Erschienen in Ausgabe: No 99 (05/2014) | Letzte Änderung: 09.05.14 |
von Heike Geilen
"Der Fährmann hat einmal erzählt,
es gebe im Dorf jemanden, der mehr Erinnerungen von anderen Leuten besitze als
Erinnerungen, die seine eigenen sind.", heißt es im frisch prämierten
"Heimat"-Roman von Saša Stanišić.
Erinnerungen als Zeitweiser. Denn was wir heute Heimat nennen, finden wir nicht
in der Zukunft und auch nicht in der Gegenwart. Heimat kommt aus unserer
Vergangenheit und entfaltet an der Schnittstelle zwischen Gestern und Morgen,
dem Heute, seine Wirkung, um hernach aus unseren Erfahrungen und Erlebnissen
wiederum die Zukunft zu prägen. Um jene zu gestalten,
bedarf es jedoch dem Wissen um das "Alte". Dazu legen wir Archive an,
malen Bilder oder erzählen Geschichten: Zeitzeugen im Fluss der
Erinnerung.
Der in Bosnien geborene Autor, der 1992 mit seiner Familie
im deutschen Exil Zuflucht suchte, hat sich diesem Bewahren von Erinnerungen
und dem Heimatgefühl angenommen. An einem einzigen Tag, genauer gesagt
ist es eine Nacht, verbindet der Autor Gegenwart und Vergangenheit, vermischt
Gestern mit Heute und formt daraus ein Morgen. Anhand eines fiktiven Dorfes in
der Uckermark spult er auf 320 Seiten rund 500 Jahre Zeitgeschichte im
Zeitraffer ab. Gegenständen wird Leben eingehaucht, das Leben mitunter vom
Tod heimgesucht. Aus Altem wird Neues und Neues erscheint alt. Seinen fiktiven
Handlungsort setzt er in die Uckermark: "Füstenfelde. Einwohnerzahl:
ungerade. (...) Es gehen mehr Menschen tot, als geboren werden. Wir hören
die Alten vereinsamen. Sehen den Jungen beim Schmieden zu von keinem Plan. Oder
vom Plan, wegzugehen." Dort wird der Leser Zeuge von den Vorbereitungen zu
einem alljährlich stattfindenden Fest. "Das Dorf putzt die
Schaufenster. Das Dorf poliert die Felgen. Das Dorf duscht. Die Fischerei geht
auf den Hecht, die Bäckerei geizt nicht mit der Marmeladenfüllung.
Mancher Haushalt wird sich wappnen mit einer doppelten Dosis Insulin (...)
Unser Annenfest. Was wir feiern, weiß niemand so recht. Nichts jährt
sich, nichts endet oder hat an genau diesem Tag begonnen. Die Heilige Anna ist
irgendwann im Sommer, und die Heiligen sind uns heilig nicht mehr. Vielleicht
feiern wir einfach, dass es das gibt: Fürstenfelde. Und was wir uns
davon erzählen."
Stanišić changiert dabei zwischen der
Rolle des kühlen Beobachters und der eines in Bildern
versunkenen Kindes. Zusammen ergibt das einen abgründigen
Realismus, Kunst als Fragment - auch da, wo erzählt wird. Denn sein Text setzt
sich aus verschiedensten kurzen Erzählungen zusammen. Manchmal
steht gar nur ein Satz auf einer Seite. Geschichten, die für
sich zu stehen scheinen, aber dennoch ein dichtes Netz ergeben und fest
miteinander verwoben sind. Hinzu gesellt sich ein Geflecht unterschiedlichster
Personen und Dorfbewohner. Da begegnet uns Herr Schramm, "ehemaliger
Oberstleutnant der NVA, dann Förster, jetzt Rentner und, weil
es nicht reicht, schwarz bei 'Von Blankenburg Landmaschinen'", der Glöcknerlehrling
Johann und seine Mutter, die Leiterin der Heimatstube. Die Jugend in Gestalt
von Lada, dem stummen Suzi und Meerrettich-Micha hat ebenso ihren Auftritt wie
Dietmar Dietz, genannt Dietzsche, Briefträger vor der Wende, heute
Rassehuhnzüchter, Frau Reiff mit ihrer Keramik-Werkstatt, die
kranke Anna, Namensvetterin des zu feierndenFestes oder der Adidas-Mann, der leise, suspekte Fremde, wahrscheinlich
Ausländer.
