Erschienen in Ausgabe: No 99 (05/2014) | Letzte Änderung: 09.05.14 |
von Karim Akerma
Der
Antinatalismus ist eine humanistische Moraltheorie, die eine von der
Philosophie weitgehend verdrängte Frage aufnimmt: die Frage, OB Menschen
existieren sollen. Während es zahllose Stellungnahmen zur Frage gibt, WIE die
bereits existierenden Menschen leben sollen, haben sich nur wenige Denker mit
der Frage beschäftigt, ob es eigentlich moralisch vertretbar ist, neue Menschen
zu zeugen. Der Antinatalismus stellt in Frage, was selbstverständlich scheint:
dass auch künftig Menschen gezeugt und geboren werden sollen. Auf den ersten
Blick könnte diese Moraltheorie damit bedrohlich scheinen. Auf den zweiten
Blick aber nimmt sie das folgende POSITIVE ZIEL und das nachstehende GEBOT ernster
als andere Moraltheorien:
POSITIVES
ZIEL
Keine Sterbenden mehr. Eine
Welt ohne Kriege, Massenmorde und Krankheiten. Nirgendwo Schmerzensschreie. Und
niemand, der Hunger oder Durst leidet.
Wer
würde nicht unterschreiben, dass jede Person das ihr Mögliche tun sollte, um
dieses Ziel zu erreichen?
GEBOT
„Handle
nicht so, dass eine Person infolge deines Handelns sterben muss.“
Die
allermeisten Personen beanspruchen für sich, stets so zu handeln, dass infolge
ihrer Handlungen niemand sterben muss. Nun hat aber jede Person, die einen
Menschen zeugte, bereits so gehandelt, dass ein Mensch als Konsequenz dieser
Handlung sterben muss: das eigene Kind.
Und jedes Paar, das entschlossen ist, einen Menschen zu zeugen, hat den
Entschluss gefasst, so zu handeln, dass ein Mensch (das eigene Kind!) als
Konsequenz dieser Handlung sterben muss.
Die
Erreichbarkeit des positiven Ziels
Um
eine Welt ohne Tod und Verderben herbeizuführen, wäre nicht viel zu tun. Genau
genommen wäre gar nichts zu TUN, sondern etwas zu UNTERLASSEN: die
Fortpflanzung. Stellten alle jetzt lebenden Menschen auf einen Schlag die
Fortpflanzung ein, so würde es in gut 100 Jahren auf der Erde keine Kriege,
Krankheiten und sonstigen menschlichen Missstände mehr geben.
Wer
gerade eben, nur wenige Zeilen weiter oben in diesem Text, noch bereit war, zu
unterschreiben, jede Person sollte das ihr Mögliche tun, um eine Welt ohne
menschliches Leid herbeizuführen, wird jetzt vielleicht sagen: Dieser Preis ist
zu hoch! Um zu erreichen, dass es keine leidenden Menschen mehr gibt, dürfen
wir nicht die Menschheit aussterben lassen! Dagegen sagen Antinatalisten: Der
Preis, den Menschen bei einer Fortsetzung der Menschheitsgeschichte zu zahlen
haben, ist unzumutbar! Deshalb sollten wir die Menschheit auf dem Wege nataler
Enthaltsamkeit aussterben lassen.
Kulturgeschichtlicher
Vorläufer des philosophischen Antinatalismus ist ein religiöser Antinatalismus,
dem wir im Jainismus, Buddhismus, Hinduismus und dem Christentum begegnen.
Oberstes Ziel eines Anhängers der ersten drei Religionen ist es, aus dem
Kreislauf des Geborenwerdens und Sterbenmüssens auszutreten. Jesus, seine
Apostel und viele Kirchenväter lehrten oder legten nahe, dass es in Anbetracht
des wertlosen irdischen Daseins und kommenden Himmelsreichs müßig ist, Menschen
in diese niedere Welt hineinzuzeugen.
Im
Unterschied zum religiösen Antinatalismus, der an Glaubensvorstellungen
gebunden ist, versucht der philosophische Antinatalismus mit Argumenten zu
überzeugen. Argumente müssen ihre Überzeugungskraft allein auf dem Boden der
Vernunft entfalten. Das heißt: Wer ein auf den ersten Blick überzeugendes
Argument vorbringt, muss damit rechnen, dass ein Gesprächspartner mit einem für
ihn (den Gesprächspartner) überzeugenderen Gegenargument antwortet. Eine
Einigung kann erstens nur dann erzielt werden, wenn die Diskutierenden keine
doktrinären Standpunkte einnehmen. Doktrinär sind Standpunkte der Art: Dies ist
richtig, weil es schon immer so war, oder weil es in der Natur auch so ist oder:
weil fast alle anderen es auch so machen.
Zweitens kann eine Einigung nur dann erzielt werden, wenn es Gesprächspartner A
(oder B) gelingt, in den Argumenten von B (oder A) Implikationen zu entdecken,
die B (oder A) unannehmbar scheinen, sodass B (oder A) seine anfängliche
Meinung ändert. Mit seinem Gebot, die Zeugung weiterer Menschen zu unterlassen,
stößt der Antinatalismus unweigerlich auf widersprechende Gegenargumente.
