Erschienen in Ausgabe: No. 14 (1/1998) | Letzte Änderung: 05.09.11 |
von Stefan Groß
Einleitung
Der Philosoph Arthur Schopenhauer (1788-1860) zählt
heutzutage – neben Nietzsche – zu den meist gelesenen Autoren. Die Klarheit der
Sprache, die Eindeutigkeit der Formulierungen und die Argumentation verleihen
seiner Philosophie Ausdruck. Wie Nietzsche wird Schopenhauer, der um seinen
philosophischen Auftrag wußte, die akademische Lehrbahn versagt. Ein Versuch in
Berlin nach dem Tod Hegels dessen Professur zu übernehmen, mißlang. Der in
Danzig geborene und in seiner Wohnung in Frankfurt/Main verstorbene Schopenhauer
begreift sich einerseits als Vollender des kantischen Systems, andererseits
steht er in der vorkantischen Tradition des Platonismus.
Kant, Platon und die indische Philosophie werden für Schopenhauer zu zentralen
Leitbildern, die sein Denken prägen. Er schreibt: „Ich gestehe übrigens, daß
ich nicht glaube, daß meine Lehre je hätte entstehen können, ehe die
Upanischaden, Plato und Kant ihre Strahlen zugleich in eines Menschen Geist
werfen konnten.“ Die pessimistische Sicht auf die Welt, der Gedanke, daß nicht
das Gute, sondern das Böse die Welt regiert, übernimmt Schopenhauer von Hobbes
und Kant. Mit der Vorstellung von der Unvernunft und von dem Leiden der Welt
distanziert er sich von Hegels Panlogismus. Die Welt ist nicht vernünftig,
alles Wahre ist nicht vernünftig, so die detaillierte Kritik Schopenhauers am
Optimismus Hegels. Auch vom Heilsoptimismus und vom Gedanken einer Erlösung
durch den Menschen, der das Gute als das Gute will, um das moralisch Böse zu
überwinden, hält Schopenhauer nichts. Die Welt ist nicht, wie der unbekannte
Philosoph Krause meinte, den Schopenhauer aus seiner Dresdner Zeit kannte, ein
Abbild der göttlichen und prästabilierten Harmonie, sondern die schlechteste
aller nur möglichen Welten. Mit der Verneinung der Welt bekämpft Schopenhauer
den Idealismus von Leibniz’ Philosophie. Leben bedeutet für Schopenhauer das,
was nicht sein sollte. Im eigentlichen Sinne ist Leben Schuld. Das Leiden an
der Welt ist letztendlich die gerechte Strafe für die Schuld, die mit der
Individuation, d.h. mit dem Leben beginnt. Der berühmte Literat Thomas Mann,
der sich intensiv mit Schopenhauer auseinandersetzte, hat dessen Philosophie
als „pessimistischen Humanismus“ gedeutet.
Neben der Dissertation von 1813 „Über die vierfache Wurzel des Grundes“ ist es
hauptsächlich das Werk „Die Welt als Wille und Vorstellung“, das Schopenhauer
bekannt machte. Während Nietzsche posthum Berühmtheit erlangte, wurde
Schopenhauers Philosophie immerhin zu dessen Lebensende bekannt, so daß es ihm
möglich wurde, seinen Ruhm auszukosten. Bis in die 50iger Jahre des 19.
Jahrhunderts hinein war der Philosoph nur eine Randfigur der deutschen
Philosophie, die damals noch sehr stark vom Einfluß Hegels und Schellings
geprägt wurde. Dies änderte sich mit der zweiten Auflage des Hauptwerkes. Der
Philosoph, der auch als Dandy mit weißem Pudel und als graue Eminenz bezeichnet
wurde, wurde schlagartig berühmt.
Trotz der Vormachtstellung des Deutschen Idealismus rang Schopenhauer nach
einer eigenen Philosophie. An die Stelle des subjektiven Idealismus von Fichte
und des absoluten Idealismus von Schelling und Hegel stellt Schopenhauer in
seinem Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ eine Synthese zwischen
objektiver Philosophie und subjektiver Erkenntnis vor.
Die Bedeutung, die Schopenhauer dem Willen als metaphysischem Prinzip zuordnet,
wird der späte Nietzsche übernehmen, der sich, liest man die „Unzeitgemäßen
Betrachtungen“, in seiner Frühzeit als Schüler Schopenhauers begriff und
zugestand, von diesem Denker wichtige Gedanken übernommen zu haben. Nicht nur
die Kraft des Willens als treibendes Element übernimmt Nietzsche im Gedanken
des „Willens zur Macht“, er folgt Schopenhauer, wenn er den Intellekt als
sekundäre Natur begreift. An die Stelle bewußtseinslogischer und
erkenntnistheoretischer Bestimmungen setzt Schopenhauer die Macht des Willens.
Mit dieser Vorgehensweise stellt er die abendländische Philosophie seit
Descartes, die vom Ich-denke ausging, auf den Kopf. Ohne, daß man Schopenhauer
Irrationalismus vorwerfen kann, ist daran festzuhalten, daß es ihm primär um
die Freilegung des Unbewußten ging. Er schreibt: „Das Bewußtseyn ist die bloße
Oberfläche unseres Geistes, von welchem, wie vom Erdkörper, wir nicht das
Innere, sondern nur die Schale kennen.“ Die Auseinandersetzung mit dem
Unbewußten, das Schopenhauer mit dem Willen identifiziert, wird für die
Psychologie des 20. Jahrhunderts bedeutend. Der Psychoanalytiker Sigmund Freud
reflektiert nicht nur auf Nietzsche, sondern auch auf die philosophische Lehre
Schopenhauers. An die Stelle der Vernunft oder des deutenden Bewußtseins setzt
Freud das Unbewußte, die Traumdeutung und den ursprünglichen Trieb, der als
Lustprinzip in seine Psychologie einging. Es ist nicht so sehr das Bewußtsein,
das den Mensch steuert und lenkt, sondern das, was sich dem Bewußtsein
entzieht, ist das treibende Element des Menschen, das ihn einerseits ängstigt,
andererseits zum Leben ermutigt.
Für die Lebensphilosophie Bergsons, für den Existentialismus Heideggers,
Jaspers und Löwiths sowie für die französischen Postmodernisten, für die die
Namen Deleuze, Derrida, Lyotard und Foucault stehen, bildet Schopenhauers
Denkansatz ein Fundament philosophischer Reflexion.
In der philosophischen und in der außerphilosophischen Wahrnehmung wurde der
frühzeitig in Jena promovierte Denker durch seinen Pessimismus und durch seine
Ethik des Mitleids bekannt. Schopenhauer war aber nicht nur Ethiker, sondern
auch Erkenntnistheoretiker, Metaphysiker und Erlösungslehrer.
1. Erkenntnistheorie – Die Welt als Vorstellung
Am Anfang des ersten Teiles der „Welt als Wille und Vorstellung“ findet sich
Schopenhauers Definition von der Welt.
