Erschienen in Ausgabe: No 103 (09/2014) | Letzte Änderung: 03.09.14 |
von Susanne Weiß
Der
Text veranschaulicht – auf Basis Georg Simmels Ansatzes eines sich von der
frühen Moderne bis in die Postmoderne zunehmend verselbstständigenden
Individualisierungsprozesses – die Veränderungen der sozialen Integration der
Menschen, im Kontext des großstädtischen Lebens[1].
Aufgrund welcher Veränderungen innerhalb der Prozesse der Sozialintegration und
Vergesellschaftung sind die innerhalb einer modernen Großstadt lebenden
Individuen dadurch in immer stärkerem Maße der Auflösung enger familiärer
Bindungen, Konventionen und sozialer Institutionen ausgeliefert? Wie wirken
sich die Zunahme anonymer Sozialbeziehungen, fortschreitende formale
Gleichheit, ein erhöhtes Tempo des Handelns und Erlebens, eine sich gewandelte
Komplexität und Solidarität und die vielschichtigen Konsequenzen der modernen
großstädtischen Geldwirtschaft auf die Lebensführung der Individuen aus? Auf
welche Weise wirkt sich letztlich diese, stetig anonymere und unpersönlichere
Züge annehmende, Lebensweise innerhalb der Großstadt – im Kontrast zum, von
persönlichen Interaktionsbeziehungen geprägten, Kleinstadtleben – in Form von
Pathologietendenzen der Vereinsamung, Vermassung und letztlich der Verkümmerung
des Seelenlebens auf die dort lebenden Menschen aus? Und inwieweit erweist
sichSimmels bereits in der zweiten
Hälfte des 19.Jhds. skizziertes Bild eines krankhaft anmutenden
Modernisierungsprozesses gegenwärtig als überaus aktuell[2]? Es
wird konkretisiert, wie es Simmel durch seinen Ansatz des methodologischen
Interaktionismus‘ gelingt, die durch mannigfaltige Einflussgründe bedingte
Eigendynamik der großstädtischen Lebensweise offenzulegen, welche begünstigend
zu einer regelrechten ,,Seelenverkümmerung“ der Individuen beiträgt und auf
welche Art und Weise sich diese Pathologietendenzen der Vereinsamung und Vermassung
im gegenwärtigen gesellschaftlichen Kontext gestalten.
Die Veränderung der
Vergesellschaftungsformen infolge des fortschreitenden Individualisierungsprozesses
Während
sich innerhalb der frühen Moderne Marx mit dem fortschreitenden Domestizierungsprozess,
im Sinne perfekter Naturbeherrschung durch den Menschen und ein damit
verbundenen Autonomiegewinn, Weber mit dem Rationalisierungsprozess, in
Richtung einer Kosten-Nutzenmaximierung sämtlicher Lebensbereiche, und Durkheim
mit der zunehmenden Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktions- und
Wertsphären beschäftigt haben, richtet Simmel sein Augenmerk auf den voranschreitenden
Individualisierungsprozess, in welchem sich der Persönlichkeitstyp der Menschen
und die Vergesellschaftungsformen verändern (vgl. Rosa/Strecker/Kottmann. 2007:
21f.). Innerhalb des Individualisierungsprozesses der frühen Moderne verlieren bindende
Traditionen und Konventionen, die dem individuellen Handeln der Menschen
Orientierung gegeben haben, enorm an Bedeutung und werden, zusammen mit der
Macht der Religion, zunehmend brüchig. Die Menschen sind zusehends selbstverantwortlich
für die eigene Lebensplanung zuständig (vgl. Müller. 2011: 165f.). Die Menschen
stehen seit Ende des 19.Jhds., aber vor allem in der Gegenwart – in immer
stärkerem Maße vor dem Zwang, ihre Lebensgestaltung selbst in die Hand nehmen
und eigens gesteckte Ziele selbstständig in die Tat umsetzen zu müssen (vgl. Giddens.
1996: 16f.). Simmel beobachtet
,,in der modernen Gesellschaft zugleich ein Anwachsen
individueller Freiheit und Verschiedenheit durch erweiterte Handlungsspielräume
sowie eine wachsende Vergesellschaftung im Sinne einer Überwältigung der
Individuen durch die objektiven Strukturen und Gebilde der Sozialwelt“ (Rosa/Strecker/Kottmann.
