Erschienen in Ausgabe: No 102 (08/2014) | Letzte Änderung: 06.08.14 |
von Axel Rösike
Ideologie / Entideologisierung
»Der Wind verstreut den Samen des Lebens über den
Planeten. Er lässt Gras und Wälder wachsen. Die ewigen Winde des Weltalls
sausen dahin. Was tragen sie? Niemand weiß es. Aber ich bin überzeugt, dass die
Natur uns geschaffen und mit Vernunft begabt hat, damit wir — wie ihre Diener,
die Winde — Leben in die unübersehbaren, unendlichen Welten des Universums
tragen. Die Vernunft des Guten muss siegen, auf der Erde und danach im ganzen
Weltall.« (1) (2)
Der vorstehende Satz beschreibt keine Ideologie. Selbst
wenn die schnelle Rezeption ebenso schnell an die Ideologie des Guten oder die
Ideologie der Vernunft denken ließe. Nun betreiben wir hier nicht das Geschäft
eines Lukács. Daher vermittelt der Satz eher etwas wie Hoffnung. Aber auch
Einsicht in Notwendigkeit. Von alleine werden sich die Dinge nicht zum Guten
wenden. Vielleicht erst in einer vom Menschen verlassenen Welt. Wenn die Natur
wieder aufatmet. Ohne schädliche und lästige Eingriffe. Doch den schädlichen
Prinzipien und ihrer Mechanismen ist entgegenzuwirken. So versteht sich die
Einlassung auf Vernunft. Und damit sind wir sowohl auf eine subjektive wie
objektive Ebene hingewiesen.
In gleicher Weise fungiert Ideologie auf subjektiver wie
objektiver Ebene. Vernunft kann nur solange ihr Widerpart bleiben, wie sie
selbst nicht vergiftet ist, sich an sich selbst hält. Und dabei nicht den
Fehler begeht, in Relativismus zu verfallen. Ideologie wird an dieser Stelle (überwiegend)
als schädliches Prinzip verstanden, zuerst in der Möglichkeitsform. Folgende
Gedanken werden zeigen, dass es kein eindeutiges Verständnis vom Wort Ideologie
gibt. Und dass dies in gewisser Weise auch nicht schlimm ist.
Auf das Denken kann man sowieso nicht verzichten. Es gibt
auch in diesem Bereich keinen gebrauchsfertigen Begriff, den wir eindeutig und
unmissverständlich anwenden können.
Ideologie
Per se ist Ideologie in einem diskursiven Feld jedoch
schlecht. Sie fordert für sich, Ausnahme von den verbindlichen Regeln zu sein.
Oder selbst die Gesamtheit oder Verbindlichkeit geltender Regeln darzustellen.
Doch Recht und Diskurs sind zweierlei: das hat seine guten Gründe. Verbindliche
Regeln können natürlich strittig sein, ebenso graduiert, different bis
differenziert. Die Hypothese Recht als Ideologie und das Geschäft einer
Diskurs-Ethik werden an dieser Stelle jedoch ebenfalls nicht betrieben. Der
Text fragt weder nach dem idealen Diskurs und seinen Bedingungen, noch geht es
um Appelle zu einem richtigen Leben und Handeln. Der Text versucht, ausgehend
von einfachen Zitaten, auf den Kern einer inzwischen obsoleten
Selbstverständlichkeit zu treffen, die wir ohne schlechtes Gewissen und ohne
viel Umstand als falsches Denken und falsches Handeln begreifen und beschreiben
können. Nämlich wenn es ideologisch (geleitet) ist oder wird. Und das hebt sich
in diesem Sinne deutlich von der Frage ab, ob etwas rechtlich (geleitet) ist
oder wird. Allerdings, und das kennen wir aus sozialer und anderer Praxis, ist
mit der Berufung auf Recht oder Gesetz nicht immer zugleich auch ihr
Tatsächliches getroffen. Aber das fördert andere Gedanken zutage, die hier
erstmal ausgespart bleiben.
