Erschienen in Ausgabe: No 105 (11/2014) | Letzte Änderung: 04.12.14 |
von Marius Mestermann
1.Einleitung: Deutsche
Abrüstungspolitik und Wehrpflicht nach 1990
2.Analyse zum Wehrdienst in Deutschland anhand von Michael Sandel
2.1.Militärdienst
in Demokratien: Beispiel einer kontemporären Gerechtigkeitsproblematik
2.1.1.Michael
Sandel und seine Relevanz in Debatten über Gerechtigkeit
2.1.2.Der
Wehrdienst zwischen bezahlter Leistung und bürgerlicher Pflicht
2.1.3.Armeen,
Soldaten – in Zukunft überflüssig?
2.2.Militärdienst
in der Bundesrepublik Deutschland:
2.2.1.Aussetzung
der Wehrpflicht 2011
2.2.2.Neue
Anforderungen, neue Motive im Wehrdienst?
2.3.Synthese:
Sandels Konzept am Beispiel der Bundeswehr
3.Schluss: Politische Philosophie
und praktische Politik
1.Sicherheitspolitische Krisen ist man in
Deutschland dieser Tage nicht mehr wirklich gewohnt. Nach dem Ende des Kalten
Krieges vor rund 25 Jahren und der damit einhergehenden Entspannung innerhalb
Europas warfen viele Bürger und Politiker den Blick in eine offenbar friedliche
Zukunft. Diplomatie, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Abrüstung standen auf
dem Programm, Militärausgaben wurden bald schon heruntergeschraubt. Den
vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung stellte die Aussetzung der Wehrpflicht
in der Bundesrepublik 2011 dar.
Von internationalen Partnern wurde die Kostenreduktionsstrategie der
Bundesregierung(en) bzw. der Bundeswehr bisweilen kritisiert, ebenso wie die
schon seit Jahren nur zurückhaltende Beteiligung Deutschlands an Kampfeinsätzen
im Ausland.
Durch
zahlreiche Ereignisse im Frühjahr und Sommer 2014 in der Ukraine einerseits,
aber auch in Syrien und im Nordirak erlangt die Debatte nun neue Brisanz.
Verfügt die Bundeswehr überhaupt über genügend Soldaten und Ausrüstung, um in
einem Bündnisfall mit der NATO ein anderes Mitgliedsland oder gar sich selbst
verteidigen zu können? Wie weit kann und sollte man die Beteiligung bei
Auslandseinsätzen ausbauen? Diese Fragen hängen zu einem großen Teil davon ab,
welche Vorstellung von staatsbürgerlichen Tugenden in einem Land vorherrscht.[1]
Der Militärdienst hat in Deutschland natürlich eine sehr spezielle Tradition
und Vergangenheit, heute ist er stark umstritten. Dahinter verbirgt sich eine
tiefer liegende Frage, die wiederum auch eine Gerechtigkeitsproblematik in sich
trägt. Diesen Zusammenhang beschreibt Michael Sandel, Begründer der
Kommunitarismusdebatte und Professor an der Harvard University in Cambridge,
Massachusetts. Seiner Analyse zufolge zeigt das Beispiel des Wehrdienstes die
Verbindung von Märkten und Moral auf.[2]
Im Folgenden soll betrachtet werden, worin nach Sandel eine mögliche
Gerechtigkeitsproblematik der Wehrpflicht grundsätzlich besteht, und inwiefern
sie auch im Fall der deutschen Bundeswehr zu beobachten ist.
2.1.1.Zunächst
einige wichtige Hintergrundinformationen zur Person des Michael J. Sandel: Der
US-Amerikaner ist „Anne T. and Robert M. Bass Professor of Government at
Harvard University“ und unterrichtet dort seit 1980 politische Philosophie. In
den Achtziger Jahren war er maßgeblich an der Entstehung der sogenannten Kommunitarismusdebatte, die sich in
Reaktion auf die Theorie der
Gerechtigkeit (1971) von John Rawls entwickelte, beteiligt. Sandels Werk „Liberalism and the Limits of Justice“
(1982) kritisiert den Individualismus der liberalen Theorien und insbesondere
das unencumbered self [3]
von Rawls, das keine sinnvolle Grundlage für ein Konzept der Gerechtigkeit
liefere. Zu sehr seien die Menschen durch ihre sozialen Kontexte bedingt, als
dass man das rationale Individuum als Ausgangspunkt einer Gerechtigkeitstheorie
sehen könnte. Die generellen Ideale bzw. Ziele der Theorie der Gerechtigkeit lehnt er nicht ab, vielmehr versucht er
sich an einer alternativen Herleitung. Rawls reagierte ausführlich auf Sandel
und seine anderen Kritiker, von denen viele der losen Theorierichtung des
Kommunitarismus zugerechnet werden (etwa Sandels Lehrer Charles Taylor sowie
Michael Walzer). [4]
Der
Harvard-Professor Michael Sandel wird jedoch vor allem wegen einer bestimmten
Lehrveranstaltung gefeiert: Justice.