2007: 90).
Simmel
beschäftigt sich mit den sich gewandelten Formen der Vergesellschaftung, welche
durch materielle und kulturelle Elemente bzw. Ideen gesteuert sind. Diese
Formen stehen miteinander in Wechselwirkung und vermögen Gesellschaft und
Individuum wechselseitig aufeinander zu beziehen und zu formen.
Simmels methodologischer Interaktionismus
Simmels
Analyse der sich gewandelten Vergesellschaftungsformen und des Prozesses sozialer
Integration, ausgehend von der frühen Moderne, setzt weder einzig an der
makrosozialen Großstruktur, noch einzig bei den handelnden Individuen, als
mikrosoziale Ebene, an (vgl. Kaesler. 2006: 128ff.). Simmel betrachtet hingegen
vielmehr die Wechselwirkungsformen, die Inter-Aktionen und die Eigendynamik des
Dazwischenliegenden, wodurch Strukturen und Menschen wechselseitig aufeinander
Bezug nehmen[3]. Mit diesem Ansatz des
methodologischen Interaktionismus‘ überwindet Simmel den strikten Dualismus
zwischen Strukturtheorien einerseits, welche von der Vorrangigkeit und Dominanz
sozialer Institutionen und Strukturen gegenüber individuellen Handlungen der
Menschen ausgehen und dem ,,methodologischen Holismus“ folgen, und Handlungstheorien
andererseits. Die Herausbildung globaler sozialer Umstände kann – Simmel
zufolge – daher weder alleine aus den Gesellschaftsstrukturen, noch alleinig aus
den Handlungen der Individuen heraus erklärt werden. Gesellschaft stellt für
Simmel keinen Tatbestand, sondern einen Prozess zwischen Menschen dar, der nur
auf Basis der Erfüllung dreier apriorischer Grundbedingungen gelingen kann[4] (vgl.
Rosa/Strecker/Kottmann. 2007: 93).
Wandlung der Sozialintegration der Individuen
Der
soziale Entwicklungsprozess der Moderne, in Richtung einer sich gewandelten
Vergesellschaftung, resultiert nach Simmel primär aus der zentralen Tendenz einer
Veränderung sozialer Kreise bzw. sozialer Gruppen, hinsichtlich deren Größe und
Struktur. Es kommt zur Herausbildung mobiler, raum-zeitlich hoch
differenzierter Gesellschaften, die den Handlungsspielraum und den
Individualisierungsgrad für das einzelne Individuum enorm vergrößern (vgl. ebd.:
97). Im Zuge des strukturellen Differenzierungsprozesses verändert sich hinzukommend
– vor allem innerhalb des großstädtischen Lebens – auch die Art und Weise der
Vergesellschaftung und die Form der Sozialintegration. Menschen befinden sich nicht
mehr, wie noch in vormodernen traditionalen Gesellschaften, im Zentrum mehrerer
sich konzentrisch überlagerter Kreise, sondern sie sind innerhalb moderner
Gesellschaften[5] nur noch im Schnittpunkt
mehrerer, autonom voneinander existierender, sich überschneidender sozialer Kreise verortet.
Diese übernehmen fortan die Aufgabe der individuellen Identitätsdefinition und
-stiftung der Individuen[6].
Damit kommt im und durch den einzigartigen Schnittpunkt sozialer Kreise eine
Steigerung quantitativer Individualität zustande (vgl. ebd.: 98f.). Die mit dem
Anstieg quantitativer Individualität einhergehende Steigerung individueller
Handlungsfreiheit und räumlicher Mobilität konfrontiert die Menschen allerdings
mit dem Zwang, innerhalb der sich überkreuzenden sozialen Kreise bzw. sozialen
Gruppen selbstständig bestehen, sich positionieren und ihre Besonderheit unentwegt
unter Beweis stellen zu müssen.