»Der Begriff » Ideologie « (von franz.: Lehre von den
Ideen) ist Gegenstand kontroverser, teils unvereinbarer Interpretationen
vornehmlich in den modernen Sozialwissenschaften. Belastet ist er von Beginn an
durch eine unklare Bedeutung und zweifache Nutzung als
politisch-alltagssprachlicher Kampfbegriff und als wissenschaftlicher Analysebegriff.«
(3)
Fangen wir bei einem positiven also verbal affirmativen
Verständnis von Ideologie an. Man wird sehen, dass dieses Verständnis seine
Berechtigung daraus zieht, dass eine Ideologie gegen eine andere steht, dass
also über das Wort Ideologie eine gewisse geistige und praktische Größe
behauptet wird, wie sie sich historisch entweder erwiesen hat oder noch
erweisen soll. Im Berliner Treptower Park ist innerhalb einer Gedenkstätte
folgender Satz in Stein gehauen, also lapidar im wörtlichsten Sinne:
»Die in unserem Lande verankerte Ideologie der
Gleichberechtigung aller Rassen und Nationen, die Ideologie der
Völkerfreundschaft hat den vollen Sieg über die Hitlerfaschistische Ideologie
des bestialischen Nationalismus und Rassenhasses errungen.« (4)
Der Satz stammt aus den Tagesbefehlen von Stalin.
Seinerzeit der absolute Oberbefehlshaber der Sowjetischen Armee. Und man darf,
selbst als (absolut) kritisch eingestellter Mensch, zumindest zwei Dinge
zugestehen: Er wird gewusst haben, wovon er spricht. Und jener vermittelt eine
historische Tatsache. Dadurch wird das Wort Ideologie in diesem Zusammenhang
unstrittig. Es wirkt nicht nur als Aufschrei der Vernunft, als Hoffnung, wie
bspw. viele Werke von Kollwitz zu deuten wären. Prekär mit Ideologie ist ja ihr
Fortbestehen unabhängig konkreter Personen. Das ist wohl auch im Ursprunge des
Wortes gemeint, dass in einer Ideologie nicht nur Taten und Worte verinnerlicht
sind, sondern Ideen, ganze Komplexe und Systeme von Ideen.
»Ideologien werden zudem als unvermeidbare und ubiquitär
verbreitete direktive und ordnende Maßgaben kultureller Symbole und politischer
Begriffe dargestellt, die man kennen muss, um ihre Macht für die Bildung
kollektiver Überzeugungen zu verstehen.« (3)
Wäre dies nicht so, spräche man in Folge von Stalin nicht
von Neofaschismus bzw. Stalinismus etc, je nach dem, wie man die Betrachtung
wendet. Insofern ist der errungene Sieg ein in beiden Sinnen historischer. Er
hatte etwas gezeitigt, damit aber den Prozess einer überindividuellen Ideen-
und Gedankengemeinschaft nicht vollständig aufheben können. Das Wort historisch
meint daher auch ein (geschichtliches) Durchgangsstadium, nicht nur ein
Geschichtszeichen. Insbesondere Aufhebung ist ein kritisches (problematisches)
Vorgehen, hebt es doch Gedanken etc genau nach dorthin auf, wo die Ideologien
urtümlich vermutet werden. Nämlich in die Gefilde einer überindividuellen
Rationalität oder eben Irrationalität. Man darf dennoch anfügen: bloß keine
Angst vor Ideen haben!
»Die Entstehungsgeschichte des Begriffs reflektiert die
aus der Aufklärung hervorgegangene Idee einer neuen empirischen Wissenschaft
der Sozialtechnologie, die über das moderne Bildungssystem weitere Teile der
entstehenden politischen Öffentlichkeit erreichte. In diesem Kontext konnten
Ideensysteme bzw. Ideologien jetzt als wichtige Elemente zur Mobilisierung
zunehmend aktiver politischer Bürger dienen und den Überzeugungskern sozialer
Bewegungen bilden« (3)
Die gesamte Wissenschaft ab Stalin und in seinen
Fußstapfen irrte wohl erheblich, wenn sie den Teufel im Detail der Ideen
vermutete. Bis heute ist bspw. ein Verständnis vom deutschen Idealismus dadurch
deutlich verbogen und verbeult worden. Man wird verstehen können, dass
deutsches Gedankengut auch ohne großartige Prüfung der Einzellage und Gedanken
schnell mit dem identifiziert werden konnte, was historisch dann der
angesprochene Faschismus wurde. Und diese Engführung scheint nicht richtig.
Einen weiteren Diskurs zum Gegensatz Materialismus und Idealismus bietet dieser
Text hier kaum noch an.
Materialismus / Common Sense
Auch der Materialismus ist ideologisch geworden, in
vielfältigen Ausprägungen, sofern damit mal unschuldig noch vor der Antike
quasi begonnen wurde. Jedoch war auch der materielle Atomismus (Leukipp,
Demokrit) von Anfang an eigentlich mit ideologischen Gehalten aufgeladen. Das
Atom war in diesem Sinne eine geistige Konzeption, eine Schöpfung, eine Idee.