Angaben der Universität zufolge besuchten bislang über 15.000 Studenten diese
Vorlesung. Seit 2009 existiert zudem eine Internetpräsenz des Kurses mit
Videoaufnahmen und der Bestseller „Justice:
What’s the Right Thing to Do“. Sandel ist damit heute einer der
bekanntesten politischen Philosophen und wurde mehrfach für seine Lehrtätigkeit
ausgezeichnet. Dies spielt vor allem deshalb eine Rolle für die folgende
Analyse, weil er die Argumentationsstrategien aus seiner Vorlesung auch auf das
Beispiel des Wehrdienstes anwendet. Er versucht daran exemplarisch zu
verdeutlichen, in welcher Beziehung „Märkte
und Moral“[5]
stehen und inwiefern die verschiedenen Varianten der Rekrutierung als gerecht
oder ungerecht gelten können:
„Am
Anfang steht häufig eine konkrete Situation. Wie wir [...] gesehen haben, ist
eine öffentlich geführte Debatte ein guter Ausgangspunkt für moralische und
politische Überlegungen.“ [6]
Sandel
nennt sein Vorgehen „eine Reise durch die
Gefilde der Moral und der politischen Reflexion“[7].
Dementsprechend muss auch seine Argumentation verstanden werden: Statt z.B.
jedem utilitaristischen Argument seine eigenen Ansichten gegenüberzustellen,
wägt er verschiedene Thesen und Einwände ab und tastet sich über (politische)
Philosophen wie Mill, Kant und Rawls an ein Konzept der Gerechtigkeit heran.
2.1.2.
Den Militärdienst in einer
Demokratie betrachtet Sandel aus gesamtgesellschaftlicher Perspektive. Er sieht
ihn im Zwiespalt zwischen bezahlter Leistung und bürgerlicher Pflicht.
„Viele
der hitzigsten Debatten über Gerechtigkeit betreffen die Rolle der Märkte. Ist
der freie Markt fair? Gibt es bestimmte Güter, die man für Geld nicht kaufen
kann (oder nicht kaufen sollte)? Wenn ja, welche Güter sind das? Und was ist
falsch daran, sie zu kaufen und zu verkaufen?“[8] (S. 107)
Der
militärische Dienst ist hier eines der fraglichen Güter. Zur Begründung zieht
Sandel zwei verschiedene Modelle heran: Eine Armee, die sich aus Freiwilligen
zusammensetzt, und eine, die auf der Wehrpflicht basiert. Erstere ist seiner
Ansicht nach als „Freiwilligenarmee“ eher unpassend bezeichnet, da sie sich zum
Beispiel von der Freiwilligen Feuerwehr grundlegend unterscheidet. Vielmehr ist
sie eine Berufsarmee:
„‚Freiwillige’
sind die Soldaten nur in dem Sinn, in dem auch Beschäftigte in anderen Berufen
Freiwillige sind. Niemand unterliegt einer Dienstpflicht, und die Tätigkeit
wird von denen ausgeübt, die bereit sind, sie für Geld und andere Vorteile zu
erledigen.“[9]
Zu
diesen weiteren Vorteilen könnte zum Beispiel die Zusicherung medizinischer
Behandlung sein. Für die gefährliche Aufgabe, die der Militärdienst häufig
darstellt, wird also wie für jede andere „Dienstleistung“ eine Gegenleistung
erbracht – das System des Marktes scheint als Rekrutierungsinstrument
theoretisch gut zu funktionieren.