„Die Welt ist meine Vorstellung – dies ist eine Wahrheit, welche in Beziehung
auf jedes lebende und erkennende Wesen gilt; wiewohl der Mensch allein sie in
das reflektierte, abstrakte Bewußtsein bringen kann: und tut er dies wirklich,
so ist die philosophische Besonnenheit bei ihm eingetreten. Es wird ihm dabei
deutlich und gewiß, daß er keine Sonne kennt und keine Erde; sondern immer nur
ein Auge, das eine Sonne sieht, eine Hand, die eine Erde fühlt; daß die Welt,
welche ihn umgibt, nur als Vorstellung da ist, d.h. durchweg nur in Beziehung
auf ein anderes, das Vorstellende, welches er selbst ist.“
Mit der These von der Vorstellung steht Schopenhauer im Bannkreis Kants. Für
die Erscheinung, d.h. für die Vorstellung ist die Erfahrung der sinnlichen
Wirklichkeit notwendig. Schopenhauer übernimmt mit der These von der
Abhängigkeit all unserer Erkenntnisse ein erkenntnistheoretisches Paradigma der
kantischen Philosophie. Wie Kant geht es Schopenhauer um die Erkenntnis der
Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis. Auch wenn sich Schopenhauer in erster
Linie nicht mit dem menschlichen Bewußtsein von den Dingen, sondern mit dem
Erkenntnisvermögen beschäftigt, steht er in der Nachfolge des Königsberger Philosophen. Erkenntnis ist wie
bei Kant eine subjektive. Schopenhauer fragt nach den Bedingungen der
Möglichkeit von Erkenntnis und sucht nach den apriorischen Begriffen, die diese
ermöglichen. Wie Kant begreift Schopenhauer die apriorischen Begriffe als
Kategorien des Subjektes, die jeder Erkenntnis vorausliegen und diese
strukturieren. Sie sind es, die die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen – der
Vorstellungen – unter einen einheitlichen Begriff subsumieren, d.h.
schematisieren. Die Philosophie, die nach den Bedingungen der Möglichkeit von
Erkenntnis fragt, nennt Schopenhauer wie Kant Transzendentalphilosophie. Sie
beschäftigt sich mit der Analyse des Erkenntnisvermögens, mit den Formen und den
Gesetzen der Erkenntnis sowie mit der Gültigkeit und mit den Grenzen derselben.
Schopenhauer geht es wie Kant und später Fichte um die Frage: Wie kommt das Ich
zur Erkenntnis der äußeren Wirklichkeit? Außerhalb der subjektiven Vorstellung
gibt es keine Erkenntnisse, da die Erkenntnis der Objektwelt vom Subjekt
abhängt, das sich diese vorstellt. Die objektive Wirklichkeit verdankt ihr
Dasein dem konstruierenden Subjekt. Mit seinem transzendentalen Subjektivismus
leugnet Schopenhauer, wie Kant, die Erkenntnis der Welt als ganzer. Erkannt
wird nur das, was unmittelbar im Bewußtsein gegeben bzw. vorgestellt wird.
Anders formuliert: Das subjektive Bewußtsein ist das unmittelbar Gegebene, das
Ursprünglichste und das Allerrealste. „Keine Wahrheit ist also gewisser, von
allen andern unabhängiger und eines Beweises weniger bedürftig als diese, daß
alles, was für die Erkenntnis da ist, also diese ganze Welt, nur Objekt in
Beziehung auf das Subjekt ist, Anschauung des Anschauenden, mit einem Wort:
Vorstellung.“ Für Schopenhauer ist wie für Descartes und wie für Fichte der
Ausgangspunkt aller Philosophie das Ich. „Alles, was irgend zur Welt gehört und
gehören kann, ist unausweichbar mit diesem Bedingtsein durch das Subjekt
behaftet und ist nur für das Subjekt da. Die Welt ist Vorstellung.“ Alles
räumlich und zeitlich sich Darstellende hat, wie Schopenhauer betont, kein
eigentliches Sein, sondern ist durch das Subjekt bedingt.
Im Unterschied zu Kant wird das Objekt nicht nur mit Hilfe des Intellekts
bestimmt, sondern überhaupt erst konstituiert. Mit Kant geht Schopenhauer aber
davon aus, daß die allgemeinen Formen des Denkens – die Kategorien – dem
Subjekt immanent sind, diese findet der denkende Mensch, der auf sich selbst
reflektiert. Schopenhauer kritisiert einerseits die Kategorienlehre Kants,
andererseits übernimmt er von der kantischen Philosophie die Bestimmungen des
Raumes und der Zeit als rein sinnliche Formen der Anschauung. Raum und Zeit
sind die Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis. Mit der „Transzendentalen
Ästhetik“ der kantischen „Kritik der reinen Vernunft“ stimmt Schopenhauer
überein, ja er versteht die Lehre von den apriorischen Anschauungsformen als
die ausgezeichnete Leistung Kants. Kritik meldet Schopenhauer an, wenn er Kants
„Transzendentale Analytik“ analysiert. Die zwölf Kategorien Kants reduziert er
im groben auf die Kategorie der Kausalität oder auf den „Satz vom Grund“. Die
subjektiven Vorstellungen sind vom „Satz des Grundes“ abhängig. Das
Kausalprinzip bestimmt nicht nur die Erkenntnis der jeweiligen Subjekte,
sondern fungiert als das Erkenntnisprinzip, das dem Erkennen zugrunde liegt.
Schopenhauer schreibt: „Ich behaupte [...], daß der Satz vom Grunde der
gemeinschaftliche Ausdruck für alle diese uns a priori bewußten Formen des
Objektes ist und daß daher alles, was wir rein a priori wissen, nichts ist als
eben der Inhalt jenes Satzes und was aus diesem folgt, in ihm also eigentlich
unsere ganze a priori gewisse Erkenntnis ausgesprochen ist.“ Alle Erkenntnis
geht auf den Satz des Grundes zurück, da das Vorzustellende, das Erkannte vom
Vorstellenden und Erkennenden abhängig ist.
„Dasjenige, was alles erkennt und von keinem erkannt wird, ist das Subjekt. Es
ist sonach Träger der Welt, die durchgängige, stets vorausgesetzte Bedingung
alles Erscheinenden, alles Objekts: denn nur für das Subjekt ist, was nur immer
da ist. Als dieses Subjekt findet jeder sich selbst, jedoch nur, sofern er
erkennt, nicht sofern er Objekt der Erkenntnis ist. Objekt ist aber schon der
Leib, welchen selbst wir daher von diesem Standpunkt aus Vorstellung nennen.
Denn der Leib ist Objekt unter Objekten und den Gesetzen der Objekte
unterworfen, obwohl er unmittelbares Objekt ist.“
Den Leib begreift Schopenhauer als ein raum-zeitliches Objekt. Dem Leib
gegenüber, dessen Erkenntnis durch die Zuhilfenahme der Kategorien möglich ist,
steht das erkennende Subjekt, das, wie Schopenhauer betont, jenseits von Raum
und Zeit liegt. Das reine Objekt an sich – der Leib – und das reine Subjekt an
sich sind unerkennbar. Erkenntnis ist nur möglich, wenn sich Subjekt und Objekt
miteinander verbinden, denn „wo das Objekt anfängt, hört das Subjekt auf“.
Schopenhauer bringt seine idealistische These auf eine knappe Formel: kein
Objekt ohne Subjekt. Sie soll besagen, daß von einem Objekt unabhängig vom
Subjekt mit seinen Anschauungs- und Denkformen nicht gesprochen werden könne.
Mit dieser Einsicht soll der „törichte Streit über die Realität der Außenwelt“
ein Ende finden, da er auf dem Irrtum beruht, daß sich unsere Vorstellungen auf
etwas beziehen, das sozusagen hinter den Erscheinungen liegt. Ohne den Satz vom
Grunde als Form des Intellekts gibt es keine Gegenstände der Anschauung. Die
Anschauung besteht nicht im bloßen Hinschauen, sondern ist eine Leistung des
Verstandes und damit intellektual, d.h jede Erfahrung beruht auf einem
subjektiven Akt. Die Rede von der intellektualen Erkenntnis meint nicht, daß
Schopenhauer die Realität der materiellen Welt negiert. Im Gegensatz: Er
betont, daß die Materie völlig real ist, schränkt die Realität der Materie
wieder ein, da die materielle Realität nicht vom Subjekt unabhängig gedacht
werden kann. Materie ist, was in Raum und Zeit wirkt. Raum und Zeit sind Formen
der Anschauung, die Kausalität eine Form des Verstandes. Die Materie ist
einerseits nicht vom Subjekt abhängig, andererseits ist das Gehirn, in dem sich
alle Vorstellungen finden, ein Produkt der Materie. Mit seinem transzendentalen
Idealismus behauptet Schopenhauer nicht die Unabhängigkeit des Erkennenden von
der Materie, sondern die Abhängigkeit des Erkennenden von der Materie, denn
„bei aller transcendentalen Idealität behält die objektive Welt empirische
Realität [...]. Zwar ist der Raum nur in meinen Kopf; aber empirisch ist mein
Kopf im Raum“. Diese Behauptung Schopenhauers führt zu einem Problem: Entweder
ist die objektive Außenwelt ein Produkt subjektiver Vorstellungen oder die
subjektive Vorstellung ist ein Produkt der empirischen Realität. Schopenhauer
mußte sich fragen, wie sich ein Ausweg aus diesem Dilemma finden läßt. Seine Antwort
folgte der Kantischen Auffassung: Die materiellen Dinge haben als Erscheinungen
eine empirische Realität, sie stehen dem Subjekt als Gegenstände gegenüber.
