Erschienen in Ausgabe: No 102 (08/2014) | Letzte Änderung: 06.08.14 |
von Hans Gärtner
Kann
es sein, dass 15 Jahre einen Dirigenten total verändern? 1999 leitete, damals
eine Offenbarung für das Alte Musik-abstinente München, Barock-Ass Ivor Bolton
im Prinzregententheater die das Genre Musiktheater 1609 begründende Oper,
Claudio Monteverdis „L`Orfeo“, in einer noch sehr der Tristesse dieses Werks
verpflichteten Interpretation Achim Freyers. Derselbe Ort, dasselbe Werk 2014,
als 2. Premiere der diesjährigen Opernfestspiele: ganz anderes Flair, ganz
andere Sichtweise auf das Geschehen, folglich auch ein ganz anderer „Ton“, der
aus dem Graben kommt. Beschwingt klingt der alte Renaissance-Komponist hier und
jetzt, draufgängerisch, etwas schroff oft, packend. In gewohnter Stringenz
allerdings.
Im
ersten der fünf stark gekürzten Akte – die Aufführung dauert nicht einmal zwei Stunden
– dominieren Hippie-Jux, Flower-Power-Naivität und Trash. Die juvenile,
spritzige Singakademie Zürich durfte sich hip herausputzen, kam in sommerlichem
35 Grad Celsius-Look zu einer zwanglosen Gartenparty im Irgendwo, wo Margeriten
vor grau dräuendem Background aus dem Boden sprießen und im Todesfall die Blütenblätter
verlieren, in einem ausgemergelten, jenseits jeder TÜV-Test-Erlaubnis auf die
Bühne wackelnden VW-Bus an. Unter dem lustigen Völkchen der ältliche Hochzeiter
Orfeo und seine süße Braut Euridice, ganz in Weiß. Das bombige, popig begossene
Glück währt nur kurz, die Hochzeiterin tötet ein Schlangenbiss, der Bräutigam
versinkt in Schmerz und Trauer.
Dass
es möglich ist, die Verstorbene den Fängen Plutones zu entreißen, verdankt das
Publikum dem Umstand, dass es sich um eine Barockoper handelt. Diese bedient
sich frei eines Stoffes der griechischen Mythologie. Man darf sich an herzergreifenden
Klage-Kantilenen aus der Goldbariton-Kehle des grandios emotionalen Christian Gerhaher
weiden, ihn in einem Anflug einer nicht wenig komisch wirkenden Popsänger-Nummer
erleben, die Lyra streichelnd, die er dem Hochzeitsgeschenk-Karton entnahm
(Bühne: Patrick Bannwart, Kostüme: Falko Herold). Dass der etwas schwerfällige,
pyknische statt athletische, bemüht gelenkige, egomanische Künstler Orfeo sich
am Ende – unvorsichtiger- und verbotenerweise schaute er um, als er seiner
soeben Angetrauten wieder ansichtig wurde – die Pulsadern aufschneidet, um sich
lieber gleich mit Euridice in die vorher gut umgegrabene Erde zu legen, geht in
David Böschs ansonsten sehr ideenreichen, keineswegs gewollt modernen, durchaus
sympathischen, gegen Ende hin sich ziehenden Regie, jedenfalls für die weiter
hinten Sitzenden, unter.
Diese
Premiere war vor allem ein Fest der genussreichen Stimmen zur phantastisch
gespielten, choreographierten und chorisch brillant interpretierten Alten Musik
des Begründers der Oper: Anna Bonitatibus als voluminös todverkündende
Proserpina, die dem derzeit Abgründigsten aller jungen Bässe, Andrew Harris
(Plutone) geil an den Hosengürtel geht, aber auch Andrea Mastroni als magisch
zerfetzter Hades-Karrer Caronte, der sich von Orfeo im Schlaf überlisten lässt,
nicht zuletzt die gefeierte junge glutvolle Russin Anna Virovlansky als
liebreizende Euridice und Angela Brower als die ganze Geschichte einfädelnde
geflügelte, Koffer tragende Speranza/La Musica.
München
hat nun einen Monteverdi im Programm: vorzeigbar dank Böschs optimistischem
Zugriff auf einen eher faden Stoff, dank Boltons herrlich eingängigr Klangsuggestionen,
doch auch eines Titelhelden, dessen baritonal solitäre Qualitäten sich immer
mehr als geradezu unschätzbar erweisen.
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.