Erschienen in Ausgabe: No 98 (04/2014) | Letzte Änderung: 06.04.14 |
von Axel Reitel
[…] vielleicht
sind wir doch keine Wunderkinder, sondern
Arschlöcher, die eine Taube brauchen, um das
zu sehen, was sie nicht begreifen."
Franz Hodjak "Gedicht mit Taube"
Der neue
Gedichtband von Franz Hodjak beginnt mit einem vielsprachigen Reisenden, dem
Autor Franz Hodjak selbst, an einem ihm vertrauten, doch von Zeit, Gott und den
Menschen verlassenen Ort. Dieser Ort ist ein stillgelegter Bahnhof. Keine Züge
kommen mehr an. Keine Züge fahren mehr ab. Doch wurde der Bahnhof nicht
"abgeschlossen". Und es gibt noch ein Gleis. Und auch noch einen
zweitenGast. Das Gedicht heißt
"Aufgelassener Bahnhof".
Aufgelassener
Bahnhof
Einst
wechselte
ich hier die Sprache
wie den Zug.
Jetzt sprechen da
hin und
wieder Engel
und Narren.
Auf nichts mehr wartend,
werfe ich
die Mütze
ins
gefrorene Kiesbett, zum
Schädel des
Schafbocks, in dem
der Kiebitz
nistet.
Dieses
Gedicht zerfällt in zwei Teile, die ein spontaner Akt miteinander verzahnt.
Wobei der zweite Teil zum Begreifen des ersten Teils führt. Der Vogel im
Gedicht benennt uns die Zeit, in der der Reisende den verödeten Bahnhof
inspiziert. Kiebitze sind relativ früh am Brutort anzutreffen, und das ist im
März.
Das
Brutareal des Kiebitz reicht von Europa bis in die Türkei, Iran, Kasachstan,
Mongolei, Nordchina und Ostsibirien. Allerdings verweist das gefrorene Kiesbett
auf eine nördlichere Region.
Aber
Vorsicht: oft wird der Norden mit Kälte und Tod assoziiert. Der Schädel des
Schafbocks im gefrorenen Kiesbett dagegen mag genauso gut auf einen nur
vorübergehenden Tod verweisen: denn im Schädel des Schafbocks brütet der
Kiebitz neue Leben aus. Geschlüpfte Kiebitzjunge sind ab dem 35. Lebenstag
vollbefiedert und flugfähig.
Andererseits
ist so eingefrorenes Kiesbett eine
wirklich nun gewagte Brutstätte und fungiert in diesem Zusammenhang eher als
als Bedrohung des Lebens.
Dagegen die
geworfene Mütze als einerseits ethischer Akt des Mitgefühls (die Mütze als
Wärme speicherndes Dach) und andererseits als das praktizierte philosophische
Prinzip Hoffnung, das auch bereits im Titel des Gedichtes enthalten ist. Denn
es kann nur dann einen aufgelassenen Bahnhof geben, wenn dieser hin und wieder
auch einmal abgeschlossen wurde.
Wenn der
Sinn des Abschließens aber im Abtrennen (vom Leben der anderen) liegt, dann
liegt der Sinn des Auflassens im erwarteten oder im erhofften Fest (des Lebens
mit den anderen).
Beim Kiebitz
handelt sich übrigens um einen Zugvogel, der weit mehr in der Welt herumkommt,
als seine Brutstätte (die zudem immer der Ort auch der eigenen Geburt ist)
verrät. Beginnt der Gedichtband also mit einer Visite in oder nahe
Hermannstadt, Rumänien, dem Geburtsort des Dichters?
Auf jeden
Fall „entführt“ Fanz Hodjak sich in seinen klug inszenierten Gedichten in eine
uns angehende Geschichte. Die Geschichte nämlich von den Königskindern Ost-und
Westeuropa, ein "gefrorenes Kiesbett" dazwischen.
Das wird im
zweiten Gedicht des Buches sogleich noch um einiges klarer - spiegelt es doch
die "Ausgewanderten" und deren Auswanderungsgrund, "Leben / die
nicht mehr zählen", in den Augen der Zögernden, der vor Ort Gebliebenen,
wider, die ihr Bleiben, ihr "lohnendes Leben", durch
Selbstverleugnung teuer zu bezahlen hatten. Sie trauern nun um die einstige
Identität und verharren doch "in dummer / Geste erstarrt, ratlos,
leer".