Als verbindendes Glied fungiert Frau Kranz, die neunzigjährige
Malerin, die als zentrale Figur vom Autor komponiert wurde und deren
Bildsprache Stanišić in Worte umsetzt, in
literarische Farbkompositionen. Ihr an die Seite wird der weise Fährmann
gesetzt. Doch der ist tot, wie man bereits auf der ersten Seite erfährt.
Dennoch spukt dessen Seele und die vieler anderer durch die Seiten.
Geisterhafte Erzähler, die in der Uns-Form einen scheinbar
unbeteiligten Blick auf das Geschehen des Dorfes werfen. "Lassen wir die
Träumenden
in Frieden. Vertreiben wir uns die Zeit mit den Ruhelosen: Mit unseren Seelen,
sie schlafen ohnehin nie."
Auf unglaublich intensive Art und Weise versteht es Saša
Stanišić,
mit zum Teil minimalistischen Reduzierungen, eine ausufernde und breite Vielfältigkeit
zu erzeugen. Manches ist erschreckend wahr, anderes grotesk verzerrt.
Sprachgewaltig und -vielfältig sowie in Ton und Duktus
an die Eigenheiten seiner jeweiligen Protagonisten angepasst, bewegt sich der
Autor souverän zwischen den Zeiten, schreibt sogar in
altdeutscher Ausdrucksform. Manchmal wird fast stakkatoartig, dann wieder
ausufernd opulent erzählt. Ein inhaltsschwerer, mehrdeutiger und sich
selbst ständig hinterfragender Text, in den man vielleicht
nicht gleich hineingleitet, der 30...40 Seiten benötigt, um
sich zu entfalten. Doch spätestens dann umfängt
er einen und zieht unweigerlich in seinen Bann. Trotzdem fordert er eine ständige
ungeteilte Aufmerksamkeit. Man muss sich fallen lassen beim Lesen, eintauchen,
um den Sound unterschiedlichster Töne und Variationen, diese
Gedankenmäander, wahr- und aufzunehmen, sie zu verarbeiten.
"Komm, wir nehmen dich mit. Zu deiner Namensvetterin, zu den Menschen, zum
Tier. Zur Fähe, zu Schramm. In den Lebenshunger, in die Lebensmüdigkeit.",
rufen die unruhigen Seelen und eröffnen ein Kaleidoskop aus
bunten Scherben, das geschüttelt, neue, noch
faszinierendere Farbnuancen in anderer Anordnung offenbart. Ein Roman, der
vergangene Aromen ausströmt und sie zu einer neuen Duftkombination
zusammensetzt. Geschichten, die lange unter dem Deckel drängten
und nun nach draußen gelassen werden. "Eine Haut aus Geschichten
ist das, die uns wächst."
Fazit: Saša Stanišić
stapelt Geschichten übereinander, die sich in ihrer Unterschiedlichkeit
trotzdem als gemeinsames Ganzes erweisen. Genau wie eine Trockenmauer aus
Feldsteinen, so erweist sich auch sein Roman als solide Umwährung
einer kleinen Ortschaft, die trotzdem Bestandteil des großen
Weltgeschehens ist. Der Autor erzählt in einer Nacht die
Geschichte eines Ortes und seiner Einwohner, magisch, fast märchenhaft.
Es geht um Tod, um Angst, um Nostalgie, Gegenwart, verlorene Träume,
um Worte und Sätze. Es geht um den Begriff Heimat. Stanišić
webt ein Sprachgespinst aus unterschiedlichsten Fäden, das durch seine Fülle
und Farbigkeit fasziniert. "Es sind so Augenblicke..." oder:
"Ein Gemälde des Zeitvergehens (...) So eine Nacht ist
das."
Saša Stanišić
Vor dem Fest
Luchterhand Literaturerlag (März 2014)
320 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3630872433
ISBN-13: 978-3630872438
Preis: 19,99 EUR
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