Die spezifische Lebensweise innerhalb der modernen Großstadt gegenüber
dem dörflichen, kleinstädtischen Leben
Das
Leben innerhalb der Großstadt unterscheidet sich nach Simmel in vielerlei
Hinsicht vom kleinstädtischen Leben auf dem Lande – vor allem in den
Wechselwirkungen zwischen den Individuen. Während Simmel den Begriff der ,,Großstadt“ als Code bzw. Synonym für
die Moderne verwendet, versteht er unter der ,,Kleinstadt“ oder dem ,,Dorf“
die Verkörperung der traditionalen, vormodernen Gesellschaftsform (vgl. ebd.:
99ff. Hervorheb. S. W.). Aufgrund der höheren Interaktionsdichte innerhalb der
Großstadt sind Menschen dort in größerem Ausmaß und in ständig wechselnden
Kontexten mit der enormen Fülle und Differenziertheit von Impressionen
konfrontiert als in kleinstädtischen Lebensbereichen. Das Leben innerhalb der
Großstadt ist – laut Simmel – gekennzeichnet durch ein erhöhtes Tempo des
sozialen Handelns und Erlebens, durch eine ständige Reizüberflutung und durch Vielfältigkeiten
des wirtschaftlichen, beruflichen und gesellschaftlichen Lebens. Dies steht im
direkten Kontrast zur Kleinstadt, in der das Leben durch einen langsameren,
gleichmäßig fließenden Rhythmus bestimmt ist (vgl. Simmel. 1903: 117). Während
Angehörige traditionaler Gesellschaften eher gefühlsdominierte ,,Gemütsmenschen“
sind, sehen sich die innerhalb der Großstadt lebenden Menschen einzig durch den
eigenen Verstand in der Lage, mithilfe von Abstraktion, Distanz zur Umwelt
aufrecht zu erhalten und sich so vor Reizüberflutung oder emotionaler Überforderung
zu schützen[7]. Ferner ist die Mehrzahl
moderner Interaktionsbeziehungen innerhalb des großstädtischen Kontextes von
anonymem und formalem Charakter – im Gegensatz zur Charakteristik
kleinstädtischen Lebens, geprägt von unmittelbaren persönlichen
Kontakten (vgl. Saum-Aldehoff. 2012a: 64). Eine
in vormodernen traditionalen Gesellschaften vorherrschend homogene Gemeinschaft,
mit geringer individueller Freiheit, wird in der (modernen) Großstadt zu einer
wachsend heterogenen Gesellschaft mit großen individuellen Freiheiten. Innerhalb
der modernen Großstadt werden Menschen darüber hinaus nicht in ihrer
Vollkommenheit als Persönlichkeit wahrgenommen bzw. betrachtet, sondern als
Rollenträger. Lediglich die Einhaltung bzw. Erfüllung ihrer jeweiligen
Funktions- oder Berufsstelle ist von Bedeutung. Es kommt somit zu einer klaren
Trennung zwischen der Öffentlichkeit bzw. dem Berufsleben und dem Privatleben. Resultierend
aus dieser Anonymität und Distanzbewahrung entsteht sowohl die großstädtische
Geisteshaltung der Blasiertheit als auch die Trennung und Entfremdung der Menschen
untereinander. Es kommt darüber hinaus innerhalb der Großstadt verstärkt zu Interdependenzen,
verlängerten Abhängigkeitsketten und zu einer veränderten Solidarität[8] (vgl.
Rosa/Strecker/Kottmann. 2007: 101f.). Daraus resultierend wandelt sich die menschliche
Beziehung zur Objektwelt, sprich zu jeglichem Materiellen. Während der
Kleinstadtbewohner, aufgrund eines persönlichen Bezugs, eher qualitative Beziehungen
zu materiellen Dingen etabliert, ist die Beziehung des Großstädters zu Materiellem
eher von berechnend-quantitativem Charakter. Die Umstellung von Subsistenz- auf
Geldwirtschaft spielt, Simmels Ansicht nach, eine maßgebliche Rolle innerhalb
dieses, von der frühen Moderne ausgehenden und von Entfremdungstendenzen
gekennzeichneten, Modernisierungsprozesses.
