Erschienen in Ausgabe: No 98 (04/2014) | Letzte Änderung: 06.04.14 |
von Ingo Friedrich
Sehr verehrte Frau Bundeskanzlerin,
sehr geehrte Herren Präsidenten,
Bitte erlauben Sie, dass ich mich angesichts der Krise um
die Krim und die Ukraine nach meiner 30jährigen Erfahrung im Europäischen
Parlament in großer Sorge an Sie wende:
Vor 100 Jahren war neben den Spannungen in Serbien
insbesondere die Region Elsaß-Lothringen Zankapfel zwischen Deutschland und
Frankreich, ähnlich wie heute die Krim und die Ukraine Zankapfel zwischen dem
Westen und Russland sind. Auch damals wollten die Menschen keinen Krieg und
trotzdem nahm das grausame Schicksal seinen Lauf.
Und heute: Wieder gibt es Feindschaft, Sanktionen,
Gegensanktionen und keinen von allen Beteiligten akzeptierten Ausweg aus der
Krise. Das ist doch absurd in derglobalisierten Welt des 21. Jahrhunderts, in der wir alle voneinander
abhängig sind. Offenbar sind alle bisherigen Bemühungen zur Entspannung und
Entkrampfung der Situation ohne Erfolg geblieben. Die feindlichen Züge rasen
immer noch ungebremst aufeinander zu. In dieser Lage wäre es leichtfertig
allein in den eingefahrenen Bahnen der Diplomatie fortzufahren.
Jetzt müssen neue Überlegungen und Ideen eingebracht
werden, die über die bisherigen Diskussionen hinausgehen.
Vor 100 Jahren gab es erst eine Lösung und Befriedung für
Elsaß-Lothringen als die damaligen Grenzen zwischen Deutschland und Frankreich
ihren trennenden Charakter verloren und sich Deutsche und Franzosen im Rahmen
der europäischen Einigung aussöhnten. Aus diesem Verlauf der Geschichte vor 100
Jahren müssen wir Lehren für die Lösung der heutigen Krise ziehen.
Eine solche Lehre sollte lauten:
Russland schließt mit der EU im Rahmen der sogenannten
Osteuropäischen Partnerschaft einen Vertrag über das Anstreben einer
assoziierten Mitgliedschaft Russlands in der Europäischen Union. Dies würde
dazu führen, dass die EU, die Ukraine und Russland in einem gemeinsamen
Vertragssystem mit gemeinsamen Zielen wie Menschenwürde, Demokratie und
Wohlstand eingebunden wären. Alle Beteiligten bekämen die neue Perspektive
einer friedlichen Entwicklung, ohne den Verlust nationaler Eigenheiten und
Identitäten hinnehmen zu müssen. Präsident Putin könnte die Idee von Zar Peter
dem Großen, nämlich die »Heimkehr« Russlands nach Europa im 21. Jahrhundert
vollenden und damit als größter Staatsmann in die russische Geschichte
eingehen.
Europa würde mit der EU-Assoziierung Russlandszwar eine riesige neue Aufgabe auf sich
nehmen, aber diese Aufgabe wäre sicher leichter zu bewältigen als etwa der
EU-Beitritt der Türkei. Aber es würden sich auch neue außerordentlich
interessante Möglichkeiten eröffnen.
Durch eine solche europäische Perspektive würde Russland
endgültig in Europa »ankommen«, zu seinem Nutzen und zum Nutzen von Millionen
von Menschen in der Ukraine und in Europa. Offene Grenzen zwischen der Ukraine
und Russland würden auch das Zusammenleben zwischen russisch und ukrainisch
fühlenden Menschen in der Ostukraine deutlich verbessern. Die Welt bekäme eine
Friedens- und Stabilitätszone, die von Lissabon bis Wladiwostok reichen
würde.
Die Umsetzung dieser Idee mag derzeit noch als
außerordentlich schwierig erscheinen, aber die Wiedervereinigung Deutschlands
und das Ende der deutsch-französischen Erbfeindschaft galten seinerzeit auch
als unerreichbar.
Ich bitte Sie herzlich, diese Gedanken in Ihre
Überlegungen und Entscheidungen zur Lösung der akuten Krise einzubeziehen.
Um auch eine öffentliche Diskussion zu diesem Thema
führen zu können, erlaube ich mir, diesen Brief zu veröffentlichen.
Mit herzlichen Grüßen
Dr. Ingo Friedrich
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Warszawski 28.03.2014 20:30
Ein aufrichtiger Brief, dem Erfolg gegönnt sei. Dem Frieden und der Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich gingen mindestens zwei Weltkriege voraus mit Millionen von Toten. Wir brauchen keine Wiederholung der Ereignisse. Friede und Stabilität zwischen Lissabon und Wladiwostok sind ein hehres Ziel, welches viel kostet. Es lohnt sich!