Selbst wenn es seine Bestätigung in der späteren Naturwissenschaft fand.
Der politische Überzeugungskern, was ja schon als Wort
ein hübsches Pendant zum Atom ist, fußt natürlich auf alle möglichen Gebilde,
seien sie gedanklich, seien sie erfahrbar oder erfahren, seien sie den Wünschen
nach Anderem, nach Besserem abgerungen. Und es gibt hier auch die Tradition als
Schmiede von Überzeugungskernen. Wie leicht scheint es doch zu sein, etwas für
richtig zu halten, weil andere und womöglich bedeutsam Nahestehende es für
richtig hielten oder dies immer noch tun. Tradierung wird über die Form der
Kommunikation immer auch ein Teil des Diskurses. Keine Aktualität hebt den
tradierenden Charakter von Inhalten einfach auf. Die gegenteilige Annahme
verklärt das Jetzt, die Spontaneität selbst zu ideologischen Größen.
»Der heutige Gebrauch des Begriffs » Ideologie « schließt
an die Überlegungen bei Marx und Engels an, die ihn auf verschiedene Weise
verwenden, dabei aber immer das Problem des Verhältnisses von Interessen und
Ideen, Basis und Überbau behandeln. … Über die noch erkennbare
subjekttheoretische Vorstellung führt die Überlegung hinaus, ob nicht die
sozialen Bedingungen selbst notwendig ideologisches Denken produzieren. …
Weitergehend bestimmt Marx den Widerspruch zwischen Produktivkräften und
Produktionsverhältnissen als Ursache der ideologischen Vorstellungen, da die »juristischen,
politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen kurz,
ideologischen Formen« das Medium sind, »worin sich die Menschen dieses Konflikt
bewußt werden und ihn ausfechten« (Zur Kritik der Politischen Ökonomie)« (3)
Wir sind in einer gewissen offenen Lage insofern ständig
von Ideologien und ideologischen Gehalten umgeben. Dazu, um es zu erkennen,
müssen wir keinen großen Exkurs zu Konsum und Werbung veranstalten. Es sind
psychologische Gedanken, die uns verraten, dass wir Dinge haben wollen, weil
wir dahinter zu vermutende Ideensysteme mit Präferenz wahrnehmen.
Und, die Frage, warum jemand bspw. ein silbernes kleines
Auto als Schlüsselanhänger hat, lässt sich nicht eindeutig beantworten, nicht
aus dieser Perspektive. Es ist nicht notwendiger Weise die Ideologie oder
Utopie einer freien Fahrt für freie Menschen auf den endlosen Highways dieser
Welt, nicht die Erinnerung an den Rausch des Immer Schneller Immer Weiter. Es
wäre also voreilig, hierbei auf die Ideologie des Blutvergießens für Erdöl zu
schließen. Vielleicht ist es nur die praktische Form plus Gewicht, die dem
Objekt einen Sinn gibt. Evtl. die Erinnerung an die Freundin, die ein
jeweiliges mich in einem ähnlichen Auto abholte, um gemeinsam die Obstgärten
hinter dem Stadtrand zu erreichen. Wollen wir da ernsthaft von einer
ideologischen Beeinflussung sprechen? Sinnvoll erreicht die Kritik am
Ideologie-Begriff auch Grenzen.
Wer erkennt bspw. schon wirklich empirisch, dass die Welt
/ Erde, auf der wir leben, eine Kugel bzw. ein unregelmäßiger Raumkörper im
Weltall ist?! Wir kommen kaum darum herum, es zu glauben. Damit machen wir eine
Konzession zum ideologischen Denken, d .h. zu einem Denk-, Ideen- und
Erklärsystem. Wir halten das dann für normal bis harmlos. Ja, nennen es common
sense.
Gerade dies ist (aber womöglich) eine Anflugstelle für
weitere Ideologien. Bauen sie doch nicht nur auf absurden Forderungen, auf
irrationalen Momenten auf, sondern schleichen sich womöglich über die Tür des
Plausiblen oder sogenannt Authentischen ein. Das klingt schon im Wort der
empirischen Wissenschaft an. Und wer würde, in Folge von Marx oder Hegel bspw.,
nicht sagen, dass Bewusstwerdung eine notwendige bis vorzügliche Angelegenheit
wäre.