Wenn man aber ihre Abhängigkeit von Raum, Zeit und Kausalität berücksichtigt,
dann sind sie abhängig vom Subjekt. In der unmittelbaren Erfahrung stellen sie
sich als real dar, in der philosophischen Reflexion erweisen sie sich als
ideal. Auch vom Subjekt wird in zweifacher Hinsicht gesprochen, nämlich bald
als empirischem Subjekt, das in mannigfacher Weise durch materielle Faktoren
(zunächst des Gehirns) bedingt ist, bald als transzendentalem Subjekt, das im
Rahmen von Anschauungs- und Denkformen die Welt der Erscheinungen erzeugt.
Mittels der Erkenntnistheorie läßt sich das Problem zwischen Vorstellung und
empirischer Realität nicht lösen, da die Erkenntnistheorie vom Primat der
Vorstellung ausgeht. Schopenhauer will aber nicht die Welt der Vorstellungen
und die Welt der empirischen Realität unversöhnlich nebeneinander stellen,
sondern sucht nach einer Verbindung. Bevor Schopenhauer nach der Verbindung
sucht, läßt er Subjekt und Objekt ein Zwiegespräch führen. Das Subjekt
behauptet: „Ich bin, und außer mit ist nichts. Denn die Welt ist meine
Vorstellung.“ Darauf antwortet die Materie: „Vermessener Wahn! Ich, ich bin:
und außer mir ist nicht. Denn die Welt ist meine vorübergehende Form. Du bist
ein bloßes Resultat eines Teiles dieser Form und durchaus zufällig.“ Nach
diesem Streitgespräch, in dem beide ihre unterschiedlichen Auffassungen
verkünden, kommt es zur Verständigung, wobei beide ihre wechselseitige
Abhängigkeit bekunden. „So sind wir denn unzertrennlich verknüpft, als
notwendige Teile des Ganzen, das uns beide umfaßt und durch uns besteht. Nur
ein Mißverständnis kann uns beide einander feindlich gegenüberstellen und dahin
verleiten, daß eines des andern Dasein bekämpft, mit welchem sein eigenes steht
und fällt.“ Bereits schon hier wird deutlich, daß die Welt nicht allein
Vorstellung des Ichs ist, sondern, daß es über die rationale Erfahrung hinaus,
eine Kraft gibt, die die Vorstellung bestimmt – der Wille. Mit der Analyse der
subjektiven Formen des Bewußtseins kommt die transzendentale Philosophie
Schopenhauers an ihr Ende und wird – mit der Analyse des Willens – zur
Metaphysik. Transzendentalphilosophie und Metaphysik widerstreiten sich nicht,
sie sind vielmehr die zwei Seiten der Erfahrung, die das denkende Ich
einerseits macht und in die es andererseits hineingestellt wird. In der
transzendentalen Erkenntnis ist das Subjekt der Erkenntnisträger, in der
metaphysischen Erkenntnis steht es unter dem Willen und ist eine Objektivation
desselben.
Gegenüber Kant, der der Welt der Erscheinung ein hinter den Erscheinungen
liegendes unerkennbares Ding an sich zuordnet, geht Schopenhauer davon aus, daß
die Sinnesempfindungen Produkte der Vorstellungskraft sind. Damit distanziert
sich Schopenhauer im Rahmen seiner Transzendentalphilosophie vom Gedanken des Dinges
an sich. Dennoch gibt er den Gedanken eines Dinges an sich nicht auf, behauptet
sogar, daß es Kants größte Leistung gewesen sei, auf den Unterschied zwischen
Erscheinung und Ding an sich hingewiesen zu haben. Schopenhauer kann –
zumindest in den Abschnitten seines Werkes, die sich der Vorstellung widmen –
mit seiner Transzendentalphilosophie das Ding an sich nicht theoretisch
beweisen. Der äußeren Vorstellung korrespondiert eine innere Wirklichkeit, die
Schopenhauer als Ding an sich begreift. Die Welt der Vorstellungen bestimmt
Schopenhauer als ideale, wobei er sie von der Realität trennt. Das Reale ist
das von den Vorstellungen unabhängige, d.h. das Ding an sich. Jedes Objekt ist
nicht nur – und hier kommt Schopenhauers Metaphysik ins Spiel – ein Produkt der
Vorstellungskraft, wie es die transzendentale Philosophie behauptet, sondern
ein für sich selbst oder an sich seiendes. Schopenhauer bemerkt: „Das
angeschaute Objekt aber muß etwas an sich selbst seyn und nicht bloß etwas für
Andere: denn sonst wäre es schlechthin nur Vorstellung, und wir hätten einen
absoluten Idealismus, der am Ende theoretischer Egoismus würde, bei welchem
alle Realität wegfällt und die Welt zum bloßen subjektiven Phantasma wird.“ Es
gibt, wie Schopenhauer bemerkt ein von unserem Erkennen unabhängiges
Vorhandensein – das Ding an sich. Die Vorstellung, genauer: meine Vorstellung und
mein Erkennen sind nicht mit dem Erkannten identisch, wenngleich das
erscheinende Erkannte meine Vorstellung ist. Zwischen Vorstellung und Ding an
sich gibt es eine Differenz. Durch sie wird sich der Mensch bewußt, daß er
nicht das Prinzip der Erkenntnis ist, sondern, nach einem Welterklärungsprinzip
fragt. Meine Vorstellung kann mit dem Wesen an sich nicht identisch sein, denn
„das An- und Fürsichseyn jedes Dinges muß nothwendig ein subjektives seyn: in
der Vorstellung eines Anderen hingegen steht es eben so nothwendig als ein
objektives da; ein Unterschied, der nie ganz ausgeglichen wird.“ Vom Ding an
sich aus gesehen, sind die Gegenstände der Vorstellungen Erscheinungen dieses Dinges
an sich; was ihre Wahrnehmung und Erkenntnis durch die Subjekte betrifft, sind
sie dessen Vorstellungen. Die Frage, was das Ding an sich ist, läßt sich nicht
beantworten, da man mit der Frage nach dem Grund den Kausalitätsgedanken
transzendiert. Schopenhauer fragt nicht danach, was das Ding an sich ist,
sondern nur wie es als an sich Seiendes erscheint. Wie der Satz vom Grund nicht
auf den Satz des Grundes zurückzuführen, weil er die Voraussetzung des Denkens
ist, kann man auch nicht das Ding an sich dem Satz des Grundes unterwerfen.
Insofern Schopenhauer nur die Erscheinung des Dinges an sich untersucht,
betreibt er keine spekulative Metaphysik, die die Strukturen des Dinges an sich
freilegt. Seine Metaphysik vom Ding an sich beschreibt Schopenhauer als
Auslegung einer Schrift. Ohne nach dem Autor zu fragen, buchstabiert er die
Schrift, d.h. die Welt der Erscheinungen. Schopenhauers Philosophie des Dinges
an sich ist hermeneutisch, d.h. interpretierend und deutend.
Von der Vorstellung der Welt ausgehend, kommt man nicht zum Ding an sich, weil
die Vorstellungen an die apriorischen Formen des Raumes, der Zeit und der
Kausalität gebunden sind. Zur Erkenntnis des Dinges an sich kommt man nur, wenn
dieses unmittelbar ins Bewußtsein tritt. An die Stelle reflexiver Deutung tritt
das unmittelbare Anschauen. Nur weil sich der Mensch durch die innere Form des Dinges
an sich bewußt wird, weil er selbst ein Ding an sich ist, weiß er letztendlich
um das an sich. Wie Schopenhauer betont, kann das Ding an sich niemals ein
Objekt sein. Das Ding an sich ist von jeder Vorstellung frei, es kann nicht im
Objekt, sondern nur im Subjekt, d.h. im Selbstbewußtsein liegen.