Nennen wir diese Argumente „Pronatalistische Argumente“. Betrachten wir einige
pronatalistische Argumente und sehen wir, wie ein Antinatalist darauf
antwortet:
Pronatalistisches
Argument 1: Antinatalisten mischen sich
in etwas ein, was reine Privatsache ist.
Antwort:
Dies ist ein Vorwurf, den man nicht bloß Antinatalisten, sondern jedem Menschen
machen könnte, der versucht, Antworten auf ethische Fragen zu finden, auf
Fragen nach dem richtigen Tun und Unterlassen. Zu philosophieren bedeutet aber
gerade, das, was ist und was intuitiv einleuchten mag oder von der Mehrheit
praktiziert wird, in Frage zu stellen und sich selbst mit in die Frage
hineinzustellen.
Pronatalistisches
Argument 2: Wenn wir auf dem Wege der
Zeugungslosigkeit verhindern, dass zusätzliche Menschen Leid erfahren, dann unterbinden
wir zugleich, dass neue Menschen Glück erleben. Leiderfahrungen werden durch
Glückserfahrungen kompensiert.
Antwort
a): Machen wir ein Gedankenexperiment. Man versetze sich gedanklich in eine
Lage höchsten Glücks, das man selbst für die Dauer einer Stunde, eines Tages
oder Jahres erlebt hat oder dass andere erlebt haben mögen. Anschließend
versetze man sich in einen Zustand größter Schmerzen oder Nöte, die man selbst
oder andere Personen während desselben Zeitraums durchgemacht haben mögen.
Wären wir etwa bereit, den grässlichsten Zahnschmerz oder sonstigen Nerven-
oder Krebsschmerz auch nur eine Stunde, geschweige denn Tage oder Jahre zu
ertragen, wenn man uns anschließendes ebenso langes höchstes Glück in Aussicht
stellt? Kennen wir überhaupt Menschen, die ein Jahr lang, im höchsten Glück
dahinschwebten? Menschen, die jahrelang entsetzliche Schmerzen oder Nöte
litten, gab und gibt es leider zuhauf.
Antwort
b): Wurde etwa das Leid der Insassen von Auschwitz oder Buchenwald durch das
Glück derjenigen kompensiert, die das Deutsche Wirtschaftswunder erlebten?
Pronatalistisches
Argument 3: Wir müssen der Menschheit
noch eine Chance geben.
Antwort:
„Die Menschheit“ scheint ihre Chancen gehabt und verspielt zu haben. Das große
Versprechen lautete: Mit der ungeheuren Steigerung der Produktivkräfte und der
technischen und medizinischen Fortschritte der vergangenen 50, 100 oder 150 Jahre
werden wir Hunger und Elend schon in Kürze zum Verschwinden gebracht haben.
Leider ging mit der Steigerung der Produktivkräfte immer auch eine Entwicklung
der Destruktivkräfte einher. Allzu oft waren erstere bloße Trittbrettfahrer
Letzterer. Seit der Russischen und der Chinesischen Revolution, mit
Zigmillionen Opfern, den Weltkriegen, seit dem Völkermord an den Armeniern, den
Kambodschanern unter Pol Pot, den Tutsis in Ruanda oder den Kongokriegen, seit
Auschwitz und dem Gulag ist die Bewährungsfrist für die Menschheit abgelaufen.
Das Experiment „Fortsetzung der Menschheitsgeschichte“ – mit Milliarden
Mitwirkenden – ist in Gestalt dieser Zivilisationsbrüche zu häufig gescheitert
als dass man es fortsetzen dürfte. Wer sich in Anbetracht der bisherigen Geschichte
für ihre Fortsetzung ausspricht, nimmt billigend in Kauf, dass die für
Milliarden Menschen unerträgliche Vergangenheit und Gegenwart in die Zukunft
fortgeführt wird. Der Antinatalist kann fragen: Wie sollte dies gerechtfertigt
werden? Hierauf kann der Pronatalist antworten:
Pronatalistisches
Argument 4. Es ist besser, miserabel zu
leben als gar nicht zu leben.
Die
Gegenfrage lautet: Für WEN sollte es besser sein, miserabel zu leben als gar
nicht zu leben? Bevor ich existierte, war ICH nicht da, für den es hätte besser
sein können, zu existieren als nicht zu existieren. Wer behauptet „Es ist
besser, miserabel zu leben, als gar nicht zu leben“ ist falsch informiert; denn
für ein Nichts und für einen Niemanden gibt es kein Besser oder Schlechter.
Um
sagen zu können, dass es für jemanden besser ist, zu existieren als nicht zu
existieren, müsste man schon einen Siebten Himmel ins Auge fassen, in dem die
im Anfang der Zeiten gottgeschaffenen Seelen hausen, die sodann mit der Zeugung
auf die Erde gelangen. Tatsächlich kennt der Talmud diesen Siebten Himmel, er
ist aber kein philosophisches Argument. Nichtexistierende Menschen sind in den
Wunschvorstellungen von Personen präsent, die Eltern werden möchten. Außerhalb
davon haben sie kein Dasein. Auf einen „Menschenniemand“, etwas, das nicht ist,
finden die Prädikate „gut“ oder „schlecht“ keine Anwendung.