Unterdrückung / Identität
Die Ideologie, die darin bestünde, auch subjektives
Bewusstsein zu unterdrücken, weil ihr die Herkunft der Einsicht über das Medium
ideologischer Formen suspekt wäre, handelte wohl im fortschreitenden
Selbstwiderspruch. Genau dieser Selbstwiderspruch wird neben anderen Fragen der
Herrschaft bzw. Macht über Menschen zum deutlichen Kennzeichen für Ideologie,
gerade in ihrem Umkippen von einer sozial beschreibenden und hinterfragenden
Funktion, hin zu ihrem Negativen. Und dieses Negative bildet der common sense
dort ab, wo das gesellschaftliche, gemeinschaftliche, soziale Element, der
eigentliche Gegenstand des common sense (sensus communis), zum Zwang wird, zur
Zwangsgemeinschaft führt.
»Doch Ideologien als Weltanschauungswissen treten mit
absoluten Wahrheitsansprüchen auf.« (3)
Das soziale Element ist insofern die soziale Form, der
Kontext, in dem wir leben. Im Negativen dann, leben müssen. Und, dass eine /
eines / einer etwas muss oder soll, weil alle anderen es auch müssen oder
sollen, das lockert in keiner Weise die Lage auf, macht die Ideologie nicht
automatisch klüger oder menschlicher oder was auch immer.
Zeichnet aber eben den Lebenszusammenhang als noch
ideologisch aus. Und auch der Wegfall des Absoluten (absolute
Wahrheitsansprüche) macht die Lage nicht durchsichtiger. Man steht einem System
oder mehreren Systemen von Wahrheitsansprüchen gegenüber. Unterschlägt man auch
die Wahrheit noch, bleiben greifbar übrig: die Ansprüche. Oder, was viel
verteufelter ist, die Identität bzw. Identitätssetzung tritt an die Stelle des
Wahrheitsanspruchs.
Hier verzweigt sich das daran anschließende Denken in
Bedürfnisse, Interessen und Behauptungen; alles als Ansprüche. Wer würde nicht
meinen, einen Anspruch im Leben zu haben, an das Leben und an sich selbst zu
stellen, stellen zu können und stellen zu dürfen. Aber man sieht schnell ein,
dass auch diese Vorstellungen, kommen sie doch aus der Mitte der
Persönlichkeit, aus einem sozusagen ehrlichen Wollen, gewissen anderen
Konstanten bzw. ideologischen Mustern (man habe Verständnis für das unpräzise
Wort) verpflichtet, abgerungen oder entlehnt sind. Oder sein können. Auch
dieses Können als Möglichkeitsform dreht sich problematisch um die Identität.
Wenn sich allein schon aus der Identität Forderungen
ableiten lassen, handelt es sich fast notgedrungen um Ideologie. Die Konsequenz
dieser Einsicht ist im derzeitigen Diskurs noch längst nicht verbindlich
begriffen worden. Und das kann man so allgemein formulieren, da es in diversen
Beispielfeldern zum Zuge käme.
Forderungen können auch Forderungen sein, die man an
diese Identität heranträgt. Es wird schnell bewusst, dass Identität eine
ideologische Verengung der komplexen Erscheinung bedeuten kann. Etwa wenn ein
Mensch auf seinen sozialen Status verengt wird. Und die Liste der Beispiele
nähme kein Ende. Das Klassenbewusstsein von Unten war ein Versuch, diese
ideologische Komponente des politischen Lebens umzukehren. Sozusagen ein
Nachteil in einen Vorteil zu verkehren. Dabei gelang bis heute nur in seltenen
Fällen (auf das Gesamte der Gesellschaft bezogen gedacht) der letztendliche
Aufbruch der ideologischen Gehäuse. Selbst die diversen Systeme des Sozialismus
waren nie über eine Fixierung des Individuums anhand ideologischer Werte
hinweggekommen.
Selbstbestimmung / Vernunft
Doch, wer nur von Ideologien spricht oder ausgeht,
verkennt die Realität der Ideologen und Ideologinnen. Denn, dass sich eine
Ideologie, ganz gleich welcher Natur und Ausrichtung, völlig alleine
reproduziert, ist vermutlich der gleißende Irrtum von Denkern und Denkerinnen,
die eine Welt freier Akteure und Akteurinnen als Gegebenheit annehmen. Die
Freiheit macht nicht notwendig frei.
