Erschienen in Ausgabe: No. 14 (1/1998) | Letzte Änderung: 31.01.13 |
von Stefan Groß
Fortsetzung von Teil I
Vom rationalen Standort aus gesehen ist nicht zu erklären,
warum ein Mensch mit einem anderen Mitleid empfindet. Rationalen und
zweckbestimmten Vorstellungen steht das Mitleid quer. Ein kategorischer
Imperativ wird nicht benötigt, der eine Handlung gebietet. Vom egozentrischen
Vernunftstandpunkt aus gesehen, wird in der Gesellschaft derjenige als
geistesgestört betrachtet, der nicht zu seinem Vorteil handelt, sondern im Akt
des Mitleides unter Umständen sich noch Schaden zufügt, wenn er anderen hilft.
Den egoistischen Triebfedern des Handelns stellt Schopenhauer das Handeln aus
Mitleid gegenüber. Im mitleidigen Handeln vergißt der Mensch sich selbst. Seine
egoistischen Motive, die sonst sein Denken und Handeln bestimmen, muß er
ausschließen, wenn ihm etwas an der Handlung und damit am anderen Menschen
liegt. Die Quelle des Mitleids läßt sich weder von einem ontologischen noch vor
dem menschlichen Hintergrund aus begründen, sie ist von der unmittelbaren
Selbstentsagung abhängig. Im Mitleiden wird nicht nur meine Individualität
aufgehoben, sondern ebenfalls die des Gegenübers. Es mag paradox erscheinen,
daß Schopenhauer einerseits das Mitleid auf eine konkrete Person bezieht,
andererseits davon ausgeht, daß das Mitleiden nicht um der Persönlichkeit
willen, sondern nur vom Leid ausgelöst wird, das man empfindet. Unabhängig von
der Persönlichkeit des anderen Menschen soll der Mensch Mitleid ausüben.
Unabhängig von persönlichen Motiven soll das Mitleid mit dem Anderen
ausreichen, um diesem zu helfen. Die Mitleidsethik Schopenhauers fasziniert auf
der einen Seite, da sie von jedermann fordert, Mitleid zu üben. Auf der anderen
Seite – dies ist als Kritik an Schopenhauers ethischen Vorstellungen zum
Mitleid zu verstehen –, kann man mit jemanden nur mitleiden, wenn man ihn
einerseits als Person kennt und sich andererseits im Akt des Mitleidens nicht
negiert. Die Negation des egoistischen Ich wird aber von Schopenhauer
gefordert, weil er in der Selbstaufgabe die Bedingung der Möglichkeit der
unmittelbaren Identifizierung mit dem Gegenüber zu erkennen glaubt.
Sein Schüler Nietzsche kritisiert bereits in seiner ersten Schrift „Die Geburt
der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ Schopenhauers Metaphysik des Willens und
seine Lehre vom Mitleiden. Nicht das Mitleid ermöglicht es dem Menschen, über
sich selbst hinauszugehen, sondern die unmittelbare Bejahung des als schlecht
empfundenen Lebens ist die Voraussetzung der positiven Selbstüberschreitung,
die es dem Menschen ermöglicht, sein Schicksal anzunehmen. An die Stelle der Negation
des Schicksals setzt Nietzsche die Affirmation desselben, die er im „Amor fati“
bekundet.
Dem modernen Interpreten, der sich Schopenhauers Philosophie annähert, stellt
sich die Frage nach der Aktualität dieses Denkens. Sind seine philosophischen
Gedanken zur Ethik immer noch aktuell oder kann man auf sie verzichten? Zuerst
eine negativer Antwort: In modernen Ethikentwürfen spielt Schopenhauers
Philosophie keine Rolle mehr, da sich die moderne Ethik von
Letztbegründungsstrategien distanziert. Im Mittelpunkt ethischer Entwürfe steht
nicht mehr die Lehre vom Willen, den man als objektives Prinzip interpretiert.