Die Rolle städtischer Geldwirtschaft
Sämtliche
Waren werden innerhalb der Großstadt auf ihren Waren- bzw. Tauschwert reduziert
und für anonyme Kundenkreise produziert (vgl. Rosa. 2005: 256f.). Resultierend
aus dem Umstand, dass innerhalb des großstädtischen Kontextes kein bzw. kaum
noch persönlicher Bezug mehr zu Materiellem zustande kommt, besitzen Waren nur
noch einen Preis, nicht mehr jedoch einen ideellen Wert – Waren werden austauschbar
(vgl. Giddens. 1999: 268f.; vgl. Rosa. 2012: 36). Während das dörfliche Kleinstadtleben
geprägt ist von unmittelbaren persönlichen Beziehungen und sich die Interaktionspartner
meist in der Gesamtheit ihrer Persönlichkeit – und nicht nur als Rollenträger –
kennen, kommt es in der Großstadt sowohl zur einer Verlängerung der
Handlungsketten als auch zur Anonymisierung der Interaktionsbeziehungen.
Vereinsamungstendenzen innerhalb der
modernen Großstadt
Simmel
betont, in ähnlich kritischer Manier wie Marx oder Weber seiner Zeit, nicht nur
den Zugewinn quantitativer Freiheit und Individualität innerhalb des
Modernisierungsprozesses der frühen Moderne, sondern weist auch entschieden auf
den damit oftmals einhergehenden Verlust qualitativer Individualität hin. Das
erhöhte Tempo des sozialen Handelns und Erlebens, die Interaktionsdichte und die
permanente Reizüberflutung, aufgrund einströmender Eindrücke in der Großstadt,
führen zu einer massiven emotionalen Überforderung der Individuen. Dieser
vermögen sich
die
Individuen, laut Simmel, nur durch den eigenen Verstand und einer, von
Blasiertheit durchdrungenen, Geisteshaltung zu schützen (vgl. Rosa. 2005:
176f.). Dadurch, dass die Individuen in der Öffentlichkeit meist auf die
Erfüllung bzw. Einhaltung einer bestimmten Funktion oder Rolle reduziert werden
und persönliche Interaktionsbeziehungen kaum zustande kommen (können), ist das Privatleben für Großstädter der einzige
Ort, an dem sie in ihrer Vollkommenheit als Wesen wahrgenommen werden bzw. sich
darstellen können. Daraus resultierend gewinnt der private Bereich, vor allem
gegenwärtig, eine stetig wachsende Wichtigkeit im Leben der Großstädter. Innerhalb
der Großstadt lebende Menschen nehmen ferner, wie Simmel dies bereits innerhalb
der frühen Moderne konstatiert, ein gestörtes Verhältnis zur Sozial- und
Objektwelt ein. Sie begegnen ihren Mitmenschen oftmals in der Grundstimmung
einer latenten Aversion. Mit der Einstellung, möglichst distanziert auftreten
zu wollen und auch nur eigens ausgewählte persönliche Beziehungen einzugehen, laufen
Großstädter jedoch Gefahr, sich zu isolieren und zu vereinsamen[9] (vgl.
Rosa/Strecker/Kottmann. 2007: 102f.). Die Nivellierung des Besonderen und die
Gleichgültigkeit gegenüber dem Einzelnen im Bezugsrahmen des Großstädtischen
führt zu einer unfreiwilligen Freiheit. Diese äußert sich auf Seiten der
Individuen anhand des zum Ausdruck Bringens der eigenen Individualität in Form
von Extravaganz (vgl. Simmel. 1903: 125f.). Eine durch die Kreuzung und
Ausdifferenzierung sozialer Kreise sich gewandelte Sozialintegration der Menschen
und der damit verbundene Gewinn quantitativer Individualität geht – Simmel
zufolge – einher mit einem schleichenden, unaufhaltsamen Verlust qualitativer
Individualität und einer Nivellierung der Differenzen zwischen Individuen bzw.
deren Unverwechselbarkeit. Im Weiteren wird darauf eingegangen, wie dies
zwangsläufig zur ,,Tragödie der Kultur“ führt.