Schopenhauer, der nach einer Begründung der Welt aus einem objektiven Prinzip
fragt, verläßt den Boden der kantischen Philosophie. Trotz der gedanklichen
Nähe zum Deutschen Idealismus – insbesondere zu Fichte und Hegel – teilt
Schopenhauer nicht die idealistische Strategie, die Welt aus Begriffen
abzuleiten, sondern aus dem Willen.
2. Metaphysik des Willens
Auf der einen Seite ist es Schopenhauers Absicht zu zeigen, daß die Auffassung
der Welt als einer Menge von Erscheinungen wirklich ist. Auf der anderen Seite
hält er daran fest, daß die Auffassung von der Vorstellungswelt einseitig ist
und ergänzt diese Einseitigkeit durch die These, daß die Welt nicht nur
Erscheinung, sondern auch ist etwas sei, das erscheint. Die Erkenntnis der Welt
als Vorstellung ist diskursiv durch den Verstand vermittelt. Zwar bezieht sich
nicht nur die äußere, sondern auch die innere Erfahrung stets auf
Erscheinungen, wenn wir aber auf Willensakte achten, z. B. das Wollen einer
Handbewegung, dann geht das, was wir erleben, nicht vollkommen in der Erfahrung
von Erscheinungen auf. Dies zeigt sich darin, daß die gewollte Handbewegung
nicht auf den Willensakt folgt, wie irgendeine physikalische Wirkung auf ihre
Ursache; sie wird vielmehr als unmittelbare Äußerung des Willens erfaßt. Sofern
hier nicht mehr von einem Nacheinander gesprochen werden kann, liegt ein
zeitlich bestimmter Zusammenhang vor, und daher kann es sich auch nicht um ein
kausales Verhältnis handeln. Wo aber Anschauungs- und Denkformen keine Rolle
mehr spielen, da hat man es nicht mehr mit Erscheinungen zu tun. Während der
Verstand von den Wirkungen nach den Ursachen fragt und Ursache und Wirkung
mittels der Kategorie der Kausalität verknüpft, ist der Wille nicht zeitlich,
nicht räumlich und nicht kausal bestimmbar. In der unmittelbaren Äußerung des
Willens handelt es nicht mehr um Anschauungs- und Denkformen. In der Erfahrung
unserer Leiblichkeit zeigt sich eine Beziehung zur Wirklichkeit, die sich von
der Beziehung auf beliebig andere Objekte unterscheidet. Obwohl auch unser
Leib, sofern er dem Raume und der Zeit unterworfen ist, Erscheinung ist,
verhalten wir uns zu ihm anders als zu den gegenständlichen Erscheinungen, da
wir ihn mit unserem Willen identifizieren. Um die Besonderheit auszudrücken,
bezeichnete Schopenhauer den Leib als Objektivität des Willens, im Unterschied
zur Objektivität der Dinge als Vorstellungsinhalten. Die Einheit von Wille und
Leib wird unmittelbar erfaßt bzw. gefühlt. Das Leiberleben hat unmittelbar
nichts mit der Erkenntnis zu tun, da es keine Vorstellung ist. „Unmittelbar
gegeben ist mir der Leib allein in der Muskelreaktion und im Schmerz oder
Behagen, welche Beide zunächst und unmittelbar dem Willen angehören.“
Die Einheit, bzw. seine Einheit mit dem Leib erfaßt der Mensch unmittelbar,
welche „in concreto jeder [...], d.h. als Gefühl besitzt“. Durch das
unmittelbare Gefühl, das Schopenhauer als Wissen interpretiert, ist der Mensch
in die Lage versetzt, durch den Schleier der Wirklichkeit hindurch eine
Wirklichkeit zu erkennen, wie sie unabhängig von unseren Denk- und
Anschauungsformen existiert. Von der unmittelbaren Erkenntnis des Willens
ausgehend, sucht Schopenhauer nach der Objektivität des Willens. Ihm stellt sich
die Frage, ob nicht nur das einzelne Ich aus Vorstellung und Wille besteht,
oder ob jedes Wesen Vorstellung und Wille ist? Da der Wille dem einzelnen
Subjekt unmittelbar in der Form des Leibes gegeben ist, muß, so schließt
Schopenhauer, auch der andere Mensch Wille sein, sofern er einen Leib hat. Da
es nichts gibt, was nicht durch den Willen und durch die Vorstellung bestimmt
ist, ist die gesamte Welt Wille und Vorstellung. Per Analogieschluß sucht
Schopenhauer zu zeigen, daß die Totalität der Welt einerseits subjektiv
bestimmt Vorstellung, andererseits Objektivation des Willens ist. Das
analogische Verfahren, vom Ich auf die Welt zu schließen, ist für die
Philosophie Schopenhauers konstitutiv, zugleich aber der Schwachpunkt seiner
Argumentation. Einerseits ist die Vorstellung nur meine, und ich kann nichts
über die Vorstellung hinaus aussagen, anderseits schließt Schopenhauer von der
subjektiven Vorstellung ausgehend darauf, daß die gesamte Welt Vorstellung und
Wille sei. Er wendet den Satz vom Grund auf die äußere Wirklichkeit an, obwohl
er in seiner Transzendentalphilosophie vor der Transzendierung des Satzes
gewarnt hat. Statt den Satz vom Grund zur Erklärung heranzuziehen, wie der
Mensch zur Vorstellung gelangt, begründet er mit ihm die äußere Wirklichkeit,
über die das vorstellende Bewußtsein überhaupt keine Aussagen machen kann.
Schopenhauer erklärt nicht, wie sich die Welt als Vorstellung und die Welt als
Wille zueinander verhalten, er behauptet, daß es dieses Verhältnis gibt.
Schopenhauer wurde von seinen Kritikern immer wieder vorgeworfen, daß es nicht
argumentiere, sondern eine Behauptung an die andere reihen würde. Überblickt
man sein gesamtes Werk ist diese kritische Einschätzung berechtigt.
Schopenhauer geht es nicht nur um die Verbindung von Wille und Vorstellung,
sondern er sieht, daß in der Welt der Vorstellung alle Menschen losgelöst
voneinander stehen. Die Vereinzelung des Menschen, Schopenhauer nennt sie die
Individuation endet im Leid. In der Individuation wird der Mensch nur auf seine
eigene Vorstellungswelt reduziert, eine Befreiung von der Welt ist nicht zu
erwarten. Diese Einseitigkeit der Individuation will Schopenhauer auflösen, in
dem er auf ein objektives Prinzip – den Willen – zurückgreift. Schopenhauer
folgt der klassischen Alleinheitslehre, wenn er die Verschiedenheit in der
Erscheinung und zugleich das innere Wesen aller Dinge als Wille begreift. Der
Wille ist nicht nur die Ursache der Erscheinungen, d.h. der Vorstellungen,
sondern das ihnen Erscheinende, ihre Bedeutung. Man kann auch vom
metaphysischen Substrat des Willens sprechen. Problematisch ist hierbei, daß
die empirische Welt als individuelle zugleich Wille in seiner Objektivation und
die von dem Subjekt selbst konstituierte Vorstellungswelt sein soll. Doch
zurück zu Schopenhauers Begriff des Willens.
Im Gegensatz zur Vorstellung, die sich in die Differenz zwischen Objekt und
Subjekt aufspaltet und als prinzipium individuationis die Bedingung der
Möglichkeit von Vielheit ist, ist der Wille ein unteilbarer. Als Unteilbarer
gehört er zu jedem einzelnen Objekt der Vorstellungswelt als Ganzer dazu.