Mithilfe
eines Blicks in die amerikanische Vergangenheit liefert Sandel aber schon
ersten Anlass zum Zweifel: Während des Bürgerkriegs (1861-65) zwischen Nord-
und Südstaaten wuchsen die Truppenstärken kontinuierlich an. Die zu Beginn
zahlreichen Freiwilligenmeldungen mussten im Laufe der Zeit durch
Rekrutierungen mittels einer Wehrpflicht ergänzt werden, weil sich der Konflikt
in Dauer und Umfang steigerte.
„Eine
Wehrpflicht widersprach dem Kern der individualistischen Tradition Amerikas,
und die Union trug dieser Tradition bei der Einberufung auf überzeugende Weise
Rechnung: Jeder Einberufene, der nicht dienen wollte, konnte einen anderen
anheuern, der seinen Platz einnahm.“ [10]
Dieses
System wurde zwar der Tradition gerecht, aber war es auch selbst gerecht? Die Angeheuerten erhielten für
ihren Einsatz eine finanzielle Entschädigung und wurden unter anderem durch
Zeitungsanzeigen angeworben. Wer den Kriegsdienst also nicht auf sich nehmen
wollte konnte sich sozusagen freikaufen.
Nun
muss dieser Fall natürlich als besonderer betrachtet werden, da er sich in
einer Zeit der schwerwiegenden militärischen Konfrontation zwischen Nord- und
Südstaaten zutrug. Nichtsdestotrotz lässt sich daraus eine allgemeine
Problematik ableiten: Einen Ersatzmann zu bezahlen ist teuer, und einige Bürger
haben lieber der Einberufung zugestimmt statt sich und ihrer Familie in
horrende Unkosten zu stürzen – auch wenn sie damit ihr Leben im Krieg aufs
Spiel setzen mussten. Doch der Vorteil vieler Reichen, für die der ‚Freikauf’
ein Taschengeld darstellte, erscheint gleich auf den ersten Blick als unfair,
gar ungerecht. Sollte eine Armee, die zur Verteidigung aller Bürger berufen
wird und für diese vehement eintritt, nicht auch aus Repräsentanten aller
wirtschaftlichen und sozialen Gruppen (vorausgesetzt, diese sind im Krieg
kampffähig) bestehen?
Sandel
vergleicht diese Ungerechtigkeit dann auch mit der Rekrutierung der
Berufsarmee, die ihrerseits ja aus einem ‚freien’ Marktsystem hervorgeht. Es „[...] gilt in beiden Fällen, dass
diejenigen, die lieber nicht persönlich zu den Waffen greifen, andere anheuern,
um in unsere Kriege zu ziehen und ihr Leben zu riskieren.“[11]
Und „ist dann die Freiwilligenarmee nicht
ebenso ungerecht?“[12]
Schon sind wir bei der Teilfrage angelangt, die die vorliegende Arbeit bestimmt,
nämlich jene nach der Gerechtigkeitsproblematik der Wehrpflicht. Für Sandel ist
dieses Beispiel auch in seiner Vorlesung sehr hilfreich. Seit Jahren bringt er
damit Studenten zum Räsonieren, ob die gegenwärtige Lösung der
Militärrekrutierung in den USA denn wirklich gerecht sei (wovon die meisten
grundsätzlich auszugehen scheinen[13]).
Denn die etlichen außenpolitischen Konflikte, die die Vereinigten Staaten auch
heute noch beschäftigen, sind häufig mit Militäreinsätzen verbunden. Allein der
von Obamas Vorgänger George W. Bush proklamierte ‚War on Terror’ verursachte
schon Auslandseinsätze mit großem finanziellen Aufwand, vielen Verlusten und
mäßigem Erfolg.
Damit
der Militärdienst in einer Berufsarmee (in einer Demokratie) eine attraktive
Tätigkeit bleibt, müssen die Anreize entsprechend gestaltet werden, also etwa
die Besoldung. So verlangt es natürlich auch die Logik des Arbeitsmarktes, doch
der Beigeschmack des ‚Freikaufs’ bleibt erhalten. Eine Berufsarmee wird
schließlich aus Staatsgeldern bezahlt. Bei einer Streitmacht vom amerikanischen
Ausmaß kann dies ordentlich auf den Haushalt schlagen, wie der wachsende
Schuldenberg der letzten Jahrzehnte gezeigt hat.