Die ,,Tragödie der Kultur“ als Resultat der Zunahme
quantitativer Individualität zu Lasten qualitativer Individualität
Die
sich im Zuge der fortschreitenden Wettbewerb-, Geld- und Verstandesherrschaft
vollziehende Steigerung quantitativer Individualität – in Form von stärkerer Differenzierung
der Mitgliedschaften und Zugehörigkeiten unter den Menschen – geht indessen mit
einem Verlust bzw. einer völligen Beseitigung qualitativer Individualität
einher (vgl. Rosa/Strecker/Kottmann. 2007: 103). Mit dem Verlust qualitativer
Individualität geht eine seelische Nivellierung einher, ,,d.h. das
Gleichförmigwerden der Menschen in der modernen Massenkultur“ (ebd.). Dadurch,
dass sich die innerhalb der Großstadt lebenden Menschen nur noch anhand der
Auswahl ihrer Konsumprodukte und nicht anhand des Folgens eigener individueller
Gesetzmäßigkeiten voneinander unterscheiden, unterliegen sie zwangsläufig den
Gesetzen der modernen Massenkultur (vgl. Rosa. 2005: 176f.; vgl. Nuber. 2012:
20f.). Ähnlich wie Marx, der davon ausgeht, dass sich die ,,Natur des Menschen“
und somit seine Persönlichkeit, erst durch die konstruktive Arbeit an der
äußeren Natur formt (vgl. Rosa/Strecker/Kottmann. 2007: 42f.; vgl. Weischedel.
1987: 253f.), spricht Simmel im Kontext der Großstadt, die von Entfremdung und
anonymen Interaktions- und Tauschbeziehungen geprägt ist und kaum individuelles
Formen der eigenen Persönlichkeit zulässt, von einer voranschreitenden ,,Tragödie
der Kultur“ (vgl. Simmel: 1911: 385f.; vgl. Kaesler. 2006: 334)[10]. Erst
in der aktiven Beschäftigung mit Kulturleistungen, wie der Kunst, der
Wirtschaft, der Politik oder der Bildung vermag sich die Persönlichkeit bzw. die
Seele eines Menschen herauszubilden. Idealerweise bilden sich die ,,subjektive
Kultur“ – die Bildung des eigenen Selbst – und die ,,objektivierte Kultur“ –
objektivierte Kulturleistungen – innerhalb einer wechselseitigen Bezugnahme
aus. Nach Simmel besteht die ,,Tragödie der Kultur“ innerhalb der Moderne nun darin,
dass die objektivierten Formen der Kultur haben Überhand über die subjektiven
Fähigkeiten gewinnen können. Diese Diskrepanz vergrößert und verselbstständigt
sich stetig und vollzieht sich zunehmend nach eigenen Gesetzmäßigkeiten (vgl.
Kaesler. 2006: 334). Ein Hinterlassen rein individueller Spuren innerhalb der
modernen Gesellschaft ist für die Individuen nahezu unmöglich geworden. Ergo
droht, laut Simmel, durch das fehlende Abarbeiten der eigenen Individualität an
den großen Kulturleistungen, die Gefahr eines Zerfalls der subjektiven Kultur
der Individuen und des damit einhergehenden Resultats einer fortschreitenden Seelenverkümmerung.
Daraus resultierend entzieht sich auch der objektivierten Kultur innerhalb der
Moderne die kreative Substanz, die es zur Weiterentwicklung bedürfe. Den Menschen
fehlt – vor allem gegenwärtig – die Möglichkeit der Selbstverwirklichung und
der Resonanzerfahrung, die zwar beide keine Garanten für ein gelingendes Leben
sind, jedoch eine notwendige Bedingung dafür (vgl. Rosa. 2012: 35). Simmel
kann, dadurch dass er die spezifische großstädtische Lebensweise und die sich
gewandelte Diskrepanz zwischen ,,subjektiver Kultur“ und ,,objektivierter
Kultur“ in eine sog. ,,Tragödie der Kultur“ münden sieht, als einer der ersten
Kritiker der modernen Massenkultur bezeichnet werden kann
(Rosa/Strecker/Kottmann. 2007: 106). Der Soziologe Hartmut Rosa verdeutlicht,
in Anknüpfung an Simmels kulturpessimistische Individualisierungstheorie ausgehend
von der Zeit der frühen Moderne, sehr kritisch die Brisanz gegenwärtig beschleunigten
Lebens innerhalb der modernen bzw. postmodernen Kultur.