Anders gesagt: Der Wille teilt sich in eine Vielzahl von Willen auf. Der Wille
ist nicht partikular, weil er nicht in einem Körperteil ist, sondern er ist
universal, da er den ganzen Menschen bestimmt. Jeder einzelne Mensch, jedes
Tier und jede Pflanze ist Wille. Über ihnen gemeinsam steht der allgemeine
Wille – das Prinzip.
Der Wille – das Ding an sich – läßt sich nicht mit Hilfe des Satzes vom Grunde
und durch die Kategorien erkennen, sondern ist das von Raum, Zeit und
Kausalität unabhängige Prinzip. Im Gegensatz zur Vorstellungswelt ist der Wille
eine bewußtlose Kraft, ein ziel- und vernunftloses Drängen, das sich in jeder
Willensäußerung zur Darstellung bringt. Zwar kann der Mensch erklären, warum er
gerade dieses will und jenes nicht, unerklärbar bleibt für ihn, warum der Wille
will, und daß er immer will. Die Frage nach einem bestimmten Handlungsgrund ist
sinnvoll, die Frage nach dem Grund des Wollens dagegen sinnlos, weil der Wille an
sich geheimnisvoll, dunkel, unerklärbar und grundlos ist. Alle Handlungen,
seien sie nun bewußt durch Motive, die ihnen zugrunde liegen, als auch unbewußt
verursacht, ihr Grund ist immer der grundlose Wille als objektive Erscheinung.
Mit der Begründung des Willens als einer unbewußten Kraft entfernt sich
Schopenhauer von der Philosophie der Aufklärung und von der Meinung, daß man
die Welt durch rationale Prinzipien oder Vermögen erklären kann. Die Welt als
Vorstellung ist erkennbar, die Welt als Wille nicht mehr. Schopenhauer
schreibt: „Mir ist von allen Dingen nur eine Seite bekannt, die der
Vorstellung; ihr inneres Wesen bleibt mir verschlossen und ein tiefes Geheimnis
[...].“ Kant gegenüber hält er fest: „Kant lehrt, daß wir über die Erfahrung
und ihre Möglichkeit hinaus nichts wissen können: ich gebe dies zu, behaupte
jedoch, daß die Erfahrung selbst, in ihrer Gesamtheit, einer Auslegung fähig
sei, und habe diese zu geben versucht, indem ich sie wie eine Schrift
entzifferte.“
Die metaphysische Ableitung der Welt aus dem ihr zugrunde liegenden Prinzip ist
keine transzendente. Der Wille ist keine transzendente Idee wie die platonische
Idee des Guten ein transzendentes Prinzip der Erkenntnis ist, sondern eine
immanente Ursache. Anders gesagt: Der Wille ist zwar das Prinzip der Welt, er
ist aber nicht außerhalb der Welt wie die platonische Idee, sondern in der
Welt. Schopenhauer hält an einer immanenten, Platon an einer transzendenten
Metaphysik fest. Trotz der unterschiedlichen Vorstellungen zum Prinzip greift
Schopenhauer auf die platonische Ideenlehre zurück. Obwohl es viele Differenzen
zwischen Platons Ideenlehre und Schopenhauers Metaphysik des Willens gibt, auf
die hier leider nicht eingegangen werden kann, sieht Schopenhauer viele Gemeinsamkeiten
zwischen seiner und der platonischen Lehre. Platon erklärt den Hervorgang aus
der wirklichen Welt in die nicht wirkliche Welt mit Hilfe seiner Ideen. Die
Ideen sind einerseits Stufen im Abstiegsprozeß, andererseits hat alles Seiende
an den Ideen teil. Schopenhauer übernimmt das eidetische Ableitungsmodell von
Platon, wenn er behauptet, daß die verschiedenen Äußerungen des Willens
unterschiedliche Stufen der Objektivierung vorstellen. „Jede allgemeine
ursprüngliche Naturkraft ist also in ihrem innern Wesen nichts anderes als die
Objektivation des Willens [...]: wir nennen eine jede solche Stufe eine ewige
Idee, in Platos Sinn.“ Der Grund der Welt oder der Weltgrund, d.h. der Wille
vermittelt sich durch die einzelnen Ideen in die Wirklichkeit hinein. Ideen
begreift Schopenhauer als ontologische Entitäten (Einheiten), die
unveränderlich sind und als Formen das Allgemeine darstellen.
Die Ideen begreift Schopenhauer als unmittelbare und adäquate Objektivationen
des Dinges an sich , die in ihrem Sein nicht von den mittelbaren
Objektivationen der einzelnen Dinge abhängig sind. Sie vermitteln zwischen der
Immanenz (Vorstellungswelt) und der Transzendenz (Willen). Von der
dualistischen Vorstellung Platons ausgehend, daß Ideen und Objekte sich radikal
voneinander unterscheiden, behauptet Schopenhauer, daß die sinnlichen
Erscheinungen einen geringeren Wert als die Ideen haben. Sie haben nicht nur,
so Schopenhauer, einen geringeren Wert, sondern auch einen geringeren Grad von
Wirklichkeit und einen geringeren Grad an Wahrhaftigkeit. Dennoch begreift er
alle Wesen – Tiere, Pflanzen und die anorganische Materie – als Objektivationen
des Willens. Sie sind dem Subjekt einerseits als Vorstellungen gegeben,
andererseits allesamt Erscheinungen einer universalen Kraft, die sich in ihnen
darstellt. Nicht nur das eingeschränkte menschliche Wollen, der Wachstumstrieb
der Pflanzen, sondern auch die Schwerkraft, der Magnetismus und die
Elektrizität sind Äußerungen des Einen Willens.
In der Endlichkeit kommt es, wie Schopenhauer betont, zu einem stetigen Kampf
zwischen den einzelnen Objektivationen. Jede Stufe der Objektivation des
Willens macht der anderen die Materie, den Raum, die Zeit streitig. Die Materie
wechselt beständig die Form, da sich mechanische, physische, chemische,
organische Erscheinungen zur Herrschaft drängen, da sich jede Idee offenbaren
will. In der empirischen Welt ist keine Erlösung möglich, weil hier alles im
Fluß und im Werden ist, d.h. alles ist vom Satz des Grundes bestimmt. Statt
Erlösung gibt es hier nur Notwendigkeit, genauer: eine kausale Ordnung. Jede
Wirkung läßt sich auf eine Ursache zurück beziehen. Alles das, was wird, ist
unfrei und determiniert. An eine Ursache reiht sich eine andere, eine Wirkung
ruft eine andere hervor.
Schopenhauer stellt sich die Frage: Wie ist nun diesem stetigen Wechsel, der
stetigen Veränderung und dem ewigen Kampfe in der empirischen Welt zu entgehen?
Seine Antwort lautet: in der Ideenschau. Die Ideen als Objektivierungsstufen
des Willens, die ontologisch gesehen wahrhaftig sind, sind nicht von den
Anschauungsformen – des Raum und der Zeit – abhängig. Als Prinzipien sind sie
nicht auf dem Wege der Verstandeserkenntnis, sondern nur in reiner
Kontemplation zu erfassen. Die Ideenerkenntnis oder Schau ist, wie Schopenhauer
betont, nicht in der Wissenschaft, sondern nur innerhalb der Kunst möglich. Der
Künstler, der die Ideen schaut, ist keine individuelle Persönlichkeit, d.h. ein
Individuum, sondern ein allgemeines Subjekt, das sich von seinen Vorstellungen
und von seinem Willen befreit hat. Es hat sich vom Prinzip der Vereinzelung,
d.h. von der Individuation gelöst und betrachtet die Welt mit einem geistigen
Auge. Er sieht sich nicht mehr als Person, sondern als die allgemeine Idee, an
der er als Einzelperson teilhat. Erst durch die Negation der Individualität
kann die Alleinheit wieder hergestellt werden. In der Ideenschau kommt es, wie
in der Ethik des Mitleidens, zur Erkenntnis, daß alle Wesen eins sind. In der
Erkenntnis „Das bist du selbst“ (Tat twam asi) fällt der Schleier der Welt und
die reine Wirklichkeit, in der die Individuation aufgehoben wird, tritt vor das
geistige Auge des Betrachters.