Dagegen steht ein positiver Befund: Schopenhauers Kritik am Individualismus ist
die Kritik an einem Menschentypus, der sich im 21. Jahrhundert findet. Die
moderne Gesellschaft belohnt jenen Menschen, der voranstrebt und keine
Rücksicht auf die anderen Wesen nimmt. Eine Prämisse der modernen
kapitalistischen Gesellschaft ist die Selbstsucht der Individuen und die damit
verbundene Selbstbefriedigung. Anstatt auf das Gemeinwohl zu reflektieren, geht
es in erster Linie um die Befriedung elementarer und subjektiver Interessen,
bevor das Gemeinwohl ins Spiel kommt. Die Leistungsgesellschaft fordert vom
Einzelnen, sich selbst zu übertrumpfen und sich selbst zu überhöhen. Anstatt
kritisch mit ihren Werten abzurechnen, intensiviert sie den Druck auf den
Einzelnen, der sich als Glied der Gesellschaft von dieser bestimmt weiß. Es ist
nicht der Wille, der den einzelnen Menschen objektiviert, sondern die Gesellschaft
mit ihren Wert- und Normvorstellungen, die ihn in Frage stellt. Der von der
Gesellschaft geforderte Anspruch, mehr zu sein als man eigentlich ist, stellt
ein Grundphänomen der Moderne dar. Die geforderte Selbstüberschreitung, der
objektive Wille, sich zu überschreiten, um den Anforderungen der Gesellschaft
Tribut zu leisten und die Selbstinszenierung sind es letztendlich, die den
Menschen heutzutage permanent überfordern. Der von der Gesellschaft und von den
Medien gebotene Zwang, sich zu perfektionieren, löst als negative Erscheinungen
Angst, Frust, Neid, Gier und Leiden aus. Die selbst gesteckten Ansprüche, die
mit der vorgegebenen Norm in Übereinstimmung zu bringen sind, um dem Weltbild
zu entsprechen, führen zu einem inneren Konflikt. Ängste und Sorgen, aus der
Norm zu fallen, sind Alltagsphänomene. Die Zugehörigkeit zu einem
Gesellschaftssystem, dem man nicht gerecht wird, führt entweder zu einem
übersteigerten Egoismus oder im extremsten Fall zur Selbstaufgabe. Der Egoismus
ist für die Moderne ein Existential und ein von der Gesellschaft gewünschtes
Phänomen, da er auf die gesellschaftlichen Vorgaben reagiert. Analysiert man
die moderne Gesellschaftsform des Kapitalismus, fällt auf, daß egoistische
Motive unterstützt, alturistische Motive, d.h. solche, die sich an den
Interessen anderer orientieren, erst an abgeleiteter Stelle benannt werden. Nur
jener steht fest in der Gesellschaft, der sein Mitleid zugunsten der
gewünschten Rationalität eintauscht. Nicht die Rücksicht und das Mitleid mit
den anderen, sondern die unmittelbare Affirmation des Selbst stehen im
Vordergrund der gegenwärtigen Gesellschaft. Diese Einseitigkeit mag zwar
unmittelbar befriedigen, wenn es um subjektive Rechtfertigung geht. Objektiv
gesehen, richtet sie nichts, da die Selbstbestimmung den Anderen ausschließt.
Die Ethik des Mitleidens und die gebotene Selbstzurücknahme, die Schopenhauer
fordert, lassen sich als Basis interkommunikativer Verständigung begreifen.
Anstelle nur egozentrisch die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, erfordert die
Ethik des Mitleidens vom Subjekt die Bereitschaft zur Selbstinfragestellung. So
hoch gesteckt egoistische Motive auch sein mögen, sie bleiben einseitig und
bringen den Menschen in die Isolation. Die aus dieser Einseitigkeit
resultierende Freiheit erlangt er nur durch den Ausschluß der anderen. In der
modernen Wirtschaftsgesellschaft wird die Einsamkeit besonders deutlich.
Manager fragen selten nach dem sozialen Nutzen, die ihre Tätigkeit erbringen
könnte, sondern nur nach der Verrechenbarkeit und nach dem höchst möglichen
Ertrag. Anders argumentiert Schopenhauer: Mitleid ist nicht so anzustreben, das
man es verrechnen kann, es ist vielmehr anzustreben, als ob kein persönlicher
Zweck dahinter steht. Nicht weil ich mitleide, ist mein Mitleid sittlich und
moralisch gut, sondern, weil es zweckfrei angestrebt wird, ist es
gerechtfertigt.