Die Problematik
der Finanzierung ist darüber hinaus direkt mit der gesellschaftlichen
Repräsentation verbunden: „Only
if people are similarly situated to begin with can it be said that the choice
to serve for pay reflects people’s preferences, rather than their limited
alternatives.“[14]Wenn
sich Menschen nur für den Dienst in der ‚Freiwilligenarmee’ entscheiden, weil
sie andernfalls nicht über ein ausreichendes Einkommen verfügen, ist die
Rekrutierung mittels des Marktes wohl kaum gerecht.
Nach
Sandel kommt für Vertreter des libertarianism
eine Wehrpflicht aber nicht in Frage. Sie stelle eine Verletzung der Freiheitsrechte
der Bürger dar, weil sie einen Zwang ausübe und somit „eine Form der Sklaverei“[15]
sei.Auch aus utilitaristischer Sicht
ist die Wehrpflicht zu kritisieren: Sie schränkt die Entscheidungsfreiheit der
Bürger ein, vermindert das Glück insgesamt und richtet so gesellschaftlich mehr
Schaden an als die Berufsarmee. Generell sind Zwangsmaßnahmen von dieser Warte
aus verpönt.[16]
Sandel
bringt zwei Einwände vor: Erstens werde in einer von (wirtschaftlicher)
Ungleichheit geprägten Gesellschaft der Militärdienst zu einer Art Zwang,
gerade weil er finanziell gesehen attraktiv ist. Und zweitens könne der
Wehrdienst auch als staatsbürgerliche Tugend betrachtet werden. Demnach „ist es falsch, Soldaten zu bezahlen, damit
sie für uns in den Krieg ziehen – nicht, weil das den Armen gegenüber unfair
wäre, sondern weil es und ermöglicht, eine Bürgerpflicht zu umgehen.“ [17]
Als Alternative erwähnt Sandel ausgerechnet den deutschen Zivildienst, der im
Folgenden noch Erwähnung findet.
Der
deutsche Wirtschaftswissenschaftler Roland Kirstein betrachtet die Frage aus
ökonomischer Sicht:
„Eine
Freiwilligenarmee aus staatlichen Angestellten würde dem Charakter der
Landesverteidigung als öffentlichem Gut auch gerecht werden. Auch wenn Theodor
Heuss die Wehrpflicht als „legitimes Kind der Demokratie“ bezeichnet hat,
dürften die volkswirtschaftlichen Kosten einer Berufsarmee trotz der damit
verbundenen höheren fiskalischen Ausgaben geringer sein.“[18]
Dies
zeigt einen anderen, liberalen Blickwinkel auf den Militärdienst, bei dem die
Komponente einer gerechten Repräsentation keine Erwähnung findet. Dadurch wird
deutlich, was im Zentrum des Liberalismus steht und viele andere Einstellungen
überschattet: „Der Bürger muss sicher
davor sein können, dass staatliches Handeln ohne guten Grund bzw. ohne Aussicht
auf den gewünschten Erfolg in seine Freiheitsrechte eingreift.“[19]
2.1.3.
Doch bevor der Fokus weiter auf
die Bundesrepublik Deutschland gelegt wird, sei noch ein langfristigerer,
älterer Vorschlag erwähnt: „Stehende
Heere (miles perpetuus) sollen mit der Zeit ganz aufhören.“[20]
Er stammt von niemand geringerem als Immanuel Kant, der sich in seiner
Schrift Zum ewigen Frieden auch mit
dem Militärdienst auseinandersetzt. Zu Kants Lebzeiten war Europa noch ein
Kontinent der Kriege, und auch in den beiden folgenden Jahrhunderten wurden die
politischen Geschicke der Region durch militärische Konfrontationen bestimmt.
Doch nach den Schrecken der Weltkriege und dem Ende des Kalten Krieges
verbreitete sich die Hoffnung, man könne nun auf eine Zeit des globalen
Friedens zusteuern. Das Vertrauen in die Ideen der liberalen Demokratie und des
freien Marktes waren immens. So immens, dass es Francis Fukuyama zu seiner
berühmt-berüchtigten These vom Ende der Geschichte veranlasste:
„As mankind approaches the end of the millennium, the
twin crises of authoritarianism and socialist central planning have left only
one competitor standing in the ring as an ideology of potential universal
validity: liberal democracy, the doctrine of individual freedom and popular
sovereignty.” [21]
Während
Fukuyama mit seiner an Hegel angelehnten These offenbar Unrecht hatte, ist
Kants Traum einer Zukunft ohne Kriege in vielen Demokratien erhalten geblieben.