,,Wir glauben, dass Optionssteigerung das Leben
verbessert. Von diesem Irrglauben lassen wir uns immer wieder verführen. Wir
glauben, mehr ökonomische Ressourcen, mehr technische Möglichkeiten und mehr
soziale Freiheiten würden uns ein besseres Leben bescheren. Ich will das nicht
diskreditieren, aber wir haben diese Idee verabsolutiert und damit den
instrumentellen Weltbezug in den Mittelpunkt gestellt und uns dadurch nicht nur
psychische, sondern auch große ökologische Probleme geschaffen. (…)
Beschleunigung untergräbt Resonanz. Wir entwickeln keine Beziehung mehr zu den
Räumen, in denen wiruns bewegen. (…)
Wir betrachten Dinge nur noch instrumentell. Aus Selbstschutz. (…) In der
Spätmoderne ist vor allem durch die digitale Revolution und die Revolution der
Finanzmärkte die Dynamik der Veränderung so hoch, dass es nicht mehr möglich
ist, sich eine Weltposition zu schaffen. Wir sind wie Surfer, die von Welle zu
Welle springen und keine klare Richtung mehr haben, weil wir nie wissen, welche
Welle am Ende die Beste sein wird. (…) Du musst deine Prioritäten selbst
setzen. Familie, Beruf, Religion, wie du das gewichtest, ist deine Sache. Das
war ein Fehler. Dadurch haben wir zugelassen, dass die kollektiven Strukturen,
in denen wir leben, sich so verändert haben, dass sie uns ein gelingendes Leben
fast unmöglich gemacht haben“ (Rosa. 2012: 36f.).
Kritischer
Ausblick
Die
großstädtische Lebensweise vermag, aufgrund eines Zusammenspiels genannter
Entfremdungsfaktoren in vielerlei Hinsicht, pathologisch auf das Seelenleben
der dort lebenden Menschen Einfluss zu nehmen. Simmels, bereits Ende des
19.Jhds. bzw. zu Beginn des 20.Jhds., gezeichnetes Bild einer regelrechten
Seelenverkümmerung der Großstädter hat sich bis in gegenwärtige Zeit zusehends
verselbstständigt und in der Moderne bzw. Postmoderne noch besorgniserregend
weitreichendere Ausmaße angenommen, als Simmel dies seiner Zeit hätte
vorhersehen können. Man denke nur an die gegenwärtig beschleunigte
Turbo-Gesellschaft, oder an die mittlerweile sämtliche Sphären des menschlichen
Lebens bestimmende digitale Revolution, an die globale Vernetzung – das
Internet – oder an gestiegene Leistungsanforderungen jeglicher Art. All diese
Faktoren wirken sich, vor allem innerhalb des großstädtischen Lebens, in
beträchtlichem Maße auf den Zerfall realer menschlicher Beziehungen, auf die Isolation
der Individuen und auf die Vereinsamung deren Seelenlebens aus. Menschen sehen
sich gegenwärtig – innerhalb einer von konsum-, gewinn- und
geschwindigkeitsorientiertem Turbokapitalismus‘ geprägten Gesellschaft, in
welcher omnipräsente Rastlosigkeit herrscht, autonome Spitzenleistung
abverlangt wird und Begriffe wie ,,Turbo-Abi“, ,,Turbo-Studiengänge“ oder
,,Nahrungsmittel to go“ Hochkonjunktur haben – mit Gefühlen des nicht mehr
mithalten Könnens oder der Überforderung konfrontiert (vgl. Rosa. 2013: 36ff.).
Zeitdruck, Zeitmangel und Erkrankungen des menschlichen Seelenlebens nehmen,
neben auch körperlich gehäuft auftretenden Erkrankungen, drastische und sich
weiter verstärkende Ausmaße an (vgl. Ehrenberg. 2008: 83ff.). Von Nöten wäre
daher eine Trendwende in Richtung eines entschleunigten, gleichmäßig und
harmonisch und dadurch wieder Halt gebenden Lebensstils. Adornos kritische, die
Widersprüchlichkeit moderner großstädtischer Lebensweise aufgreifende, Aussage
innerhalb seines Werkes ,,Minima Moralia“ aus dem Jahre 1951: ,,Es gibt kein
richtiges Leben im falschen“ (Adorno. 2000: 339) findet hier Zustimmung.