Der Mensch ist nicht nur ein animum rationale, sondern ein soziales Wesen, das
erst zur Person wird, wenn es anderen Menschen hilft. Die Mitleidsethik, wie
sie Schopenhauer fordert, ist nicht das Ziel des gesellschaftlichen
Miteinanders, sondern die Voraussetzung von Menschlichkeit. Dem Menschen –
insbesondere dem homo faber – fällt es schwer, auf sich selbst zu verzichten,
um anderen zu helfen, da die Selbstaufgabe nicht mit der gesellschaftlichen
Forderung – ein autonomes und freiheitliches Wesen zu sein – vereinbar ist. Nur
im Verzicht, sich selbst als das Maß zu begreifen, gelingt es dem Menschen
letztendlich, aktiv am Leid des Anderen zu partizipieren. Dieses aktive Moment
setzt ein hohes Maß an Selbstreflexion und kritischer Distanz voraus. Das Maß
zur Selbstbeschränkung fordert nicht nur Schopenhauer, sondern auch moderne
Philosophen wie Hans Küng und Hans Jonas. Nur der Selbstverzicht, der in der
heutigen Gesellschaft ein Ideal ist, ermöglicht eine Mitleidsethik, denn
heutzutage ist es mehr denn je geboten, auf den Anderen um seiner selbst willen
einzugehen. Die Forderung Schopenhauers, Mitleid auszuüben, wird angesichts
ökonomischer und religiöser Probleme immer aktueller. Der Selbstverzicht
könnte, wie es auch Hans Jonas fordert, zu einem neuen ethischen Imperativ
werden, da nur der demütige Mensch in der Lage ist, seine Umwelt zu verändern.
Die Prämissen, die Jonas seiner Philosophie der Ethik und der Ökologie voraussetzt
sind andere als diejenigen Schopenhauers. Jonas hat sich von
Letztbegründungsstrategien verabschiedet. Seine Theorie der Selbstzurücknahme
entwickelt Jonas vor dem Hintergrund atomarer, gentechnologischer und
medizinethischer Probleme. Dem Individualismus ist nur zu begegnen, so Jonas,
,,wenn man gesamt perspektivisch, d.h. global denkt. Nur wenn der Einzelne den
Anderen in seine Denk- und Handlungsvollzüge mit einschließt, verbindet er
individuelle und gemeinschaftliche Prämissen“.
Die Selbstzurücknahme einerseits und die Maxime „Hilf allen“ andererseits sind
heutzutage immer noch Voraussetzungen kommunikativer, integrativer sowie
interaktiver Handlungen. Um sittlich zu handeln, bedarf man keiner Theorie der
Sittlichkeit, die sich mit den Bedingungen der Möglichkeit praktischer Sätze a
priori beschäftigt, sondern der unmittelbaren Hingabe. Die Ethik des Mitleids
wird zur praktischen Tat, die dort helfend eingreift, wo sie der Mensch
erwartet und benötigt.
4. Erlösungslehre
Den Willen denkt sich Schopenhauer nicht als absolute Vernunft, sondern – wie
betont – als einen blinden, vernunftlosen Drang, der über das Subjekt Macht
ausübt. Als unbändiger Drang hat er weder einen Sinn noch ein bestimmtes Ziel.
Der blinde Drang des Willens ist ein ewiges Leiden. Diesem metaphysischen
Prinzip kann der Mensch einerseits nicht entkommen, weil ihn dieses „umgreift“.
Andererseits verlangt der einzelne Mensch nach einer Erlösung vom ewigen
Leiden. Die Erlösung vom Leid der Welt ist nicht an die Leistungskapazität des
Intellekts gebunden, da sich mit dem Verstandeswissen und mit der Vernunft das
Leid nur steigert. Je mehr der Mensch erkennt, desto mehr ist er getrieben,
desto mehr erkennt er, daß er dem Leiden nicht entfliehen kann. „In der Pflanze
ist noch keine Sensibilität, also kein Schmerz: ein gewiß sehr geringer Grad
von beiden wohnt den untersten Tieren, den Infusorien und Radiarien ein: sogar
in den Insekten ist die Fähigkeit zu empfinden und zu leiden noch beschränkt:
erst mit dem vollkommenen Nervensystem der Wirbeltiere tritt sie in hohem Grade
ein, und in immer höherem, je mehr die Intelligenz sich entwickelt.“
Im Unterschied zu Kant glaubt Schopenhauer nicht an die Kraft des Intellekts,
sondern sieht in der Kontemplation und Selbstverinnerlichung die Erlösung.
