Erschienen in Ausgabe: No 99 (05/2014) | Letzte Änderung: 09.05.14 |
von Heike Geilen
Mancher auf der Wanderschaft
Kommt ans Tor auf dunklen Pfaden.
Golden blüht der Baum der Gnaden
Aus der Erde kühlem Saft.
Georg Trakl
Kalisz, jeweils rund 100 km von Breslau, Posen und Łódź entfernt und einst
bekannt für seine Spitzen, war vor dem Zweiten Weltkrieg voll mit kleinen und
größeren Fabriken, die ganz Russland mit dem begehrten Geflecht versorgten.
Zudem darf sie sich als eine der ältesten urkundlich belegten Städte Polens
nennen (150 n. Chr.). Die keltische Wortwurzel bedeutet Quelle oder Ursprung.
Gleich in mehrfacher Hinsicht spielt Kalisz im Debütwerk der in Kiew geborenen
und auf Deutsch schreibenden Autorin eine bedeutende und zugleich metaphorische
Rolle. Da ist zunächst der Stammbaum. Auch er hat eine Quelle, einen Ursprung:
seine Wurzel. In kompakter Form versucht man so weit wie möglich zu seinen
Vorfahren und seiner Familiengeschichte vorzudringen. Beim Erforschen von diversen
Familienstrukturen weist wiederum die alte Handwerkskunst der
Spitzenherstellung mit ihrem systematischen Wechsel von Verdrehen, Verknüpfen,
Verkreuzen und miteinander Verschlingen von Fäden eine gewisse Dualität auf.
Und in Polen scheinen die jüdischen Wurzeln Katja Petrowkajas ihren Anfang
genommen zu haben.
Um ihrer "manchmal schneidend scharfen, manchmal
wermutherben Einsamkeit", die ihre Ursache im offensichtlichen Fehlen
einer großen Familie hat, auf den Grund zu gehen und ihren Familienbaum
vielleicht doch noch wachsen zu lassen, taucht die Autorin in ihre
Vergangenheit ab. Dessen scheinbar undurchdringbares Gewebe erweist sich
zunächst als beinahe gesichts- und geschichtslos. Doch nach und nach erkennt
sie Strukturen im Netz und ihre Vorfahren erhalten Konturen. Allerdings
entpuppt sich dieses Unterfangen alles andere als linear, durchgehend und vor
allem simpel. Bei ihren Nachforschungen, ihrem Stöbern im "Baumüll der
Geschichte", stört sie nicht selten die "Geister der Vergangenheit",
die mitunter recht unwirsch reagieren, wenn sie deren Nebel lüften will.
"Ich hatte gedacht, man braucht nur von diesen paar Menschen zu erzählen,
die zufälligerweise meine Verwandten waren, und schon hat man das ganze
zwanzigste Jahrhundert in der Tasche. Manche aus meiner Familie waren geboren,
um ihren Berufungen nachzugehen in dem hellen, aber nie ausgesprochenen
Glauben, sie würden die Welt reparieren. Andere waren wie vom Himmel gefallen,
sie schlugen keine Wurzeln, sie liefen hin und her, kaum die Erde berührend,
und blieben in der Luft wie eine Frage, wie ein Fallschirmspringer, der sich im
Baum verfängt. In meiner Familie gab es alles, hatte ich überheblich gedacht,
einen Bauern, viele Lehrer, einen Provokateur, einen Physiker und einen Lyriker,
vor allem aber gab es Legenden."