Während die Wissenschaft, vom Satz des Grundes ausgehend, nach den
unterschiedlichen Erscheinungen fragt, wobei der Verstand nur das betrachtet,
was ihn interessiert, steht im Mittelpunkt der Kunst ein „interesseloses
Wohlgefallen“. Im Unterschied zu Kants Verständnis vom „interesselosen
Wohlgefallen“ verleiht Schopenhauer dem kantischen Gedanken einen neuen Sinn.
Solange dem Denken Motive, Zwecke und Ziele zugrunde liegen, wird es vom Willen
beeinflußt und kann sich dessen Wirkkraft nicht entziehen. Die Anschauung der
Idee des Schönen ist das befreiende Moment, das den Willen negiert und die
Befreiung vom Willen ermöglicht. Im interesselosen Wohlgefallen stellt sich die
Erlösung ein. „Die Befreiung vom Dienste des Willens [...] und Erhöhung des
Bewußtseins zum reinen, willenlosen, zeitlosen, von allen Relationen
unabhängigen Subjekt des Erkennens“ ist das Ziel der Ästhetik Schopenhauers.
Ähnlich wie in der Ethik vermag die Kunst die Kraft des Willens auszusetzen,
bzw. einzuschränken. Die Kunst ermöglicht eine positive Lebensbewältigung, die
der negativen Sicht auf das leidvoll erfahrene Dasein diametral gegenübersteht.
Im freien Spiel der Kunst kann der Mensch das Weltrad vergessen und sich der
Kunst als „bloßem und klarem Spiegel der Welt“ zuwenden. Der Künstler und der
Kunstbetrachtende analysieren nicht mehr das Wo, das Warum, das Wozu des
Willens, sondern vollziehen die unmittelbare Anschauung.
Schopenhauer folgt Platon, wenn er die Schönheit als Voraussetzung begreift, um
zu innerer Seelenruhe zu gelangen. Die Erkenntnis der Schönheit ermöglicht die
Verinnerlichung oder Apathie, die ihrerseits die Bedingung ist, um aus dem Kausalnexus
der Welt auszubrechen. Zur reinen Anschauung des Schönen kommt es dort, wo „das
angeschaute Objekt selbst nicht im Gebiete der Dinge liegt, welche einer
Beziehung zum Willen fähig sind“. In der Betrachtung des Naturschönen
intensiviert sich die ästhetische Anschauung, da hier der Wille und das ewige
Begehren ausgeschlossen werden, denn „die Sterne, die begehrt man nicht, man
freut sich an ihrer Pracht“. In der ästhetischen Anschauung erkennt der Mensch
nicht mehr die einzelnen Dinge, sondern die bleibende und unveränderliche Form.
Die Befreiung von der Welt des Willens und die damit verbundene Erlösung durch
die Kunst ist relativ, die Erlösung beschränkt sich einerseits nur auf den
Augenblick, andererseits ordnet Schopenhauer die Anschauung der Reflexion
unter. Trotz der Erlösungskraft, die Schopenhauer der Kunst einräumt, ist diese
Erlösung zeitlich begrenzt und vermag nicht das ewige Leiden und die ewige
Verzweiflung, das unbändige Wollen nach dem, was man nicht hat, aufzuheben. Die
Ästhetik ermöglicht es, daß Leben erträglicher zu machen, obwohl es
unerträglich ist.
3. Die praktische Philosophie und die Mitleidsethik
3.1. Die praktische Philosophie
Mit seiner praktischen Philosophie folgt Schopenhauer einerseits Kant und Hume,
andererseits entwickelt er eine eigenständige praktische Theorie. Mit Kant
stimmt er überein, daß die Sittlichkeit die Anerkennung eines Reiches der
Freiheit, d.h. eine intelligiblen Wirklichkeit voraussetzt, die sich von der
Naturkausalität unterscheidet. Der Mensch ist nicht frei indem was er tut, er
ist nur frei indem was er ist. Als intelligibler ist der Charakter des Menschen
ein Produkt seiner freien Entscheidung, die nicht dem Kausalitätsprinzip
unterliegt. Als empirisches Wesen ist der Mensch in kausale Zusammenhänge
eingebunden, aus denen er nicht heraus kann. Weil der empirische Mensch nur
seinem Wollen folgt, in dem er dem stärksten Motiv nachgeht, kann es im Bereich
des empirischen Willens keine Willensfreiheit geben, da alles, was der Mensch
denkt, begreift und will von Zweckvorstellungen abhängig ist. Anders
formuliert: Ein Wollen, das von bestimmten Motiven absieht, ist undenkbar.
Nicht im Bereich des Wollens ist die Freiheit zu finden, sondern allein im
Charakter, den Schopenhauer mit dem Sein identifiziert. „Da, wo die Schuld
liegt, muß auch die Verantwortlichkeit liegen: und da diese das alleinige Datum
ist, welches auf moralische Freiheit zu schließen berechtigt; so muß auch die
Freiheit ebendaselbst liegen, also im Charakter des Menschen.“ Nur für den intelligiblen,
d.h. von Raum und von der Zeit unabhängigen Charakter sind wir verantwortlich.
Schopenhauer, der sich mit seiner Vorstellung vom intelligiblen Charakter an
Kant anlehnt, distanziert sich von der praktischen Philosophie Kants, da er die
Quelle und die Begründung der Moral nicht mit der praktischen Vernunft
ableitet. Die Moralphilosophie hat es nicht mit der Bedingung der Möglichkeit
von Sittlichkeit zu tun, sondern sie muß in moralischer Hinsicht die
verschiedenen Handlungsweisen der Menschen deuten, erklären und auf einen
letzten Grund zurückführen. Schopenhauer faßt seine Vorstellung folgendermaßen
zusammen: „Moral predigen ist leicht, Moral zu begründen schwer“. An die Stelle
der praktischen Vernunftphilosophie Kants setzt Schopenhauer die Intuition und
schafft so einer völlig unkantischen Erklärung als Anfangsgrund der Moralität
Raum. Es ist nicht das transzendentale Ideal oder das „intelligible Substrat“,
wie Kant meinte, sondern die unmittelbare Erfahrung des Mitleidens. „Dieses
Mitleid ganz allein ist die wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und
aller echten Menschenliebe.“ Die Quelle und Grundlage der Moral ist keine im
Bewußtsein liegende Idee, sondern entspringt einem anderen Erkenntnisgrunde –
dem moralischen Gefühl. Schon David Hume redet vor Kant vom moralischen Gefühl,
dessen stärkstes Band die Liebe der Eltern zu den Kindern ist. Im Familienband
und in dem erfahrenen Wohlwollen, in der gelebten Kooperationsbereitschaft
sieht er den Kern der Moralität. Grundlegende moralische Fähigkeiten sind, so
Hume, Empathie, Mitgefühl und Mitmenschlichkeit. Nicht die Vernunft leitet zur
Sittlichkeit über, sondern die Affekte und die Erfahrung. „Denn diese lehrt
uns, dass Menschen von Handlungen angetrieben werden. Aus diesem Einfluss der
Sittlichkeit auf unsere Handlungen und Neigungen folgt, dass die Sittlichkeit
nicht aus der Vernunft hergeleitet werden kann, da ja die Vernunft allein
niemals einen solchen Einfluss haben kann. Die Sittlichkeit erregt Affekte und
erzeugt oder verhindert Handlungen. Die Vernunft allein aber ist hierzu ganz
machtlos; die Regeln der Sittlichkeit sind folglich keine Ergebnisse unserer
Vernunft [...].“ Wenn die Vernunft nicht ausreicht, um über sittliche
Handlungen Auskunft zu geben, bleibt das unmittelbare Gefühl übrig, das sich
einstellt, „damit den nützlichen gegenüber den schädlichen Tendenzen der Vorzug
gegeben wird“. Dieses Gefühl beschreibt Hume als Sympathie, deren Inhalt die
Beförderung des Glückes und die Vermeidung des Unglücks ist. Schopenhauer folgt
Hume, wenn er die moralischen Werte einerseits als egoistische, andererseits
als altruistische begreift. Wertvoll ist das, was dem egoistischen Tun
entgegenkommt, moralisch wertvoll nur das, was als uneigennütziges Handeln
verstanden wird. „Die Abwesenheit aller egoistischen Motivationen ist also das
Kriterium einer Handlung von moralischem Wert.“ Moralisch wertvoll sind nur
diejenigen Handlungen, die auf das Gemeinwohl ausgerichtet sind und dieses
befördern.