Damit knüpft Schopenhauer an die neuplatonische Tradition und Geistesgeschichte
an, wenn er die Loslösung von der Welt als das eigentliche Ziel des
menschlichen Geistes begreift. An die Stelle der vita activa setzt Schopenhauer
die vita contemplativa, d.h. er betont den Vorrang des mystischen Lebens vor
dem praktischen Leben. Der Zustand der Erlösung stellt sich endgültig ein, wenn
man von allem abläßt. Der kategorische Imperativ – „Laß ab von allem“ –, den
Plotin seiner praktischen Philosophie voranstellt, beeinflußte Schopenhauer.
Dieser Imperativ beinhaltet die endgültige Loslösung von der Welt und fordert
die uneingeschränkte Einkehr in den Grund allen Seins.
Schopenhauer wendet sich gegen den metaphysischen Optimismus der vorkantischen
Philosophie. Leibniz hielt daran fest, daß die Welt, die beste aller nur
möglichen Welten ist, Schopenhauer dagegen zweifelt die Lehre Leibniz an, da er
die Welt als die schlechteste aller möglichen Welten begreift, die, wenn sie
noch geringfügig schlechter wäre, überhaupt nicht existieren würde. In der
Kritik, daß in der Welt alles nach dem Prinzip der Vernunft organisiert und von
diesem Prinzip bestimmt ist, kommt Schopenhauers Pessimismus zum Ausdruck. Das
endliche Dasein, das vom Willen bestimmt ist, ist sinnlos und unbefriedigend.
Die Bejahung des Lebens ist triebhaft und ein Akt der Selbsterhaltung, zur
Befreiung kommt es nicht. Die Sinnlosigkeit des menschlichen Daseins ist darin
begründet, daß es trotzdem da sein will, da alle lebendigen Wesen versuchen,
das Leben anzustreben. Haben sie ihre Ziele erreicht, so die Kritik
Schopenhauers, wissen sie damit nichts anzufangen „[...] daher ist das [...],
was sie in Bewegung setzt, das Streben, die Last das Dasein loszuwerden, es
unfühlbar zu machen, die Zeit zu töten, d.h. der Langeweile zu entgehen.“ Das
Leben ist ein Circulus vitiosus, denn jeder Mensch strebt nach dem Dasein, das
letztendlich Leiden ist, da jeder immer mehr will und daran leidet, wenn er es
nicht bekommt. Hat man nämlich das erreicht, was man wollte, stellt sich die
Langeweile ein, die Schopenhauer als negative Vorstellung vom Glücklichsein
versteht. Der Mensch, der nach dem Höheren strebt und dieses bewahren will,
wird ewig unglücklich sein, da alles Höhere nach einem noch Höheren strebt. Der
Mensch, der sich nicht von diesem Drang zu befreien sucht, wird ewig
unzufrieden sein. Aus der Kette des ewigen Strebens, das auf höherer Stufe
wiederum zum Unbefriedigtsein führt, gibt es keine Erlösung. Will man dem
Schicksal entfliehen, muß man den Willen negieren. Nur die Negation des Willens
ermöglicht ein Leben, das sich dem ewigen „Rad des Seins“ entgegenstellt und
das Leiden an und in der Welt aufhebt. Der Zustand der reinen Negation ist mit
dem Glückseligkeitsbedürfnis, d.h. mit dem Wunsch der Menschen selig zu werden
unvereinbar. Der Kampf des Lebens besteht zwischen den Polen der Negation und
der Position, er ist erst gewonnen, wenn man sich von der Welt verabschiedet.