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http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/archiv/rasender-stillstand/-/id=660334/nid=660334/did=10177640/uqqzph/index.html, (Stand:
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SWR-2 Wissen (Beitrag vom 30.11.2012): ,,Zerrissene Existenz“http://www.swr.de/swr2/programm/sendungen/wissen/zerrissene-existenz/-/id=660374/nid=660374/did=10481652/1ldg5yj/index.html,
(Stand: 01.12.2012)
[1] Es
sei an dieser Stelle anzumerken, dass Simmel – zusammen mit Weber als einer der
Mitbegründerder Soziologie und
Begründer der ,,formalen“ Soziologie – in seinen Hauptwerken ,,Das Problem der
Soziologie“ (1894), ,,Über Sociale Differenzierung“ (1890), ,,Soziologie“
(1908), ,,Grundfragen der Soziologie“ (1917) und vor allem innerhalb des Werkes
,,Die Philosophie des Geldes“ (1900) den anhaltenden Prozess der Individualisierung
innerhalb der frühen Moderne untersucht, hinsichtlich des, von Pauperisierung
geprägten, sich veränderten zeitlichen Raum- und Arbeitsgestaltungsprozesses.
In diesem haben sich wirtschaftliche, technische und politisch-gestalterische
Spielräume rasant ausgedehnt und Individuen Entscheidungs- und Handlungsfreiheit
bzgl. der eigenen Lebensführung gewonnen. Im Gegenzug dazu sind jedoch
Gewissheiten und die Ordnung des Handelns zunehmend von Zerfall bedroht. Vgl.
Rosa/Strecker/Kottmann. 2007: 23f..
[2] An
dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass sich die Darstellungen vorliegender
Arbeit auf den von Simmel ins Visier genommenen Modernisierungsprozess der
frühen Moderne (zweite Hälfte des 19.Jhds./Anfang des 20.Jhds.) innerhalb
Deutschlands beziehen – Ländervergleiche zu sich derzeit vollziehenden
Modernisierungsprozessen innerhalb Europas oder anderen Nationen werden nicht
gezogen. Außerdem geht es weniger um den quantitativen Nachweis bzw. das
Aufzeigen sich großflächig gewandelter Lebensweisen innerhalb der Großstädte,
sondern vielmehr um die qualitative Komponente eines fortschreitenden Zerfalls
des, durch das spezifische großstädtische Leben sich vollziehenden,
Seelenlebens der Menschen – unabhängig vom quantitativen Ausmaß sich
großflächig gewandelter großstädtischer Lebensweisen im Allgemeinen.
[3] Die
von Simmel untersuchten Wechselwirkungsformen, die Inter-Aktion, das
Dazwischenliegende kann an dieser Stelle mit Durkheims Begrifflichkeit der
,,Emergenz“ verglichen werden. Dieser Ausdruck bezieht sich auf das Entstehen
neuer Strukturen oder Eigenschaften, die erst aufgrund des Zusammenwirkens der
Elemente innerhalb eines komplexen Systems zustande kommen. Die Gesellschaft –
oder im Allgemeinen Dinge bzw. Entitäten – sind laut Durkheim ,,emergente
Phänomene“, die Eigenschaften aufweisen, die den Teilen fehlen, aus denen sich
das Ganze zusammensetzt. Vgl. Rosa/Strecker/Kottmann. 2007: 71.
[4] An
dieser Stelle möchte ich Simmels drei soziale apriorische Grundbedingungen
erwähnt wissen, die – ihm zufolge – für das Zustandekommen sozialer Ordnung
notwendigerweise erfüllt sein müssen. Die erste Bedingung nennt Simmel
,,Struktur-Apriori“, was sich darauf bezieht, dass sich Menschen gegenseitig
niemals als reine Individuen ansehen, sondern stets als Vertreter bestimmter
Typen (Mann/Frau). Die zweite Bedingung nennt er ,,Individualitäts-Apriori“,
was bedeutet, dass Individuen bestimmte Rollen immer auch zusätzlich mit
individuellen persönlichen Eigenschaften bzw. Charakterzügen vereinen –
Menschen stehen somit ,,in“ der Gesellschaft und ihr doch gleichzeitig auch
,,gegenüber“. Drittens muss die Bedingung des ,,Rollen-Apriori“ erfüllt sein,
was sich darauf bezieht, dass gesellschaftliche Rollenmuster und
Beziehungsstrukturen immer schon vorab festgelegt und vorstrukturiert sind –
die Individuen füllen diese feststehenden Rollen (bspw. die Rolle des Arztes
oder des Pfarrers etc.) dann lediglich mit ihrer jeweiligen individuellen
Persönlichkeit aus. Vgl. Rosa/Strecker/Kottmann. 2007: 94f.; vgl. Kaesler.
