Erschienen in Ausgabe: No 108 (02/2015) | Letzte Änderung: 02.02.15 |
von Heike Geilen
Unsere inneren Einstellungen, diese tief im Unterbewusstsein
verwurzelten Bewertungen von Menschen, Situationen, Ideen etc., prägen unser
Denken und Fühlen. Sie dienen der schnellen Orientierung im "Chaos"
des alltäglichen Lebens und steuern das Verhalten (mehr oder weniger bewusst).
Entstanden durch Prägung und Konditionierung bastelt sich jeder seine ureigene
Welt zusammen und lebt sie auch. In kritischen Momenten, an Wegscheiden oder
Wendepunkten, setzt man sich zuweilen ganz bewusst mit ihnen auseinander. Man schaut
in sein Innerstes und sucht nach möglichen, eigenen Kraftquellen. Das können
Kindheitserinnerungen sein, Entwicklungsverläufe, aber auch individuelle Brüche.
Genau so ging es Stefan Berg, als man ihn mit der Diagnose
"Morbus Parkinson" konfrontierte. Das Wissen um diese Krankheit, die
in ihm schlummert, setzte bei ihm eben jenen zuvor beschriebenen Motor in Gang.
Dessen Ergebnis liegt nun in gedruckter Form vor. Seine Korrespondenz als
Siebzehn- bis Achtzehnjähriger mit dem damals 55-jährigen Schriftsteller Günter
de Bruyn aus den Jahren 1982 bis 1983 weist dabei für ihn eine erstaunliche Analogie
auf. "Beim Erinnern, Nachlesen und Nachfühlen wurden mir allmählich die
Parallelen bewusst: das Gefühl der Bedrohung damals und heute, die Erfahrung
von Verlust damals und heute.Die
gelegentliche Verzweiflung über die mir auferlegte Beschränkung verbindet mich
mit dieser Zeit, der Versuch der Abwehr, des Widerspruchs und Widerstands.
Gegen den Morbus DDR. (...)Aus dieser
Perspektive verschmelzen Vergangenheit und Gegenwart, verlieren die äußeren
Umstände an Bedeutung, werden zu Hüllen, die man abstreifen kann und hinter
denen ich mich selbst erkenne: Prägungen, Ängste, Hoffnungen,
Verhaltensmuster."
Abgedruckt sind neben den Briefen und Karten, die sich Berg
und de Bruyn schrieben, auch Stasiprotokolle und -berichte, die von einer
permanenten Observierung der beiden Autoren zwecks "rechtzeitigem Erkennen
und Verhindern von feindlich-negativen Aktivitäten" Zeugnis ablegen. Ein
einleitendes Vorwort von Stefan Berg und ein Nachwort von Günter de Bruyn
ergänzen diesen bemerkenswerten schmalen Band. Vor allem der Korrespondenz des
jungen Kasernierten, das Ausbreiten seiner Sorgen und Fragen vor dem Älteren, wohnt
tatsächlich so etwas wie ein Landgang inne: Ein persönliches
"Leerschreiben", das ihn nach "stürmischer See" wieder aufrichtet.
Immer wieder bittet der hochintelligente Berg Günter de Bruyn um
Nachdenkenswertes,um der kulturellen
Verarmung entgegenzuwirken und um seiner aufgezwungenen Enge und Muffigkeit
neue Inhalte und Formen zu geben. Der Schriftsteller versorgt ihn mit Kurzgeschichten
und gibt ihm väterliche Ratschläge: "Ein bisschen Sturheit möchte ich
Ihnen wünschen, seelische Hornhaut, Gleichgültigkeit - aber ich weiß nicht
recht, ob das wünschenswert ist. Denn so ein Normal-Anpasser, mit dem man
machen kann, was man will, sollen Sie ja auch nicht werden."
Entstanden ist ein beeindruckendes Zeitzeugnis über die
Grauzone mit Namen DDR im Allgemeinen und die der Bausoldaten im Besonderen: "Einen
Zivildienst - wie im Westen Deutschlands - gibt es nicht in der DDR. Wer die
Wehrpflicht von 18 Monaten verweigert, der landet im Gefängnis. Es sei denn, er
lässt sich auf einen Kompromiss ein und wird Bausoldat." Das Buch offenbart
nicht nur das schwer belastete Verhältnis der Staatspartei SED zu den Künstlern
des Landes und den Unruhefaktor, zu dem Literatur damals avancierte, sondern
auch die zunehmende Angst und Lähmung der politischen Obrigkeit gegenüber der
neuen Generation, "die angstfrei diskutiert und sich nicht länger mit
Phrasen abspeisen lassen will." Und letztendlich ist es auch ein sehr
intimer Blick in den Reifeprozess von Stefan Berg, der abschließend feststellt:
"Hätte mir vor der Armeezeit jemand gesagt, daß auch diese Zeit mir etwas
gegeben wird - ich hätte ihn doch etwas skeptisch betrachtet. Nun aber lässt
sich das doch eindeutig feststellen. (...) Ich merke: Trotz Gefangenschaft -
Entwicklung ist nicht aufhaltbar. Das Leben macht dir Spaß."
Fazit: "In der Rückschau ist diese Armeezeit wie eine
erste schwere Krankheit, und diese Briefe sind eine Medizin, nach der jeder
bedrohte Mensch dürstet - Briefe, für die das Gefühl der Dankbarkeit nicht
nachlässt." "Landgang" entpuppt sich als kleines, aber
intensives Leseerlebnis, das vor allem einen unglaublich reifen jungen Menschen
zeigt: Stefan Berg, "der den Anpassungsdruck der Schule offensichtlich
widerstanden hatte, setzte den Mitläufern und Nachbetern, die ihm überall im
Leben begegneten, sein Verlangen nach Ehrlichkeit entgegen, dass ihnen in
meinen Augen natürlich ehrte, ihn aber auch gefährdete."
So steht der Auszug aus dem Lied "Ermutigung" des
1976 aus der DDR ausgewiesenen Liedermachers Wolf Biermann zugleich für den
Inhalt des Textes, als auch für den ganz persönlichen Werdegang von Stefan Berg:
"Wir wolln es nicht verschweigen
In dieser Schweigezeit
Das Grün bricht aus den Zweigen
Wir wolln das allen zeigen
Dann wissen sie Bescheid."
Stefan Berg, Günter de Bruyn
Landgang. Ein Briefwechsel
S. Fischer Verlag (August 2014)
144 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3100001567
ISBN-13: 978-3100001566
Preis: 17,99 EUR
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