Zunächst lernt sie Deutsch. Denn "dieses Deutsch war
mir eine Wünschelrute auf der Suche nach den Meinigen, die jahrhundertelang
taubstummen Kindern das Sprechen beigebracht hatten, als müsste ich das stumme
Deutsch lernen, um sprechen zu können, und dieser Wunsch war mir
unerklärlich." Sie fährt als Russin aus Deutschland, wo sie mittlerweile
lebt, in das jüdische Polen ihrer Verwandten. Aus Erinnerungsfetzen,
zweifelhaften Notizen und Dokumenten, gefunden in Archiven ("Geschichte
ist, wenn es plötzlich kein Menschen mehr gibt, die man fragen kann, sondern
nur noch Quellen."), öffnet sie das versiegelte Fenster ihrer frühen
Kindheit in Kiew in der sozialistischen Sowjetunion und auch das ihrer Ahnen,
die Taubstummenschulen gründeten. Den meisten Widerstand verspürt sie beim
"Entriegeln" ihres Judentums, das für sie bis dato gleichfalls sprachlos
blieb, da ihre Familie einen großen Deckmantel des Schweigens darüber gelegt
hatte. Blatt für Blatt, Baustein für Baustein, baut sie ihre verschüttete
Geschichte wieder auf. Katja Petrowskaja lässt eine Zeile in die nächste
hineinragen, legt eine weitere darüber und überlagert, genau wie bei gehäkelten
und gewebten Spitzendeckchen. Was sich ihr beim Graben und Recherchieren offenbart
und mit immer größerer Intensität zu Tage tritt, erinnert mitunter an eine
"Rochade des Schicksals", an "Zufälle in Zeit und Raum" und
lässt nicht nur einmal tief durchatmen. Beim Versuch, die inneren Verbindungen
ihrer Familie und deren Leitmotive zu begreifen, wird die Suche fast zur Sucht.
Petrowskaja erzählt nicht in geraden Linien. Sie kreist und
kreist, reißt ab, "wie die Kaliszer Spitzen, ich sah kein Ornament, nur
kleine Fetzen..." Ihre Recherchen und Erkenntnisse offenbaren zuweilen
mehr als ein gesunder Menschenverstand aufnehmen und begreifen kann. "Was
wäre wenn, was wäre falls, was, wenn es nicht geschehen wäre, oder was wäre
gewesen, wenn sie (...) geblieben wären..." Letztendlich stellt sie fest:
"dass ich keine Macht über die Vergangenheit habe, sie lebt, wie sie will,
sie schafft es nur nicht zu sterben." "Vielleicht Esther" bietet
ein Gewebe, ein sprachliches Ornament, als befände man sich selbst "in der
Windrose des Geschehens". Zuweilen treibt es einem Tränen in die Augen,
man schluckt und hält den Atem an. Eine ehrliche, unverstellte Stimme, die
geradeheraus, aber auch mit Witz und Charme das Unaussprechliche der
Vergangenheit benennt. "Man sagt jüdisch, weiß aber nicht, womit das Wort
gefüllt ist." Die Autorin füttert es wieder mit Leben, unverkrampft und
eigenständig. "Ich wollte eine Lösung finden, für mich und für diejenigen,
die heute hier wohnen und arbeiten, ich wollte mich erinnern und darüber
schreiben, es war aber eine Tätigkeit ohne absehbares Ende." Am Ende spürt
sie, wie ihre persönliche Zukunft immer größer und ausgedehnter wird. Die Krone
des eigenen Familienbaumes breitet sich schattenspendend über ihr aus.
Fazit: Ein ergreifendes, ein bewegendes Buch, das den Leser zuweilen mit einer
ungeheuren Wucht aus Emotionen übermannt. Emotionen, die keineswegs rührselig
oder sentimental daherkommen, sondern zutiefst im Inneren etwas zum Schwingen
bringen. Doch Vorsicht. "Vielleicht Esther" fördert einen Text
zutage, den man aufgrund seiner Tiefe und Substanz nicht mal nebenher liest,
sondern den man nahezu körperlich verinnerlicht. Ein Text, der nicht einfach zu
lesen ist und einige Konzentration erfordert, der aber unglaublich bereichert
und vor allem "global" erinnert. Danke dafür, Katja Petrowskaja!
Javier Cercas
Outlaws
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Titel der Originalausgabe: Las leyes de la frontera
S. Fischer Verlag (April 2014)
512 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100105109
ISBN-13: 978-3100105103
Preis: 24,99 EUR
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