Bis dahin ist der Weg zwar weit, aber es gäbe eine Gerechtigkeitsproblematik
weniger.
Keine
Nation verkörperte die Rolle des liberaldemokratischen Propheten in den letzten
Jahrzehnten so vehement wie die USA. Der Export der ‚westlichen Werte’
(bisweilen unter Einsatz von militärischer Gewalt) geriet jedoch ins Stocken.
Neue Konflikte kamen auf, alte verschärften sich wieder. Die besten Beispiele
hierfür sind einerseits der ‚Islamische Staat (IS)’ in Irak und Syrien und
andererseits die Konfrontation von Russland und Ukraine, ehemals Bestandteile
der Sowjetunion.
2.2.1.Beide Fälle liefern auch in
Deutschland die Grundlage zu öffentlichen Diskussionen. Welche Rolle wird die
Bundeswehr in solchen Krisen spielen? Dass es ein wichtiges Thema ist, steht
wohl außer Frage, denn: „Der Wandel der
deutschen Außen- und Sicherheitspolitik seit 1990 zeigt sich wohl nirgends so
deutlich wie im Bereich des veränderten Aufgabenprofils und Tätigkeitsbereichs
ihrer Streitkräfte.“[22]
Nun ist es gerade einmal drei Jahre her, dass der Bundestag die Aussetzung der
Wehrpflicht beschlossen und damit das Personal der Bundeswehr deutlich
reduziert hat. Der Hauptgrund für den damaligen Verteidigungsminister Thomas de
Maizière war nach Angaben des Bundestages, dass die Wehrpflicht „sicherheitspolitisch nicht mehr zu
begründen“[23]
sei.
Dieser
Logik zufolge war aber die einzig sinnvolle Konsequenz, die Wehrpflicht nicht
abzuschaffen, sondern nur auszusetzen:
„Die
Aussetzung der Wehrpflicht ist Teil der angestrebten Streitkräftereform, mit
der die Bundeswehr von derzeit rund 255.000 Soldaten auf bis zu 185.000
verkleinert werden soll. Das Ende der Dienstpflicht gilt jedoch ausschließlich
in Friedenszeiten, im Spannungs- oder Verteidigungsfall kann sie wieder
aktiviert werden. Deshalb bleibt Artikel 12a des Grundgesetztes, nachdem jeder
männliche deutsche Staatsbürger „vom vollendeten achtzehnten Lebensjahr an zum
Dienst in den Streitkräften, im Bundesgrenzschutz oder in einem
Zivilschutzverband verpflichtet werden“ kann, unangetastet.“[24]
Entsprechend
umstritten war diese Änderung natürlich, denn einen friedfertigen Geist
verkörpert sie nur zum Teil: Sie diente vor allem einer Kürzung des Budgets. „Das Argument der Wehrgerechtigkeit wird
auch weiterhin herangezogen, wenn es gilt, das Ende der Wehrpflicht zu
rechtfertigen.“[25]
Von dieser Feststellung bis zu Michael Sandel ist es nicht mehr weit – stellen
wir die Armee aus unterschiedlichsten Bürgern zusammen, um deren Sinn für
Gemeinschaft, Demokratieund Tugend zu
stärken? Oder geht es lediglich um die notwendige Verteidigung im Ernstfall,
die auch noch möglich günstig gehalten werden soll?
In
der Bundesrepublik jedenfalls wurde eine Berufsarmee nach dem Zweiten Weltkrieg
bewusst vermieden:
„One of the ‚lessons of the past’ concerning
civil-military relations in the Federal Republic seemed to be the necessity for
general conscription as an organizational device to counteract anti-democratic
political ambitions of the officer corps of the armed forces [...] The
Bundeswehr should become a military organization with all the ideological
features of armed forces of citizen soldiers. General conscription and
conscientious objection were therefore regarded as complementary, both of them
together demonstrating the new eagerness of the Germans to comply with the
norms of Western democracy.“[26]
Die
Wehrpflicht der Bundeswehr diente also auch dazu, die Demokratie zu stärken und
das Land nah an den westlichen Werten zu halten. Während des Kalten Krieges und
den ständigen ideologischen Konflikten des Westens mit der Sowjetunion
erscheint dieser Ansatz durchaus sinnvoll. Er erinnert fast ein wenig an
Jean-Jacques Rousseau:
„In
einem wahrhaft freien Lande tun die Bürger alles mit ihren Armen und nichts mit
dem Gelde; weit entfernt, sich von ihren Pflichten freizumachen, würden sie
noch dafür bezahlen, sie persönlich zu erfüllen.“[27]
Die
staatlichen Pflichten sind dem Bürger demnach eine Ehre; sie für Geld einem
anderen zu übertragen wäre aus dieser Sicht egoistisch und verwerflich.