Selbstbestimmung und alles, was damit verbunden (zu
denken) sein kann, ist per se ein klassisches Beispiel dafür. Und dies
unterschlagen derzeitige Theorien zur Selbstbestimmung teilweise fundamental
und radikal. Dagegen hilft nur ebenso radikales Denken, etwa in Gestalt
radikaler Philosophie. Oder eine fundamentale Darlegung einer wahren Basis des
Zusammenlebens, oder eben der Rekurs zum Fundament einer derzeitigen
Lebensweise, wie es sich in den Grundrechten, den Menschenrechten manifestiert
hat. Instrumentalisierung des Unrechts bleibt hingegen dem Unrecht
verschwistert.
»Weil die bürgerliche Klasse ihre objektiv bereits
überfällig gewordene Herrschaft erhalten will, muß sie, wie Marx erklärt, ihre
partikularen Interessen als allgemeingültig ausgeben und kann deshalb nicht zur
wahren Erkenntnis über sich selbst, wie sie sich in Phil, Recht, Politik u a
äußert, gelangen; eine solche würde die Interessenbedingtheit des eigenen
Denkens enthüllen und den eigenen Machtanspruch relativieren. Ihre
Denkerzeugnisse sind deshalb Ideologie.« (5)
Die Anwendung des Allgemeinen auf das Besondere dürfte
allerdings nicht die einzige Funktion von Ideologie sein. Das Wort der
Notwendigkeit eilt hier dem sozialen Halt unsinnig entgegen. Sicherlich ist aus
dieser Perspektive Wahrheit ein Problembegriff. Allerdings löst der Verzicht
auf Wahrheit das Problem in keiner Weise auf, macht nur die ideologische
Grundvoraussetzung des Lebens und Denkens wesentlich uneinsichtiger. Womit wir
wieder bei der einfachen Verschleierung von Tatsachen stünden. Ohne Wahrheit,
ohne Wahrheitsbegriff legen wir also ein taugliches Werkzeug aus der Hand. Ohne
dafür ein besseres oder anderes zu erhalten. Das ist eher närrisch. Und
Wahrheit ist keine statische oder statistische Meßgröße – nur zur Erinnerung.
»Aufgabe einer Ideologiekritik als Teil einer
Erkenntnistheorie wäre es, die Abhängigkeit philosophischen Denkens von
geschichtlich-gesellschaftlichen Gegebenheiten und seine mögliche Funktion als
Rechtfertigung des nur faktisch Gegebenen zu untersuchen und so gerade die
kritische Funktion der Philosophie gegenüber einer sich als vollendet (gerecht,
frei) ausgebenden gesellschaftlichen Wirklichkeit abzusichern.« (5)
Am einfachsten wäre natürlich, wir ersetzen das Müssen
und Sollen durch ein Wollen. Und, wenn man all das Schönrednerische von
Vernunft abzieht: auch dies kann vernünftig sein. Das wird das Problem der
Vernunft bis zur Jetztzeit bleiben: (8) Dass das Individuum der Freiheit
zuliebe auf Freiheit verzichtet. Aber zwischen dem Verzicht und dem ernötigten
Verzicht liegt vielleicht mehr als eine Welt, mehr als Lichtjahre von Gedanken,
mehr als eine verdammte soziale Kluft oder was auch immer. Dazwischen liegt die
gesamte Frage nach der Willensfreiheit.
Darf man von Willensfreiheit ausgehen?
Und nur die Antwort auf diese Frage, die jeder für sich
selbst zu erbringen hat, kann entscheidend etwas über Fortbestehen und
Wirksamkeit bzw. Wirkungslosigkeit von Ideologien beitragen. Und wird ganz
unterschiedliche Intelligenzen zutage fördern. Die Angst vor Intelligenz =
Ideologie wird aber immer problematischer zur Rechtfertigung schon bestehender
Ideologien benutzt. Man muß es nicht Angst nennen. Von Vorbehalt bis Aversion
ist alles möglich. Auch ist das Insistieren innerhalb marxistischer oder
materialistischer Denkformen auf das Zustreben oder Zufallen der leibhaften
Intelligenz (Intelligenzija) in das Lager der sogenannten Ausbeuter mehr als banal
/ prekär bzw. weniger als das, und verkennt die eigentliche selbstbildende
Mission einer zur Befreiung = Selbstbefreiung berufenen Gruppe von Menschen. In
diesem Zusammenhang ist das Festhalten an sozialer Identität mehr als
hinderlich, will heißen: ideologisch.
