Erschienen in Ausgabe: No 99 (05/2014) | Letzte Änderung: 09.05.14 |
von Jörg Bernhard Bilke
Dieses Buch über die acht Ostberliner Jahre 1948/56 des
„Stückeschreibers“ Bertolt Brecht (1898-1956) war längst fällig, konnte aber
erst nach dem Mauerfall vom 9. November 1989 geschrieben werden, als Archive,
Akten der „Staatssicherheit“ und Nachlässe zugänglich wurden. Verfasser dieses
Buches ist der 1926 in Leipzig geborene Literaturwissenschaftler Werner Hecht,
der bei Hans Mayer studiert hat und 1959 von Helene Weigel (1900-1971) ans
„Berliner Ensemble“ verpflichtet worden ist. Er war 1985/2000 Mitherausgeber
der 32bändigen Werkausgabe im Suhrkamp-Verlag und ist Autor der Bücher
„Brecht-Chronik“ (1997) und „Leben Brechts in schwierigen Zeiten“ (2007).
Das neunte Kapitel dieses höchst spannenden Buches, das den Titel trägt „Keine
Lösung. Der 17. Juni 1953“, ist das aufschlussreichste, was das Verhältnis des
bis zu seinem Tode 1956 parteilosen Kommunisten Bertolt Brecht zum
praktizierten Kommunismus Walter Ulbrichts (1893-1973) angeht. Diese Verhältnis
war zwiespältig und voller Widersprüche, zumal der im Oktober 1948 aus Zürich
ein- gereiste Dramatiker nie DDR-Bürger war, sondern 1950 die österreichische
Staatsbürgerschaft annahm, seine Werke beim Suhrkamp-Verlag in Frankfurt/Main
erscheinen und seine Westtantiemen auf Schweizer Banken überweisen ließ. Selbst
die ein Jahr vor seinem Tod erschienene„Kriegsfibel“ (1955) war strenger Zensur
unterworfen: Sie wurde als Ausdruck des „reinsten Pazifismus“ verunglimpftund
durfte nur in gereinigter Fassung und minimaler Auflage erscheinen! Die
vollständige Ausgabe erschien 1994.
Am Spätnachmittag des 16. Juni 1953 erfuhr Bertolt Brecht in Berlin-Weißensee
vom Streik der Ostberliner Bauarbeiter. Am Abend dann trat der verängstigte
SED-Vorsitzende Walter Ulbricht im Berliner Friedrichstadtpalast auf und
erklärte: „Die Partei hat die Verbindung zu den Massen verloren!“ Daraufhin
nannte Bertolt Brecht den Streik eine „selbstverschuldete Notwendigkeit“ und
forderte im Gespräch mit seinem Mitarbeiter Manfred Wekwerth (1929) als Lösung
des Konflikts: „Die Streikenden bewaffnen!“
Seine Mitarbeiterin Käthe Rülicke (1922-1992) schrieb mehr als fünf Jahre
später, am 13. Dezember 1958, ihre Erinnerungen an den Tagesablauf Bertolt
Brechts am 16./17. Juni 1953 nieder und übergab das Manuskript Hans Bunge, dem
Leiter des Bertolt-Brecht-Archivs 18956/62. Dieser vertrauliche Bericht aber
wurde von Helene Weigel, der Witwe, weggeschlossen und war niemandem
zugänglich. Der Niederschrift Käthe Rülickes zufolge gingen sie, Bertolt Brecht
und sein Freund Jacob Walcher (1887-1970), ein 1951 aus der SED
ausgeschlossener Kommunist, am frühen Morgen des 17. Juni durch Ostberlin. Der
Generalstreik war ausgerufen, und Bertolt Brecht soll „tief bestürzt“ gewesen
sein, dass Arbeiter gegen die Arbeiterregierung streikten!
Eine Stunde später schrieb er drei Briefe: an den Sowjetbotschafter Wladimir
Semjonow (1911-1992), an Ministerpräsident Otto Grotewohl (1894-1964) und an
Walter Ulbricht. Von diesem dritten Brief ist am 21. Juni, als der Aufstand
niedergeschlagen war, in der SED-Zeitung „Neues Deutschland“ lediglich der
letzte Satz veröffentlicht worden, der Bertolt Brechts Einschätzung des 17.
Juni in ein völlig falsches Licht rückte: „ Es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen in
diesem Augenblickmeine Verbundenheit mit der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands
auszudrücken.“
Was der Absender aber im zweiten Satz seines Briefes kritisch angemerkt
hatte,dass er jetzt eine „große Aussprache über das Tempo des sozialistischen
Aufbaus“ erwarte, war unterschlagen worden. Das nämlich hätte zu einer
„Fehlerdiskussion“ zwischen DDR-Bevölkerung und Staatspartei geführt, die
unbedingt zu vermeiden war, bei Strafe des Untergangs!
Um 13.00 Uhr am 17. Juni wurde von der Besatzungsmacht der Ausnahmetzustand
verhängt. Die SED-Führung hatte längst beschlossen, dass der Arbeiteraufstand
keiner war, sondern ein von Westberlin aus gesteuerter „konterrevolutionärer
Putschversuch“. Nicht die SED war schuld, sondern der „Klassenfeind“ jenseits
der innerdeutschen Grenze!
Empört darüber, dass der Schlussatz seines Briefes,der einen völlig falschen
Eindruck vermittelte, von der Redaktion des „Neuen Deutschland“ in die Reihe
der Ergebenheitsbekundungen an SED-Führung und DDR-Regierung eingerückt worden
war, veröffentlichte Bertolt Brecht einen zweiten Text in der SED-Zeitung, worin
er von „berechtigter Unzufriedenheit“ der Arbeiter sprach und noch einmal die
„dringlich große Aussprache über die allseitig gemachten Fehler“ anmahnte. Ein
Versuch, mit Walter Ulbricht über den Aufstand zu sprechen, misslang.
In Westdeutschland löste die angebliche Unterwerfung des „Stückeschreibers“
unter die Deutungshoheit der Partei „große Verwirrung“ und einen „Sturm der
Entrüstung“ aus. Jetzt galt Bertolt Brecht als Parteigänger Walter Ulbrichts,
dessen Dramen von den Theaterspielplänen abgesetzt wurden. Im Brief an seinen
westdeutschen Verleger Peter Suhrkamp vom 1. Juli 1953 schrieb er, die Arbeiter
wären „zu Recht verbittert“ gewesen. Peter Suhrkamp wagte nicht, diesen Brief,
wie es der dringliche Wunsch seines Verfassers gewesen war, zu veröffentlichen.
Der Dichter zog sich, im Juli/August 1953 in sein Sommerhaus in
Buckow/Märkische Schweiz zurück und arbeitete an einer Gedichtsammlung, die er
„Buckower Elegien“ nannte und die erst 1964 erscheinen konnte. Dort fand man
das Gedicht „Die Lösung“, worin der Regierung angesichts ihrer Unfähigkeit
vorgeschlagen wurde, „das Volk aufzulösen und ein anderes zu wählen.“ Ein
Tagebucheintrag Bertolt Brechts vom 20. August 1953 begann mit dem Satz: „Der
17. Juni hat die ganze Existenz verfremdet.“
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