2.2.2.
Die Stimmungen und die
politische Situation der Bundesrepublik haben sich geändert, aber auch die
Anforderungen an eine moderne Armee sind heute höher. Schon in den frühen
Neunzigern stellte Wilfried von Bredow fest, dass Streitkräfte mittlerweile
einer anderen Ausbildung bedürfen als zuvor. Sie sollten über „highly developed technical and managerial
skills“[28]
verfügen und sich auch ansonsten klar von den ‚normalen’ Wehrdienstleistenden
abheben (etwa durch besondere mentale und körperliche Fitness).[29]
Die
Bundeswehr veröffentlichte nach der Aussetzung der Wehrpflicht ebenfalls ein
Statement, das unter anderem auf dieses Argument zurückgreift.
„Das
Aufgabenspektrum der Bundeswehr hat sich verändert, deutsche Streitkräfte
nehmen an friedensschaffenden Auslandseinsätzen teil. Weltweite Einsätze
stellen andere Anforderungen als die unmittelbare Verteidigung Deutschlands.“[30]
An
die Stelle der Wehrpflicht trat deshalb 2011 der Freiwillige Wehrdienst, der
Zivildienst wurde durch den Bundesfreiwilligendienst ersetzt. Damit
unterscheidet sich das deutsche Verfahren klar von der amerikanischen Variante,
wonach die Wehrpflicht angesichts einer tiefen individualistischen Überzeugung
abgelehnt wird. Im Idealfall stärke der Freiwillige Wehrdienst
„den
Austausch zwischen Gesellschaft und Streitkräften. Er ermöglicht jungen Männern
und Frauen, einen Dienst für die Gemeinschaft zu leisten. Leitbild ist der
Staatsbürger in Uniform. Neben Zeit- und Berufssoldaten sind Freiwillige ein
Grundpfeiler der Bundeswehr, auch längerdienender Nachwuchs wird aus ihnen
gewonnen werden.“[31]
Zudem
profitieren die Wehrdienstleistenden neben den Wehrsold von unentgeltlicher
Verpflegung, Unterkunft und medizinischer Versorgung. Der Bogen zu Sandel lässt
sich hier leicht zurückspannen: Die Attraktivität der Bundeswehr, die seit 2011
nun auch in Deutschland auf Grundlage eines Marktsystem rekrutiert, muss
gesteigert werden, um eine ausreichende Truppenstärke und –qualität
gewährleisten zu können. Die deutschen Staatsbürger bezahlen indirekt mit ihren
Steuergeldern ihre ‚neue alte’ Berufsarmee und entgehen somit dem
verpflichtenden Wehrdienst. Während die USA allerdings auch in großem Umfang
mit privaten Sicherheitsfirmen Auslandseinsätze abwickeln, hat man in
Deutschland die Hintertür für die Rückkehr der Wehrpflicht weit offen gelassen.
2.3.Laut Michael Sandel lassen derartige Entscheidungen und Debatten
Rückschlüsse darauf zu,welche Werte und
Vorstellungen von Gerechtigkeit in einer Gesellschaft vorherrschen. Am direkten
Vergleich von USA und Deutschland war der Unterschied klar zu erkennen. Die
Antwort auf die Rekrutierungsfrage ist jedoch in beiden Fällen die gleiche: Der
(auf nationaler Ebene) freie Markt regelt das. Wer sich freiwillig melden
möchte, kann das tun – wem der Militärdienst widerstrebt, ist zu nichts
gezwungen. Von einer möglichen Ungerechtigkeit wird erst einmal nicht
ausgegangen, schließlich funktioniert der freie Markt in der Regel fair und
gut. Von einer Fremdenlegion ist man dennoch weit entfernt.[32]
Wie
bereits angeführt hat die Rekrutierung nach Marktlogik jedoch auch ihre
Schwächen. Diese lassen sich speziell auf den Begriff ‚freiwillig’ und das
Argument der bürgerlichen Tugend zurückführen. Michael Sandel verwendet das
Beispiel des Militärdienstes als Auftakt für eine tieferliegende Debatte über
die Begriffe der Freiheit und des freien Willens.[33]
Eine Entscheidung muss nicht logischerweise frei sein, weil sie durch den Markt
herbeigeführt wurde – soziale und wirtschaftliche Faktoren können sie auch zum
Zwang werden lassen. Dieser erste Einwand spielt also besonders im
US-amerikanischen Kontext eine entscheidende Rolle.