3.2. Die Mitleidsethik
Unter dem Begriff Mitleid versteht Schopenhauer nicht ein passives Mitleiden,
sondern eine aktive Stellungnahme gegenüber dem als Unrecht empfundenen Leid.
Der „positive Charakter“ des Mitleides enthält zwei Implikationen: Das ethische
Präventiv, niemanden zu verletzen, und die Fürsorge aktiv zu begleiten. „Je
nachdem nun teil jene unmittelbare Teilnahme, lebhaft und tiefgefühlt, teils
durch fremde Not groß und dringend ist, werde ich durch jenes rein moralische
Motiv bewogen werden, ein größeres oder geringeres Opfer dem Bedürfnis und der
Not des Anderen zu bringen, welches in der Anstrengung meiner leiblichen und
geistigen Kräfte für ihn, in meinem Eigentum, in meiner Gesundheit, Freiheit,
sogar in meinen Leben bestehen kann.“
Das Mitleid beruht, so Schopenhauer, auf einer ethischen Asymmetrie. Einmal ist
es (1.) das Objekt der Handlung, andererseits das Subjekt (2.), das handelt.
1. Der, der Mitleid erregt, befindet sich in einer existentiellen
Ausnahmesituation, in der er nicht ein Ich oder ein sich selbst bestimmendes
Subjekt ist, sondern von inneren und äußeren Faktoren und Einflüssen abhängt.
Sein Zustand ist die Asymmetrie sowohl gegenüber der Welt, die er als Leid
empfindet als auch an sich selbst, da er diesem Leid nichts zu entgegenzusetzen
vermag. Schopenhauer fordert vom Menschen, der diesem im Mitleid gegenüber
tritt folgendes: Anstelle die Schwäche des Anderen, sein Leid und seine
Abhängigkeit auszunutzen, da man in ihm den Unterlegenen sieht, auf den man
Macht ausübt, soll das Mitleid befähigen, den Anderen in seinem Leid
anzuerkennen. Das asymmetrische Verhältnis zwischen Helfer und Bedürftigem wird
in der aktiven sittlichen Handlung negiert. Das Ziel, ja die „instinktartige
Teilnahme am fremden Leiden“ muß zur Aufhebung der inneren Asymmetrie des
Leidenden führen und sein Leiden verringern. Der moralische Wert des Mitleides
besteht in der Wiederherstellung des Anderen. Das Mitleid als Hilfsangebot ist
moralisch wertvoll, wenn egoistische Motive ausgeschlossen werden. Im Egoismus
sieht Schopenhauer die Quelle des Leids, da jedes in der grenzenlosen Welt
verschwindende Subjekt, sich als Mittelpunkt der Welt begreift. Anstatt sich
unterzuordnen, stellt es ein persönliches Wohlsein in den Vordergrund und
schreckt nicht davor zurück, seine persönlichen Vorstellungen andern Wesen
aufzubürden. Im extremsten Falle ist es bereit, die andern für sein Selbstwohl
zu opfern. Jedes Individuum ist bereit „eine Welt zu vernichten, um nur sein
eigenes Selbst, diesen Tropfen im Meer etwas länger zu erhalten“. Der
grenzenlose Egoismus – der der Mitleidsmoral gegenübersteht – tritt, so
Schopenhauer, am deutlichsten hervor, „sobald irgendein Haufen Menschen von
allem Gesetz und aller Ordnung entbunden ist: da zeigt sich sogleich auf das
deutlichste das bellum omnium contra omnes, welches Hobbes trefflich
geschildert hat.“ Gegenüber Hobbes hält Schopenhauer daran fest, daß nur die
Reinheit des Antriebes die Bedingung der sittlichen Hilfestellung ist. Im
Helfer erwirkt die sittliche Hilfeleistung eine innere Zufriedenheit, die
Schopenhauer als Gewissen begreift. „Hat hingegen eine wohltätige Handlung
irgendein anderes Motiv; so kann sie nicht anders, als egoistisch sein, wenn
sie nicht gar boshaft ist.“
2. Auch beim sittlich Handelnden kommt es im Akt des Mitleides zu ethischen
Asymmetrien, denn die sittliche Handlung schließt die Gefahr des
Scheitern-Könnes mit ein. Der Handlungsakt kann sowohl zu psychischen als auch
zu physischen und materiellen Schädigungen führen, die der Handelnde in Kauf
nehmen muß, um seinem sittlichen Anspruch gerecht zu werden. Selbstaufgabe und
Selbsteinschränkung sind auf der Seite des Handelnden die formalen
Voraussetzungen, um das Leid zu ertragen und das Leid zu überwinden. Die Idee
von der Selbstzurücknahme als Bedingung der Möglichkeit des
Zu-sich-selbst-Kommens findet sich bereits in der Ethik des Buddhismus. Der
Rückzug aus der Welt und die Reflexion aus sich selbst begreift Schopenhauer
analog zum buddhistischen Denken nicht als einen Akt, der im Egoismus endet,
sondern als einen, durch den es möglich ist, anderen zu helfen, d.h. Mitleid zu
empfinden. Das praktische Ziel der Ethik Schopenhauers ist die Verminderung von
Leid und die Erlösung. Schopenhauers fordert in seiner Ethik nicht nur, daß der
Andere anerkannt wird, sondern, daß man seine eigene individuelle
Glückseligkeit einschränkt. Eine Zweck-Mittel-Abwägung, durch die man abwägt,
ob eine erbrachte Hilfeleistung für einen selbst sinnvoll und gewinnbringend
ist, weißt Schopenhauer von Anfang an zurück. Den kategorischen Imperativ
Kants, d.h. einen moralisch-sittlichen Satz a priori, der eine Handlung
vorschreibt, die zu verallgemeinern ist, begreift Schopenhauer nicht als
Voraussetzung der sittlichen Handlung, da es rein subjektive Beweggründe sind,
die zur sittlichen Handlung führen. An die Stelle des kantischen Imperativ
setzt Schopenhauer die Goldene Regel „omnes, quantum potes, juva (Hilf allen,
so viel du kannst) [...].“
Schopenhauer stellt sich immer wieder die Frage: „Wie ist es aber nun möglich,
dass ein Leiden, welches nicht meines ist, nicht mich trifft, doch eben so
unmittelbar, wie sonst nur mein eigenes, Motiv für mich werden, mich zum
Handeln bewegen soll?“ Anders formuliert: Gibt es eine Identifikation mit
fremden Leid? In dieser Frage kommt sowohl Schopenhauers Optimismus im Hinblick
auf die Mitleidsmoral als auch sein Idealismus zum Ausdruck. Zu optimistisch
ist sicherlich die Vorstellung, daß man sich in das Leid des Anderen
hinzusetzen vermag, es so empfindet, als ob es das eigene wäre. Der Optimismus
der Mitleidsethik, der den sonstigen Vorstellungen vom Leiden der Welt
gegenübersteht, erfordert vom Gegenüber, das die Hilfeleistung erbringen soll
sicherlich zu viel. Durch die Wahrnehmung fremden Leides, wie Schopenhauer
betont, ist es meines Erachtens unmöglich, am fremden Leid so zu partizipieren,
als ob man es als sein eigenstes und innerstes begreift. Der ethische
Idealismus Schopenhauers geht von der unmittelbaren Leidensfähigkeit aus.
