Erschienen in Ausgabe: No 99 (05/2014) | Letzte Änderung: 09.05.14 |
von Heike Geilen
Die Heldentaten Robin Hoods sind ein fester Bestandteil
unserer modernen Mythologie und ein strahlendes Beispiel für Abenteuerlust und
den Kampf um Gerechtigkeit. Das gilt auch für die vom japanischen Fernsehen ab
1973 produzierte Serie "Die Rebellen vom Liang Shan Po", die zu
Beginn der achtziger Jahre auch in Deutschland ausgestrahlt wurde und damals
die Teenager europaweit begeisterte. Beide Geschichten, sowohl die
mittelalterliche, englische Legende aus dem Sherwood Forest, als auch die im
12. Jahrhundert in China spielende Variante heroisieren das Leben der
Gesetzlosen und Geächteten. Outlaws, wie es bereits der Titel verrät, sind auch
das Thema des Romans des spanischen Autors Javier Cercas. Diesen lässt er
allerdings im Sommer 1978 in Spanien beginnen.
General Franco ist bereits drei Jahre tot. Doch noch immer scheint das Land
unter seiner autoritären, diktatorisch-blutigen Herrschaft mit ihren brutalen "Säuberungsaktionen"
nahezu paralysiert zu sein. Die baskische Untergrundorganisation ETA, einst als
Widerstandsbewegung gegen die Franco-Diktatur gegründet, hat sich zwar
gespalten, aber Teile kämpfen weiter um eine Autonomie des Baskenlandes. Auch
Katalonien verzeichnet deutliche Unabhängigkeitsbemühungen. Javier Cercas setzt
seine Erzählung in den Nordosten der Iberischen Halbinsel, nach Gerona, ca. 100
km von Barcelona entfernt. "In Gerona war es damals, als befände man sich
immer noch in der Nachkriegszeit, ein düsteres Kaff fest im Griff der Kirche,
ringsum bedroht durch das Land und im Winter in dicken Nebel gehüllt." In
den armen Vorstädten wohnen viele Charnegos, damals eine gebräuchliche Bezeichnung
für nichtkatalanische Einwohner. Noch übler, in sogenannten
Behelfsunterkünften, haust der "Abschaum des Abschaums", die
Quinquis, eine nomadisierende bis halbsesshafte soziale Randgruppe in Spanien,
vom Bürgertum beinahe symbolisch getrennt durch einen Park und die Flüsse Ter
und Onyar. Die Grenze übertritt man selten.
Doch Ignacio Cañas, genannt "Brillenschlange", tut es. "Mit
sechzehn sind alle Grenzen durchlässig... (...) Ein Junge aus der
Mittelschicht, der unbedingt ausprobieren wollte, wie es auf dem anderen Ufer
zugeht, in der Wildnis". Er wird in seiner Schule von Batista und seinen
Freunden gedemütigt und terrorisiert. Als ihm der markante Antonio Gamallo,
genannt Zarco, und vor allem die hübsche, selbstbewusste Tere über den Weg
laufen, springt er über die Demarkationslinie. Ab sofort ist er Mitglied der
Gang, die sich vor allem durch Handtaschendiebstähle, Drogenkonsum bis hin zu
Einbrüchen und späteren, zunehmend gewaltbereiteren Raubüberfällen, auszeichnet
und hernach ihren erbeuteten Gewinn im Rotlichtviertel auf den Kopf haut. Bis
zu jenem magischen Tag als ein Banküberfall durch offensichtlichen Verrat
scheitert. Zarco wird gefasst, aber Ignacio entkommt. Im Gefängnis entwickelt
sich der Mythos um den jungen Quinqui stetig weiter und erhält zunehmend
landesweit mediale Aufmerksamkeit, die Zarco fast den Status einer Ikone
verleiht, eines modernen Robin Hood oder Lin Chung wie in der fernöstlichen
Variante. Nach zwanzig Jahren trifft das ursprüngliche "Dreigestirn"
erneut aufeinander. Aus Cañas ist mittlerweile ein erfolgreicher Strafverteidiger
geworden, Gamallo sitzt immer noch hinter Gittern und Tere bringt bei Ignacio schon
wie damals gewisse Saiten zum Schwingen. Die starken psychologischen
Abhängigkeiten der Jugend sind offensichtlich vor allem auf Seiten Ignacios
noch nicht gänzlich abgestreift...
Javier Cercas hat für seinen äußerst interessanten und tiefgehenden Plot eine
interessante Form zur Wiedergabe gewählt. In wechselnden Kapiteln lässt er
jeweils Ignacio und einen damals mit dem Fall betrauten Inspektor die
Geschichte der Quinqui-Bande des Sommers 1978 aufrollen. Etwa in der Hälfte des
Buches erfolgt ein Sprung von 20 Jahren, der bis in die Gegenwart hineinreicht.
Nun berichtet Zarcos ehemaliger Gefängnisdirektor und erneut Cañas vom erneuten
Aufeinandertreffen. Alle drei werden dabei von einem Schriftsteller interviewt,
der ein Buch über die ganze Geschichte schreiben will. Was zunächst
ungewöhnlich anmutet, entwickelt allerdings schon nach wenigen Seiten einen
unglaublich spannungsgeladenen Sog. Der spanische Autor gestaltet diese
Interviews allerdings ohne Leseverlust. Angesiedelt auf hohem Niveau, mit einem
raffinierten psychologischen Aufbau, vermittelt er zudem noch jede Menge
geschichtliche Hintergründe. Sein Hauptaugenmerk liegt jedoch zweifelsohne auf
der Frage, was einen Menschen zum Menschen macht. Antworten, die leider immer
wieder stark von Klassen- und Gruppenzugehörigkeit abhängig gemacht werden. Cercas
schreibt über die Zerrissenheit und das sich Finden in der Jugend genauso
souverän wie über Liebe, Freundschaft, Vorbilder, Anerkennung, Hoffnung,
Scheitern und vor allem den Werten im Leben eines Menschen. Der in Gerona
lebende Spanier lotet aus, wägt ab und stellt verschiedene Meinungen
nebeneinander, ohne zu werten. Dies überlässt er souverän und äußerst raffiniert
seinem Leser.
Fazit: Javier Cercas erzählt eine spannende Geschichte, die letztendlich Teil
einer größeren ist und bei der sich zunehmend die Quintessenz
herauskristallisiert, "dass es zwar sehr beruhigend ist, für das, was wir
tun, eine Erklärung zu haben", es allerdings für das allermeiste mehr als
nur eine Erklärung gibt - "vorausgesetzt es gibt überhaupt eine." Ein
Text, der in menschliche Tiefen eindringt. "Ein Buch wie ein
Spiegel". Denn nicht wir lesen die Bücher, "sondern die Bücher lesen
uns."
Javier Cercas
Outlaws
Aus dem Spanischen von Susanne Lange
Titel der Originalausgabe: Las leyes de la frontera
S. Fischer Verlag (April 2014)
512 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100105109
ISBN-13: 978-3100105103
Preis: 24,99 EUR
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