Pronatalistisches
Argument 5. Wenn man sie danach fragt,
sagen viele Menschen, sie würden ganz gern leben. – Warum sollte es moralisch
fragwürdig sein, dass sie gezeugt wurden?
Antwort:
Wer antwortet, gern zu leben, tut dies meist aus einer erträglichen Lebenslage
heraus. Allerdings gerät so gut wie jede Person in Situationen, die so
unerträglich sind, dass sie dem Wunsch äquivalent sind, die eigenen Eltern hätten
sich nicht fortgepflanzt: Weil die betreffende Person die intolerablen
Verluste, Ängste, Seelenqualen, körperlichen Schmerzen oder Erniedrigungen dann
nicht hätte durchmachen müssen.
Des
Weiteren verläuft das zum Leben gehörende Sterben der wenigsten Menschen
erträglich. Sollen wir denen unter ihnen, die ein angenehmes Leben hatten,
zurufen: „Reißen Sie sich zusammen, ihr bisheriges Leben verlief doch ganz
passabel!“? Dies wäre zynisch. Verantwortlich und moralisch zu handeln heißt
hingegen, so zu handeln, dass keine Menschen in unerträgliche
Sterbenssituationen geraten.
Pronatalistisches
Argument 6. Wem das Dasein nicht gefällt,
der kann doch Selbstmord begehen!
Wer
so argumentiert, vergisst, dass unsere psychischen Fliehkräfte zumeist
schwächer sind als die biologischen Anziehungskräfte, die uns im Dasein halten:
Wer seine Existenz beenden will, muss die Todesangst überwinden, die ihn darin
festhält. Der Satz: „Wenn dir dieses Dasein nicht gefällt, dann beende es doch!“
ist daher ein kaum zu überbietender Zynismus. Auch deshalb, weil dieses Dasein
nicht selbstgewählt, sondern elternverursacht ist.
Pronatalistisches
Argument 7. Warum sollten Menschen sich
nicht fortpflanzen, da die Fortpflanzung doch etwas ganz Natürliches ist?
Antwort:
Menschen sind moralfähige Kulturwesen. Anders als Tiere können wir hinterfragen,
ob das, was unsere Natur uns zu tun gebieten mag, richtig oder falsch ist und wir
können alles „Natürliche“ kulturell überformen.
Pronatalistisches
Argument 8. Was soll aus all den (Nutz-)Tieren
werden, wenn es dereinst keine Menschen mehr gibt? Darf der Mensch die Tiere einfach
allein lassen?
Antwort:
Ein überzeugter Antinatalist wird alle empfindenden Wesen berücksichtigen und
sich vegetarisch ernähren, um dazu beizutragen, dass möglichst wenige
leidensfähige neue Nutztiere gezüchtet, geboren, gemästet und geschlachtet
werden. Eine sich von der Erde zurückziehende Menschheit wäre vielleicht auch
imstande, die Wildtiere auf eine für sie leidfreie Weise „mitzunehmen“, etwa
durch Sterilisation.
Schluss
Gemäß
antinatalistischer Moraltheorie ist es geboten, sich nicht fortzupflanzen. Denn
das Ergebnis jeder gelungenen Fortpflanzung ist nicht nur, dass ein weiterer
Mensch sterben muss. Er muss auch das gesamte Leidens- und Leistungspensum
durchmachen, das für einen Menschen seiner Zeit und Gesellschaftsschicht
typisch ist. Als da sind: Kinder- und Erwachsenenkrankheiten, etwa 10 Jahre
Schule gefolgt von Jahrzehnten der Erwerbsarbeit. Und wer einmal da ist, ist (von
den eigenen Eltern!) dazu verurteilt, den Tod der Eltern, geliebter Verwandter,
von Freunden und Haustieren mitzuerleben. Außerdem wird jeder Einzelne von
seinen Eltern in ein bestimmtes Zeit- und Naturgeschehen hineingestellt, dem er
sich nicht entziehen kann und das – aufs Ganze gesehen – seit Jahrtausenden zu
den menschenverursachten und natürlichen Großkatastrophen führt, von denen die
Geschichtsbücher berichten, solange die Überlieferung zurückreicht.
Wer
etwas scheinbar so Selbstverständliches wie die menschliche Fortpflanzung begrüßt
oder praktiziert, nimmt nicht nur in Kauf, dass den hinzukommenden Menschen ein
elender Tod beschieden ist, sondern billigt, dass die Interaktionen der neuen
Menschen mit dem geschichtlichen und politischen Erbe und dem Zustand der Natur
die bisherige Gattungsgeschichte mit ihren Milliarden Opfern in eine
unabsehbare Zukunft fortsetzen. Dies sollte Grund genug sein, dass eine Person
ihre bislang positive Sicht menschlicher Fortpflanzung revidiert.
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