In der Befreiung von seinen subjektiven Motiven stellt er erst die unmittelbare
Einheit mit seinem Wesen her. Dieser Zustand, in dem der Mensch nichts will,
steht in enger Verbindung mit der indischen Vorstellung vom Nirwana. Das
Nirwana ist der Ort, an dem die Befreiung vom Leiden gelingt. Der Tod, nicht
der Selbstmord, der als enttäuschter Akt immer noch vom Willen abhängig ist,
ist das Ziel der endlichen Existenz, denn „das Sterben ist der Augenblick der
Befreiung von der Einseitigkeit der Individualität, welche nicht den innersten
Kern unseres Wesens ausmacht, vielmehr als eine Art Verwirrung desselben zu
denken ist: die wahre, ursprüngliche Freiheit tritt wieder ein.“ Nur
demjenigen, der das Leid der Welt erkannt hat, ist der Tod ein dienstbares
Ereignis, da er sich in ihm vom ewigen Leid befreit. Der Tod ist nicht nichts,
sondern die höchste Form der Entsagung und der Ort der absoluten Erlösung. „Das
Dasein, welches wir kennen, gibt er freiwillig auf: was ihm statt dessen wird,
ist in unsern Augen nicht; weil unser Dasein, auf jenes bezogen nichts ist. Der
buddhistische Glaube nennt jenes Nirwana, d.h. Erloschen.“ Gegen Hegel
polemisiert Schopenhauer, wenn er schreibt:
„Besagte Geschichtsphilosophen und Geschichtsverherrlicher sind demnach
einfältige Realisten, dazu Optimisten und Eudämonisten, mithin platte Gesellen
und eingefleischte Philister, zudem auch eigentlich schlechte Christen, da der
wahre Geist und Kern des Christentums ebenso die des Brahmanismus und
Buddhaismus die Erkenntnis der Nichtigkeit des Erdenglücks, die völlige
Verachtung desselben und Hinwendung zu einem ganz andersartigen, ja
entgegengesetzten Dasein ist [...]. Daher eben der atheistische Buddhaismus dem
Christentum viel näher verwandt ist als das optimistische Judentum und seiner
Varietät, der Islam.“
Um dieser Welt letztendlich zu entfliehen, kann der Einzelne nur Nein zu seinem
Schicksal sagen. Dieses Nein-Sagen, das später Nietzsche auf eindrucksvolle
Weise kritisiert, ist für Schopenhauer der einzige Ausweg aus dem irdischen
Dilemma. Dieses Nein muß der Mensch aushalten, ohne die Gewißheit zu haben, in
einer transzendenten Welt glücklich zu werden. Schopenhauers Philosophie ist
nicht an einer jenseitigen Welt orientiert, er stellt keine Erlösung im Himmel
vor, sondern glaubt an die Selbstzurücknahme und positiv an die stoische
Gleichgültigkeit, die der Mensch als entsagender sucht, um sich von der Welt zu
distanzieren und zugleich sich selbst zu befestigen. Das Ziel der Erlösung ist
nicht die Flucht in ein postmortales Reich, in dem der Mensch sein auf Erden
nicht erlangtes Glück gewinnt, sondern die innere Distanz zur Welt. Der Umgang
mit der Welt ist so vorzustellen, als hätte man sie nicht. Nur wenn man den
Scheincharakter der Welt erkennt, ist ein Leben in ihr möglich und sinnvoll.
Der radikale Pessimismus Schopenhauers ist befremdlich, da er alle Illusionen,
die der Mensch zum Leben benötigt und diesem voranstellt als Scheinideale
entlarvt. Mit der Strenge der Lebensführung, mit dem Verzicht auf die
Vorstellung eines glücklichen Erdenlebens knüpft Schopenhauer an ein
Verständnis vom Leben an, das sich in der buddhistischen Religion ausgeprägt
findet.
5. Zusammenfassung
Mit seinem Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung“ legt Schopenhauer
sein Verständnis von Philosophie vor. Den Ausgang nimmt Schopenhauer bei der
kritischen Beurteilung des Verstandesvermögens, in dem er nachweist, was und in
welcher Form der Mensch überhaupt erkennen kann. Das Was der Erkenntnis sind
seine Vorstellungen, die Form der Erkenntnis ist der Satz vom Grunde, der jedem
Erkennen voraus liegt. Die Welt als Vorstellung ist nur eine Seite der
Erkenntnis, sie ist zugleich eine subjektive Transzendentalphilosophie. Da es
aber Schopenhauer nicht nur um den subjektiven Zugang zur Wirklichkeit geht,
bedarf es eines objektiven Prinzips. Das vorstellende Bewußtsein ist eine Erscheinung
dieses Prinzips. Aus subjektiver Sicht kann Schopenhauer sagen: Das Subjekt ist
die Einheit von Vorstellung und Erscheinung des Willens. Mit Kant stimmt
Schopenhauer überein, wenn er die Vorstellung aus dem Subjekt ableitet. Mit der