Dazu ist die Möglichkeit zu Diskurs, Kritik und Dialog
schon viel zu weit verbreitet, als dass man eine Rückkehr in die nicht
sozialisierten Tage anstreben könnte. Es mag Lebensbereiche geben, die nicht
durch Massierung der Menschen ausgezeichnet sind, aber Kommunikation ist keine
technische Stellgröße, die wir unbeschadet und unmerklich wieder unter den
Tisch fallen lassen oder zurückdrehen (lassen) können.
Kommunikativität und Sozialität werden auszeichnende
Merkmale einer gemeinsamen Lebensform sein können, die wir der Einfachheit
zuliebe gerne immer noch insgesamt Staat nennen könnten, oder auch ganz anders,
je nach Kontext, etwa auch Diskurs-Gemeinschaft, die im Weiteren keine
ideologischen Definitionen mehr nötig hat. (7) Weder zur Selbstbestimmung, noch
zur Fremdbestimmung. Damit entfielen die wesentlichen Kategorien der Freund-
und Fremdgruppe im soziologischen Sinne folgerichtig.
Alles andere ist mehr oder weniger private Angelegenheit,
und hat in der Gesellschaftstheorie wenig bis gar nichts verloren. Oder wir
gehen weiterhin von einer gewissen Übermacht gewisser Freundes- oder
Feindesgruppen aus. Aber ist dies zweckmäßig? Dann wäre die Form der Ideologie
evtl. nur an den Rändern weicher formuliert. Sozusagen vermenschlicht,
scheinbar domestiziert.
Dass Freundschaft ein ideologischer Begriff ist, wollen
wir sicherlich nicht wahrhaben. Doch wo Freundschaft mit sozialer Identität
korreliert, drängt sich der Verdacht auf. Und: im Übertragen privater
Kategorien auf das Gesellschaftliche kann eine mögliche Form der
Ideologisierung erkannt werden. Selbst wenn man dabei nicht auf eine böse
Absicht schließen kann.
»Daß philosophische Erkenntnis den gesellschaftlichen
Bedingungen verpflichtet ist, in denen sie vollzogen wird, ist nicht zu bestreiten;
zugleich bleibt wahr, dass diese an Normen zu messen und auf sie hin zu
verändern sind, die mit dem Faktischen noch nicht mitgegeben sind.« (5)
Heutzutage muss eine Rechtfertigung und Begründung
politischer Tatsachen vor allem auch auf kommunikativen Wegen geschehen. Darin
liegt der Einsatz einer Möglichkeit von Entideologisierung (Deideologisierung).
Alles andere wäre quasi (nur) Dekretierung. Insofern ist Kommunikation auch
eine praktische Intelligenz. Und wer sie unterbindet, machte sich (mit gewisser
Wahrscheinlichkeit) schuldig am Abbau von Ideologie. Der Mensch ist keine
Ideologie. Der gute Humanismus wusste dies, der schlechte hatte es genau
verkehrt. (6)
Und es soll kein böser Einfall an dieser Stelle sein,
dass von Humanismus die Rede ist. Trägt sich doch in dieser Konzeption, in
dieser Begrifflichkeit von Anfang an ein Streit der Ideologie aus: der Mensch
als Ideom, als Idee, als Idol. Der zerschnittene Mensch trägt heute viel zur
Ideologie, zur Ideologisierung bei, sei es als Chauvinismus, sei es als
Feminismus, in so vielen ihrer Spielarten. Das betrifft Fragen der Herstellung
von Identität.
2014 © R A im Juni in Berlin.
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(1) Kosmonaut Jurij Glaskow
(2) Ernst R. Sandvoss, Space Philosophy, S.204
(3) De Gruyter / Handbuch der Politischen Philosophie und
Sozialphilosophie
(4) live dokumentiert.
(5) Brugger / Herder, Philosophisches Wörterbuch
(6) das setzte sich in die Anthropologie fort.
(7) oder man bliebe bei der Kritik der Politischen
Ökonomie stehen. Was vielleicht noch nicht bzw. nicht mehr der weite Horizont
wäre, den man sich (zumindest analytisch) erhoffen wollte. Wie wäre es mit
Arkadischen Gefühlen oder einem Philosophieren sprich Denken / Reden / Hören /
Handeln unter freiem Himmel?! Außerhalb dem historischen Kabuff.
(8) Adorno, Probleme der Moralphilosophie, u. a. 12.
Vorlesung. Das Motiv ist jedoch wie ein Roter Faden.
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