Erschienen in Ausgabe: No 100 (06/2014) | Letzte Änderung: 01.06.14 |
von Heike Geilen
Warum
kaufen Menschen eine Mixtur aus Tapetenkleister, Magermilch, Fetten, Ölen,
Stärke und Emulgatoren und sind überzeugt, damit Speisen verfeinern zu können?
Warum schmeckt Testpersonen ein und derselbe Wein aus einer Flasche, auf der
ein höherer Preis ausgewiesen ist, besser als der vermeintlich billigere? Die
ernüchternde Antwort: Es sind in der Regel Illusionen, die uns zum Kauf
beflügeln. Die Werbemaschinerie weiß darum und bedient sich ihrer mitunter
recht gnadenlos. Obwohl viele Menschen ahnen, dass sie an der Nase herumgeführt
werden, sind sie im Moment des Eintauchens in die Wunderwelt des Konsums den Verführungen
beinahe willenlos ausgeliefert. Die Ursache, so scheint es, liegt in unserer
modernen Welt mit ihren zum Teil verlorengegangenen Werten und einem
Ich, dass es nicht einfach
hat. Es "steckt in einem hyperangestrengten Zustand fest.
Ständig muss es entscheiden, für alles steht es ein. Die Individualisierung
liegt tonnenschwer auf unseren fragilen, zarten, verletzten
Ichs. Aber unsere Ichs sind alles, was wir haben. Sie sind unser letzter
Glaube, unsere letzte Instanz.Aber bei einer Sache,
da kann sich das Ich ausruhen: wenn es einkaufen geht. Und im Augenblick des
Kaufens spürt es sich, dann ist es ganz da, dann hat es eine Entscheidung
getroffen. Ich bin, wenn ich etwas kaufe. Es ist eine Gnade für unser
überfordertes Ich, einkaufen zu gehen. Da bekomme ich alles. Und alle Gefühle
dazu: das Glück, die Liebe, eine kurze Zufriedenheit, da gelingt was. Wir
müssen beim Kaufen in den Genuss reicher Gefühle kommen.",
wird an einer Stelle im neuen Roman von Larissa Boehning
in einem Seminar für Werbefachleute insistiert.
Um
Illusionen und Werte geht es auch in "Nichts davon stimmt, aber alles ist
wahr".
Der Titel des Buches ist bereits beredtes Zeugnis. Drei Menschen, mehr oder
weniger desillusioniert und zerrissen, kreisen umeinander: Die junge
Werbefachfrau Juliane Schmidt, ihr eloquenter NachbarMatthias Thies, ein entlassener
Versicherungsvertreter, der dutzende Profile in Partnervermittlungsbörsen
unterhält und es zum Meister beim Verstellen und
Belügen gebracht hat sowie die wohlhabende, aber schwer kranke, ältere Dame Annemarie
Funk. Juliane erhofft sich von der "zufälligen"
Begegnung mit Matthias endlich ein privates Ankommen. Doch für ihn ist sie
nicht mehr als ein Affäre. Sein Hauptaugenmerk richtet er auf seine Hingabe
zu Annemarie. Als potentieller Sohn-Ersatz, vor allem in Hinblick auf das
millionenschwere Erbe, erscheint dies ihm
wesentlich lukrativer.
Annemarie,
die in der ungewöhnlichen zweiten Person erzählt, wird im Buch der größte Raum
gegeben. Vor allem ihre Kindheitserinnerungen im Nachkriegsbayern sind
zentraler Angelpunkt und beruhen größtenteils auf wahren Begebenheiten. In die
Figur der Juliane, deren Abschnitte in der Ich-Form verfasst sind, fließen
hingegen eigene Erfahrungen der Autorin
ein, die ihre "Brötchen" gleichfalls in der Werbebranche verdient.
Matthias wiederum erhält die wohl unpersönlichste Form - einen auktorialen
Erzähler. In stetig wechselnden Kapiteln
und einem zunächstdiffusen Bühnenstück
zieht Larissa Boehning Vorhang um Vorhang
auf, aber auch wieder zu. Trotzdem schwingt der Grundton des
Romans "als nähmen wir gemeinsam einen Atemzug in unserer
atemlosen Welt, eine Pause in allem rasanten Vorwärtsdrängen."
