Majid Sattars Buch ist im Olzog-Verlag GmbH, München 2009 erschienen. Der
Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages, dessen Angebote Sie
im Internet unter: http://www.olzog.de finden.
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