Das nächste
Tier, im nächsten Gedicht, ist ein Wal. "Taucht ein Wal auf, halten die
Fischer die Zeit an." Ein beliebter Slogan einst lautete: "Nimm dir
Zeit und nicht das Leben." Der Sinn der Zeit ist die Freiheit. Das Symbol
der Freiheit ist der Wal. Doch ist der Wal auch Sinnbild für Sorgfalt (Aufzucht
der Jungen) und Fleiß (unermüdliches Durchpflügen der Ozeane). Freiheit ist vor
allem also die Freiheit, das Richtige zu tun - zum Beispiel auch, "daß man
sich befreit von all dem, / was man für Freiheit/ hält". Das Gedicht
mündet im Wunsch nach dem "besinnlichen blaue Montag", der als
befreiender Schuss Selbstironie fungiert.
Im Gedicht
"Mauer" krachen über dem Abgrund einer "Tiefe, die / nicht
zusammenhält", "Die Schutzengel aus Ost und West" mit
unnachgiebigen "Schuldzuweisungen" aneinander; während im
darauffolgenden (in die Schulbücher gehörende) Sonett "Landgasthof"
in Abzählversen volksliedhaft gegänseblümelt wird:
Landgasthof
Von der
Wasserratte der Schwanz,
von er
Fremde die halbe ganz.
Ein warmes
Kissen fürs Kreuz,
ein alter
Freund der Mark Deutz.
Etwas
weniger Grau in Grau,
etwa mehr
Leben im versteckten Bau.
Die Wirtin
trinkt den Kaffee schneller,
ich mal
schwärzer, mal heller.
Viele
wankenden Brücken,
welche meine
Vertrautheit kippen.
Im
Campingplatz der Zaun,
durch den
verluderte Damen schaun.
Nachts die
stockdunklen Pfade.
Bleiben oder
gehen, das ist die Frage.
Es gehört
für mich zu den schönsten, weil auch Lachen machenden Gedichten in diesem an
lyrischen Goldstücken und "Perspektiven" bemerkenswert reichen Buch.
Sei es die
Frage, warum der Menschen nur immer so "heimatlos" lebt - die Frage,
wann eigentlich etwas begann - von "Wunden" die "rosten" -
eine Fremde, in der "auch die Pappeln" anders zurücksehen" - vom
vorbildhaften Charakter schwadronierender Wildschweine in Städten -
"Honigmonat" und "Viertelmond" - von "zwei
Sonnen" - viel Liebe, die in einem Sommer wohnt - die Unendlichkeit - und
wieder der Kiebitz, der nun als Metapher dient für "das, was zu sagen
ist" - von "Reisenden, die singen":mit jeder neuen Seite betritt der Leser
ungegangene Wege und wird dafür belohnt!
Die Lithografien
des Dresdner Malers, Grafiker und Essayisten Hubertus Giebe perfektionieren
einerseits die Schönheit dieses bibliophil gestalteten Buches, andererseits
erweitern sie den Inhalt zusätzlich um die Dimension der "Bildzeichen
[s]eines [des Malers] Welterlebnisses" (W. Haftmann). Und auch dieses
"Erlebnis", das "Welterlebnis" des Malers, setzt sich
zusammen aus einem Geflecht zahlreicher Erfahrungen. Sei es nachhaltig
einschneidende Historie wie der Bombenangriff auf Dresden (Grafik S. 11), sei
es das erdrückende Lebensgefühl in der zweiten deutschen Diktatur (Grafiken S.
21 ff.), im hermetischen Ostblock (Grafik S. 49) oder gewonnene wie abgetrotzte
Freiheit (Wal-Siege!; Grafik S. 95).
Die hier zu
sehenden Dechiffrierungen einer gesichteten Welt "berühren in einem
eigentümlichen Zurückkommen auf einen alten Ausgangspunk" (Haftmann) und
geben alternative Antworten auf etwa Franz Hodjaks Poem "Was war?",
in dem der Dichter fragt:
Wie war es
nur, als uns der Zufall spülte
ans Ufer,
müde, hungrig, abgewrackt?
Waren wir
Strandgut bloß, war das der Fakt?“
Die letzten
drei Zeilen des Gedichtbandes übrigens lauten:
Nimm mir ein
Stück ab
von der
Hoffnung, die ich allein
nicht mehr
tragen kann.
Sie klingen
für mich jetzt wie begleitende Worte zum lebensrettenden Flug der Mütze.
Franz Hodjak
(Gedichte) / Hubertus Giebe (Lithografien), Der Gedanke, mich selbst zu
entführen, bot sich an, Verlag SchumacherGebler, 98 Seiten, ISBN 978 –
3-941209-28-2.
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.