Diese Entschleunigung generiert sich vor allem aus der besonders liebevoll
und emotional gezeichnete Figur der schwerkranken Annemarie,
die emotionale Nähe zu ihrer Mutter nie erfahren durfte
und nur mit ihrem Großvater, dem alten Stenz,
einen Menschen hat, der mit ihr in
seinen erfundenen Geschichten und Fantasien fremde Länder
bereist und ihr Zuwendung gewährt."Ihre
Erinnerung war wie frische Ölfarbe, die sie in großen Gesten über die Leinwand
strich, sie schöpfte ab, verstrich, und trug immer neue Farbe auf. Sie malte
mir den Engelwirt und ihre Kindheit darin, und sie wirkte nicht im Geringsten
geschwächt von einer Krankheit, während sie dieses Tableau entwarf."
Entstanden
ist ein wunderbar sensibles, aber auch schonungsloses Zeitbild. Boehning
verwebt mit viel Verve und Einfühlungsvermögen drei Schicksale zu einem
interessanten, tiefblickenden und hochwertigen
Lesevergnügen, in einer zudem wunderschönen Sprache. "In
jedem Erzählen verändert sich das, was ursprünglich passiert ist. Und so
erzähle ich die Geschichte, wie ich sie gehört habe, und kann nicht mehr genau
sagen, was Wahrheit und was Erfindung ist, nur dachte ich zwischendurch,
wenn die Wirklichkeit schon aus Täuschung besteht, und der Glaube der Motor
ist, der alles am Laufen hält, dann drehe ich doch auch einfach nur eine
weitere Runde in diesem Rad, eine weitere Runde durch einen silbrig-hellen
Himmel einer Illusion. Wozu braucht es dort einen zuverlässigen Erzähler?",
stellt Juliane fest. Nach dem Zuschlagen der letzten Seite stellt sich nicht
nur die Frage, was eigentlich vom Leben eines
Menschen bleibt, "da
doch alles Lebendige stirbt und vergeht", sondern
die Autorin zeigt eindringlich,"dass unser Kreisen, die große Illusion,
nie ein Ende haben wird. Wo vielleicht nichts stimmt, aber dennoch alles wahr
ist: der Zufall, die Liebe, das Glück einer geteilten Zeit."
Fazit:
"Wenn ich versuchte, es von oben zu betrachten, war es
so etwas wie eine dreifache Expedition, eine, die drei verschiedene Wege ging,
aber in der Mitte, in diesem verworrenen Dickicht, liefen wir alle aufeinander
zu.Annemarie lief oft voran, sie zeigte uns,
was für eine Kraft in ihr steckte, die Kraft, an etwas zu glauben, was gar
nicht ist, und dann ist es da und sie konnte weiterlaufen.Matthias nahm seinen Weg durchs Dickicht, watete durchs Unterholz,
den Kompass immer zur Hand. Er wusste genau, wo sein Ziel lag, er hatte alles
vor Augen.Und
ich? Ich lief hinterher, auf meinem schmalen Pfad. Und dies ist die Geschichte
dieser drei Wege. Sie erzählt, wo sie sich
kreuzten, auseinanderliefen, verloren und fanden, all das, was uns verband, für
eine kurze Zeit, vor Annemaries Tod. Sie ist das, was ich erzählen kann, und
was ich nicht erzählen kann, das muss dazuerfunden werden.",
lässt Larissa Boehning ihre
Ich-Erzählerin Juliane resümieren. Ein einfühlsamer, anregender und ungemein lesenswerter
Roman.
Larissa
Boehning
Nichts davon stimmt, aber alles ist
wahr
Galiani
Verlag (März 2014)
320
Seiten, Gebunden
ISBN-10:
386971087X
ISBN-13:
978-3869710877
Preis:
19,99 EUR
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.