Ableitung des Intellekts und mit der Grundüberzeugung, daß das Denken eine
Funktion des Gehirns sei, geht Schopenhauer über Kant hinaus, da er die
Gehirntätigkeit als Produkt des Organismus interpretiert, der seinerseits
Materie bzw. ein Produkt des sich objektivierenden Willens ist. Schopenhauer
greift sowohl mit seiner Philosophie vom Leib als auch von seinem Verständnis
vom Gehirn naturphilosophische Positionen seines Jahrhunderts auf. Sein
philosophisches Interesse bei der Erklärung der Welt als Vorstellung greift auf
die Naturphilosophie zurück, da er letztendlich die Vorstellung nicht im Sinne
des deutschen Idealismus als subjektiven Idealismus begreift, sondern als ein
Produkt der Natur des Willens. Mit seiner Philosophie vom Willen als Ding an
sich betritt Schopenhauer den Boden der Spekulation. Da, wo Kant gewarnt hat,
Urteile zu fällen, beginnt Schopenhauers Philosophie, die er als immanente
Metaphysik begreift. Die Welt der Erscheinungen und Vorstellungen ist objektiv
gesehen die Entäußerung des willenhaften Grundes. Das Ganze, das Subjekt und
materielle Wirklichkeit umfaßt, ist die Welt der Erscheinung, die auch die Welt
der Vorstellung heißt. Wäre die Philosophie lediglich Theorie der rationalen
Erfahrung, hätte es mit dem Satz „Die Welt ist meine Vorstellung“ sein
Bewenden. Schopenhauer erblickte jedoch in der Erfahrung bzw. der Erkenntnis
ursächlich verbundener Gegenstände in Raum und Zeit nur eine von zwei möglichen
Weisen, sich zum Sein zu verhalten; ihr steht eine andere gegenüber, die nicht
mehr diskursiven, sondern intuitiven Charakter hat; ihr entspricht der
komplementäre Satz „Die Welt ist Wille“. Erst beide Sätze zusammen ergeben die
Formel von Schopenhauers metaphysischer Auffassung. Schopenhauer glaubte nicht,
daß wir im Erlebnis des Wollens geradezu etwas Nicht-Phänomenales, also eine
Wirklichkeit an sich, erfassen; er meinte vorsichtiger, in der Erfahrung des
eigenen Willens würde die Anschauungsform der Zeit gleichsam durchscheinen, so
daß wir wie durch einen Schleier hindurch die Wirklichkeit an sich, wie sie
unabhängig von den Anschauungs- und Denkformen sein mag, erfassen könnten. Er
vergleicht das Ding an sich mit einer Festung, die allen direkten Angriffen
standhält, die sich aber einnehmen läßt, wenn man einen unterirdischen Gang
entdeckt, der in ihr Inneres führt. Der Vergleich bringt zum Ausdruck, daß sich
die Wirklichkeit an sich nicht im rationalen Denken, d.h. unter den Bedingungen
der menschlichen Anschauung und des Satzes vom Grunde erkennen läßt, daß sie
sich aber einem Denken anderer Art erschließt.
Im Mittelpunkt seiner Ästhetik steht die Lehre von der Schönheit, die
Schopenhauer als platonische Idee vorstellt. Die Ideenschau ermöglicht die
Befreiung vom Willen, da in der Schau das Erkennende, das Erkannte und der Akt
des Denkens zusammenfallen. Mit seiner Ästhetik sucht Schopenhauer nicht nach
dem schönen Schein und der Illusion, an die Stelle eines ästhetischen
Optimismus setzt er einen ästhetischen Pessimismus, der in der Kontemplation
endet. Die Schönheit soll nicht, wie der junge Nietzsche glaubte, die Welt
erträglicher erscheinen lassen, die Schönheit erweist sich als die Aufhebung
der endlichen Schönheit und endet in der zeitlich beschränkten Aufhebung des
Willens.
Schopenhauers Vorstellungen zur Ethik des Mitleidens sind ambivalent.
Einerseits stellt er die Freiheit der Subjekte in Frage, wenn er behauptet:
Alle Freiheit beruhe auf Notwendigkeit, alle Handlungen basieren auf Motiven,
die ihnen vorausliegen. Andererseits geht Schopenhauer vom intelligiblen
Charakter aus, der für die Freiheit des Menschen und für seine Verantwortung
steht. Der intelligible Charakter ist angeboren, man kann diesen im zeitlichen
Leben nicht ändern, sondern diesem nur folgen. Im Selbstbewußtsein gibt es
keine Freiheit, überhaupt gibt es nur die Illusion der Freiheit. Die Erkenntnis
des freiheitlichen Charakters wird dem Menschen erst bewußt, wenn er sein
Selbstbewußtsein als wollendes begreift, dann ist das Bewußtsein des eigenen
Willens letztendlich eine Erkenntnis, die sich erst post festum einstellt. Die
Frage nach der Freiheit des Willens kann das Selbstbewußtsein nicht stellen.