2006: 133f.
[5] An
dieser Stelle ist hervorzuheben, dass es hier nicht von Bedeutung ist, ob es
sich bei genannten Ausführungen um die deutsche Gesellschaft oder eine beliebig
andere handelt. Vielmehr findet hier lediglich der abstrakte, strukturelle
Aspekt der veränderten Sozialintegration der Individuen innerhalb des
Großstädtischen Hervorhebung.
[6] In
traditionalen Gesellschaften beispielsweise war die Familie Mittelpunkt
konzentrisch angeordneter Kreise, in dessen Kontext ein Individuum primär
eingebettet gewesen ist. Daran anschließend und sich nach außen ausdehnend, ist
das Individuum in den Kontext des eigenen Dorfes, dann ihres Fürstentums und
innerhalb des allumfassenden konzentrischen Kreis der Christenheit eingebunden
gewesen. In modernen Gesellschaften hingegen befindet sich das Individuum im
Schnittpunkt sich überschneidender Kreise – wie der Familie, der Firma, des
Freundeskreises, des Sportvereins, der Partei, einer Kirchengemeinde oder
Ähnlichem – welche allesamt die Aufgabe der individuellen Identitätsstiftung zu
leisten haben. In der Moderne bzw. Postmoderne lebende Menschen identifizieren
sich nicht selten mit einer Reihe abstrakter universaler Gruppen gleichwertig.
So kann eine Frau die unterschiedlichen Rollen Frau, Homosexuelle,
Rockmusik-Fan, Christin, Studentin und Umweltaktivistin durchaus miteinander in
ein und derselben Person vereinen.
[7]
Simmels Charakterisierung des Gegensatzes zwischen großstädtischem und
kleinstädtischem Verhalten der Individuen weist Parallelen auf zu Webers
Konzeption der sich innerhalb der frühen Moderne vollziehenden Umstellung von
affektivem zu vorherrschend rationalem menschlichem Handeln. Vgl.
Rosa/Strecker/Kottmann. 2007: 48f; vgl. Schluchter. 1979.
[8] An
dieser Stelle sei die erneute Parallelität zu Durkheim erwähnt, der sich
ebenfalls mit der sich verändernden Solidarität beschäftigt hat – mechanische
Solidarität, auf Gleichheit beruhend, wird – laut Durkheim – innerhalb der
frühen Moderne zunehmend zu organischer Solidarität, beruhend auf einer
Zusammengehörigkeit auf Basis scheinbar unvereinbarer Eigenschaften oder
Lebenskonzeptionen. Vgl. ferner Müller. 1992: 481f.
[9]An dieser Stelle soll Alain Ehrenbergs Werk ,,Das
erschöpfte Selbst“ Erwähnung finden, da dies auf eindrucksvolle Art und Weise
verdeutlicht, wie subjektives Leid in der modernen Gesellschaft zum
hauptsächlichen Medium geworden ist. Auch wenn sich Ehrenberg primär auf
Veränderungen innerhalb der französischen und amerikanischen Gesellschaft
bezieht, können die von ihm skizzierten Entfremdungs- und Vereinsamungstendenzen
doch problemlos auch auf die gegenwärtige Situation anderer großstädtisch
geprägter Gesellschaften übertragen werden. Ebenso Ehrenbergs aktuelles Werk
,,Das Unbehagen in der Gesellschaft“ ist aus dem öffentlichen Diskurs über das
entfremdete Ich nicht mehr wegzudenken. Vgl. Necker. 2012: 82f..
[10] Ein
solcher kulturpessimistischer Fortschrittsgedanke findet sich, neben Simmel,
auch bei Spengler (1918/1922): ,,Der Untergang des Abendlandes“, bei Freyer
(1985): ,,Theorie des gegenwärtigen Zeitalters“, bei Gehlen (1957): ,,Die Seele
im technischen Zeitalter“ oder bei Arendt (1959): ,,Vita activa oder vom
tätigen Leben“ – um hier ein paar wichtige Ansätze zu nennen.
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