Vor
dem Hintergrund der gegebenen Quellen ist für die Bundesrepublik Deutschland
viel eher der zweite Einwand von Bedeutung. Das Selbstverständnis der
Bundeswehr und der Tonfall der öffentlichen Debatten zeugen von einem
gespaltenen Verhältnis zu den Bürgerpflichten in einer Demokratie. An einem
einzigen Thema entzünden sich daher Konflikte rund um Gerechtigkeit, Freiheit
und moralische Verpflichtungen – aber auch um internationale Verträge und
Sicherheitspolitik.
3.Die politische Philosophie kann hier nur eingeschränkte Expertise
liefern. Michael Sandel schafft es, die zentralen Aspekte der Debatte
herauszuarbeiten und einander gegenüberzustellen. Wie in seiner theoretischen
Konfrontation mit John Rawls zeigt sich auch hier:
„Es
sind Fragen nach dem normativen Selbstverständnis, der Integrationskraft und
damit auch der Zukunftsfähigkeit moderner Gesellschaften. Es sind Fragen, bei
denen sich philosophischer Diskurs und öffentliche Debatte thematisch oft
überschneiden [...].“[34]
Es
sind außerdem Fragen, die über Jahrhunderte die prominentesten Philosophen
beschäftigt haben und weiter beschäftigen werden. Sandel und die anderen
Denker, die lose unter dem Begriff der Kommunitaristen zusammengefasst werden,
haben jedoch gar keine universalistische und neutrale Theorie im Sinn. Ihr
zentraler Beitrag zur Gerechtigkeitsdebatte ist eben die Relativierung der
Rawls’schen Theorie sowie der Verweis auf die Bedeutung von Werten und
gesellschaftlichen Abhängigkeiten.[35]
Sie
bringen den Leser dazu, über eigene Moralvorstellungen nachzudenken und den
Liberalismus, in seiner theoretischen wie in seiner tatsächlichen Erscheinung,
zu hinterfragen. Genau deshalb lässt sich auch im Militärdienst in Demokratien
eine Gerechtigkeitsproblematik entdecken, wo auf den ersten Blick vielleicht
nur die Unterscheidung zwischen zu vielen und zu wenigen Soldaten vorherrschte.
Auch die Diskussionen in der Bundesrepublik Deutschland lassen sich damit in
neue Kontexte einordnen. Die zukünftigen politischen Entwicklungen in Osteuropa
und im Orient bleiben indes ungewiss. Daher wird die Politik, ob
Bundesregierung oder Militärbündnisse, vor neue Herausforderungen gestellt und
müssen sich und ihre Vorgehensweise erneut hinterfragen.
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(zuletzt aufgerufen: 09.09.2014).
[1]
vgl. z.B. vom Hagen 2012
[2]
vgl. Sandel 2013:107
[3]
vgl. u.a. Sandel 1984
[4]
vgl. Schwaabe 2010:156ff.
[5]
Sandel 2013:107
[6]ebd. 33
[7]
Sandel 2013:46
[8]
ebd. 107
[9]
ebd. 112
[10]
Sandel 2013:108
[11]
ebd. 110
[12]
ebd. 111
[13]
vgl. ebd. 110
[14]
Sandel 2003:89
[15]
Sandel 2013:113
[16]
ebd. 113f.
[17]
ebd. 122
[18]
Kirstein 2009:334
[19]
ebd.
[20]
Kant 1795. AA VIII, 345
[21]
Fukuyama 1992:42
[22] Varwick 2007:246
[23]Weinlein 2011
[24] ebd.
[25] Kujat 2011:4
[26] von Bredow 1992:291
[27] Rousseau 2011:112
[28] von Bredow 1992:300
[29] vgl. z.B. Kümmel 2012
[30] Bötel 2013
[31] ebd.
[32]
vgl. Sandel 2013:125
[33]
vgl. ebd. 119
[34]
Schwaabe 2010:175
[35]
vgl. Bohmann/Rosa 2012:134
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