Nur dem Bewußtsein ist es möglich, sich über seine Freiheit bewußt zu werden,
wenn es sich selbst aufhebt. Zwischen dem auf dem Willen einwirkenden Motiv und
dem Agieren des Willens besteht eine strenge Kausalität, die Freiheit
ausschließt. Der Mensch hat nur eine relative Freiheit, er kann überlegen, was
er will und was er macht. Diese relative Freiheit halten die Menschen, so die
Kritik Schopenhauers, für die Willensfreiheit. Das Überlegen-Können ändert
nichts daran, daß mein Wille immer dem stärksten Motiv folgt und notwendig
bestimmt ist. Die Freiheit findet sich nicht, indem was man tut, sondern nur in
dem, was man ist. Der Charakter ist nicht dem Kausalitätsprinzip unterworfen.
Die Freiheit, die im Bereich des Wollens zu finden ist, muß im Sein, d.h. im
Charakter gesucht werden.
Das Problem läßt sich in aller Kürze formulieren: Einerseits ist der Mensch als
intelligibler Charakter frei, andererseits ist die Freiheit zur Handlung
determiniert. Das Problem von Freiheit und Determination löst Schopenhauer
nicht.
Mit seiner Mitleidsethik entwickelt Schopenhauer eine praktische Ethik, in
deren Mittelpunkt die Handlung steht. Dem anderen Wesen ist unmittelbar zu
helfen, ohne über die Hilfeleistung zu reflektieren, ohne sie in ein
Zweck-Mittel-Gefüge zu setzen. Ungeachtet gewisser Übereinstimmungen mit Kant
war Schopenhauer als Ethiker kein Kantianer, vor allem weil es ihm, anders als
Kant, nicht um eine Ethik des Sollens bzw. der Pflicht ging. Während Kant nach
der Form und den Bedingungen der Pflicht fragte, lehnt Schopenhauer eine Ethik
ab, die Gebote aufstellen oder begründen soll. Daß es Mitleid gibt, kann
Schopenhauer nicht rational erklären. Statt dessen begründet er das Mitleid aus
einem mystischen Akt heraus, der unerklärbar ist. Zwar kann sich jeder Mensch
einen kategorischen Imperativ aufgeben – und soll dies auch –, die unmittelbare
Hilfe hebt jede Sollensbestimmung auf. Im Akt des Mitleidens verschwindet die
Differenz zwischen Helfer und Zu-Helfenden, er ist der Akt der Identifikation
mit dem anderen. Schopenhauer bedarf keiner wissenschaftlichen Position, um das
Mitleid zu erklären, er stellt eine empirische Phänomenologie des Mitleides
seinem Denken voran. Aus der Erkenntnis heraus, daß Menschen miteinander
leiden, genügt es ihm, die empirische Tatsache metaphysisch zu verallgemeinern.
Mit seiner Erlösungslehre bezieht Schopenhauer inhaltlich Stellung zur
neuplatonischen Philosophie der Weltentsagung. Die Erlösung ist gleichzusetzen
mit der Negation des Willens einerseits und der Aufhebung des
Individuationsprinzips andererseits. Die Negation des Willens ermöglicht die
Erlösung, diese ist die Voraussetzung, daß sich der Mensch mit dem Kosmos im
ganzen identifizieren kann. An die Stelle der schuldhaft empfundenen
Individuation tritt die unmittelbare Schau der Welt als einem einheitlichen
Kompositionsschema. Der Mensch erkennt sich nicht als individuelle
Persönlichkeit, sondern als objektives, willenloses und freies Subjekt, das die
Welt als sein anderes Gegenüber betrachtet und zu diesem Ja sagt. Nur so ist
der Vorstellung zu entgehen, daß die Welt nach der Lehre des Veden „ein
bestandloser, an sich wesenloser Schein“ sei, „der optischen Illusion und dem
Träume zu vergleichen, ein Schleier, der das menschliche Bewußtsein umfängt,
ein Etwas, davon es gleich falsch und gleich wahr ist zu sagen, daß es sei, als
daß es nicht sei.“
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