Sicherlich vermag das Leid anderer Wesen – man denke an die Terrorakte in den
USA – den Menschen aus der Alltäglichkeit, aus dem status quo Denken
herauszulösen, ob aus dieser Erfahrung eine unmittelbare Hilfeleistung zu
erwarten ist, bleibt letztendlich fraglich, da egoistische Motive letztendlich
immer Vorrang haben.
So sehr Schopenhauer einerseits die Notwendigkeit und die Wirklichkeit des
Leids in der Welt betont, die jedem Wesen existentiell eingeschrieben ist, soll
es auf der anderen Seite eine Freiheit zum moralischen Mitleid geben. Kausale
Determination auf der Seite der Erkenntnis und moralische Freiheit auf der
Seite der praktischen Philosophie heben sich wechselseitig auf. Schopenhauer
gelingt es mit seiner praktischen Mitleidsmoral nicht, den Dualismus zwischen
der Welt der Erscheinungen und dem praktisch-moralischen Bewußtsein zu vermitteln.
Er liefert eher eine Moralpsychologie als eine normative Ethik. Weitere
Probleme treten hinzu: Wie soll es zu einer Identifizierung zwischen Subjekt
und Objekt kommen, wenn der Akt der Identifizierung unmittelbar sein soll? Die
Identifizierung setzt einen reflexiven Akt voraus, denn nur, wenn das Ich weiß,
daß es mit dem Anderen identisch ist, ist es ihm möglich, sich mit dem Anderen
zu verbinden. Dieser reflexive Akt ist aber nicht vereinbar mit der
unmittelbaren Wahrnehmung des Fremden. Das Helfen setzt das Wissen um die
persönliche Identität des anderen voraus. Es reduziert sich daher nicht, wie
Schopenhauer glaubte, auf ein moralisches Gefühl, sondern muß den
reflektierenden Verstand miteinbeziehen. Ohne, daß der Mensch erkennt, daß ihm
der Andere als Persönlichkeit gegenübersteht, kann er diesem gar nicht
entgegenkommen, da er nicht einmal weiß, ob es sich beim Gegenüber um eine
individuelle Person handelt, der man verpflichtet ist. Die Unmittelbarkeit der
Wahrnehmung, die Schopenhauer als Quelle der Moralität des Mitleids
auszeichnet, wird reflexiv immer schon durchbrochen. Aus der unmittelbaren
Wahrnehmung sind normativ weder die Pflicht zur Handlung noch die Gebote
anzugeben, unter denen die Handlung geschehen soll. Zwei weitere
Schwierigkeiten treten auf, wenn man zum einen Schopenhauers Goldene Regel und
zum anderen die Metaphysik des Willens heranzieht. Die Goldene Regel ist nichts
anders als eine moralische Maxime oder – objektiv gesehen – ein moralischer
Imperativ. Soll dieser Imperativ der moralischen Mitleidsethik vorausgehen,
dann muß das helfende Bewußtsein auf diesen Imperativ reflektiert haben, denn
nur so ist es ihm möglich, sittlich zu handeln. Wenn es im Akt der Handlung
diesen Imperativ voraussetzt, kann es nicht mehr unmittelbar sein, denn es
setzt sich diese Maxime entweder als objektives oder subjektives Gesetz. Damit
ist aber die Grundlage der Unmittelbarkeit der Handlungsaktion zugunsten der
Reflexion aufgehoben. Konsequenterweise müßte Schopenhauer entweder auf der
Unmittelbarkeit der Aktion bestehen und die Goldene Regel vernachlässigen oder
er müßte die Unmittelbarkeit durch die Goldene Regel durchbrechen. Beide –
Unmittelbarkeit und Reflexion – heben sich auf. Gerade an diesem Punkt sieht
man, daß Schopenhauers Ethik zwischen der Ethik Kants und der Ethik Humes
oszilliert. Mit Kant sucht er nach einer verbindlichen Form von Moralität,
durchbricht diese zugunsten des unmittelbaren nicht reflexiv-vermittelten
Mitleids. Mit Hume sucht er nach einem unmittelbaren Gefühl, das nicht aus der
Vernunft abgeleitet wird, das sich aber durch die Goldene Regel auf die
Vernunft notwendig beziehen muß. Auf der einen Seite kritisiert er den
kantischen Formalismus, auf der anderen den empirischen Wertrelativismus Humes.
Im Unterschied zu Hume, bei dem sich die Begriffe des Mitleides und der
Menschenliebe finden, begreift Schopenhauer das Mitleid als ein unmittelbares
Einssein mit dem Gegenüber. An die Stelle einer Gefühlsansteckung, wie sie Hume
glaubt, tritt das existentielle Betroffensein. Das unmittelbare Erlebnis der
Identifizierung mit dem Anderen – das Mitleid – ist für Schopenhauer „das große
Mysterium der Ethik, ihr Urphänomen und der Grenzstein, über welchen hinaus nur
noch die metaphysische Spekulation einen Schritt wagen kann“. An anderer Stelle
heißt es: „Nur dadurch kann sein Wehe, seine Not, Motiv für mich werden [...].
Dieser Vorgang ist, ich wiederhole es, mysteriös, denn es ist etwas, wovon die
Vernunft keine unmittelbare Rechenschaft geben kann, und dessen Gründe auf dem
Wege der Erfahrung nicht auszumitteln sind. Und doch ist er alltäglich. Jeder
hat ihn oft an sich selbst erlebt, sogar dem Hartherzigsten und
Selbstsüchtigsten ist er nicht fremd geblieben.“
Ohne die Ethik wissenschaftlich zu begründen, beschreibt Schopenhauer das Verhältnis
zwischen Mensch und Mitmensch. Nicht von philosophischer, sondern allein von
der Phänomenologie alltäglicher Erfahrungen ausgehend ist Schopenhauers Ethik
verständlich. Ohne das Problem von Unmittelbarkeit und Reflexion zu lösen, hält
Schopenhauer an der Mitleidsmoral fest, wenn er schreibt: „Wie gesagt, nur
dadurch, dass ich es [den Anderen, Herv. S. G.], obgleich mir nur als ein
Äußeres, bloß vermittelst der äußern Anschauung oder Kunde gegeben, dennoch
empfinde, es als meines fühle, und doch nicht in mir, sondern in einem Andern,
und also [...] zwischen leiden sehn und leiden kein Unterschied“ ist. Die
Voraussetzung des Mitleidens ist, so Schopenhauer, die Aufhebung der Differenz
zwischen Subjekt und Objekt. Nur wenn die Differenz zwischen Ich und Nicht-Ich
negiert wird, „dann wird die Angelegenheit des Andern, sein Bedürfnis, seine
Not, sein Leiden, unmittelbar zum meinigen: dann erblicke ich ihn nicht mehr,
wie ihn doch die empirische Anschauung giebt, als ein mir Fremdes, mir
Gleichgültiges, von mir gänzlich Verschiedenes; sondern in ihm leide ich mit,
trotz dem, dass seine Haut meine Nerven nicht einschließt.“
Diesem Optimismus kann man entgegenhalten, daß Schopenhauer wußte, daß nicht
die Vielzahl der Menschen, sondern nur die Auserwählten und die Erlesenen zum
Mitleid befähigt sind. Der Rest der Menschen ist stumpf und moralisch
regungslos, da, auch dies hat Schopenhauer erkannt, das Prinzip der
Individuation dem menschlichen Egoismus besonders entgegenkommt. Jeder, und
dies ist die Kritik Schopenhauers am Menschen, will zuerst sein Wohl, bevor es
ihm um sein Gegenüber geht. In seiner Ethik des Mitleidens geht es ihm in
erster Linie um die Aufhebung des Egoismus. Er will mit seiner Ethik den
Menschen befähigen, auf andere Wesen Rücksicht zu nehmen und diese anderen
Lebewesen in sein Leben zu integrieren. Schopenhauer kritisiert die stoische
Autarkieethik und setzt an ihre Stelle die Ethik des Mitleides.
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Ruszat 10.09.2013 17:43
Zum ersten Mal habe ich den ganzen philosophischen Umfang des Zusammenhangs von Wille und Vorstellung verstanden, vielen Dank. Heide Ruszat-Ewig