Erschienen in Ausgabe: No 106 (12/2014) | Letzte Änderung: 04.12.14 |
von Eckart Löhr
Denn was ist schließlich der Mensch in der Natur?
Ein Nichts vor dem Unendlichen, ein Alles vor dem
Nichts,
eine Mitte zwischen Nichts und Allem.
Unendlich weit entfernt davon, die Extreme zu
begreifen,
sind ihm das Ende der Dinge und ihr Ursprung
unüberwindlich
verborgen in einem undurchdringlichen Geheimnis;
er ist gleichermaßen unfähig, das Nichts zu fassen,
aus dem er hervorgezogen wurde,
wie das Unendliche, in das er verschlungen ist.
Was bleibt ihm also übrig,
als einen Schein von der Mitte der Dinge zu erfassen,
in einer ewigen Verzweiflung,
weder ihren Ursprung noch ihr Ende zu erkennen?
Alle Dinge sind dem Nichts entwachsen
und ragen ins Unendliche hinein.
Wer kann diesen erstaunlichen Schritten folgen?
Der Schöpfer dieser Wunder begreift sie.
Kein anderer vermag es.
(Blaise Pascal, Gedanken)
Und so haben wir denn [...] allen Grund zu behaupten,
dies Weltall sei ein beseeltes und in Wahrheit vernünftiges
Geschöpf [...]
(Platon, Timaios)
Spätestens seit 1927, dem Jahr der sogenannten
„Kopenhagener Deutung“ der Quantenmechanik, wovon gleich noch die Rede sein
wird, wissen wir oder könnten vielmehr wissen, dass unser bisheriges materialistisches
Weltbild obsolet geworden ist.
Interessanterweise ist die Radikalität der
philosophischen Implikationen dieses neuen physikalischen Weltbildes bis heute
kaum zur Kenntnis genommen worden. Noch immer zeichnen sich unsere Wissenschaften,
allen voran die Biologie und Hirnforschung, aber auch die Medizin, durch einen
geradezu naiv zu nennenden materialistischen Ansatz aus.
Gerade die Biologie wäre gut beraten ihre
reduktionistische Perspektive zu überwinden, um einen anderen Blick auf das
Lebendige zu gewinnen, das ihnen so fortwährend entgleitet. Die Hirnforschung
steht aufgrund dieses Ansatzes noch immer vor dem unlösbaren Problem das
Bewusstsein auf materielle Strukturen bzw. neurophysiologische Prozesse
zurückzuführen, aber auch die Medizin würde von einer Änderung ihrer Blickrichtung
profitieren, was Ätiologie, Diagnose und vor allem Therapie anbelangt.
Es geht hier nicht darum die positivistische Methode der sogenannten
exakten[1]
Wissenschaften in Frage zu stellen. Diese ist nach wie vor unerlässlich, um zu
gesicherten Erkenntnissen zu kommen. Was hier angemahnt werden soll, ist
lediglich das Vergehen, diese Methode zur Weltanschauung gemacht zu haben. Das
aber ist nicht nur unwissenschaftlich, sondern schlicht und ergreifend falsch
und eine unzulässige Erweiterung des positivistischen Ansatzes. Darüber hinaus
basiert dieses Vorgehen auf einem gänzlich überholten Materiebegriff, der ein
Kind des 19. Jahrhunderts ist und dessen Wurzeln bis in die vorsokratische
Philosophie hineinreichen.
Seit Leukipp und seinem Schüler Demokrit war die
vorherrschende Meinung in der Philosophie, dass die Materie aus kleinen,
unteilbaren Teilchen, den Atomen (abgeleitet vom griechischen „ἄτομος”, was übersetzt
etwa „unzerschneidbar“ bedeutet), aufgebaut
ist. Nach Demokrit gibt es nur Atome und den leeren Raum. Die Atome versteht er
als unteilbare, qualitätslose und unveränderliche Substanzen. Wenn sie sich
einander nähern, zusammentreffen und vereinigen, was nach mechanischen
Gesetzmäßigkeiten geschieht, entstehen als Ergebnis dieser Vereinigung die
verschiedenen, uns bekannten Phänomene wie Feuer oder Wasser bis hin zu den
Lebewesen. Alles aber entsteht aus diesen Atomen, denn, so Demokrit, „aus dem
Nichtseienden kann nichts entstehen.“
Das war natürlich insofern ein revolutionärer Gedanke, als
er den Widerspruch auflöste, der zwischen den beiden unvereinbaren, sich
monolithisch gegenüberstehenden naturphilosophischen Anschauungen des Heraklit
und des Parmenides bestand.
Heraklit glaubte an eine dynamische Welt der dauernden
Veränderung. Von ihm stammt der berühmte Satz, dass man nicht zweimal in
denselben Fluss steigen könne, denn allesfließe („panta rhei“) und unterliege einem stetigen Wandel.
Parmenides dagegen favorisierte eine statische Natur und
war der Meinung, dass das Seiende ungeworden, unvergänglich, unzerstörbar und
vor allem ein einheitliches, zusammenhängendes Ganzes sei. Die unveränderlichen
und unteilbaren Atome des Demokrit repräsentieren damit die statische Welt des
Parmenides, während die Veränderung, an die Heraklit glaubte, möglich wurde
durch die Verbindung dieser Atome untereinander.
Wie erstaunlich der Gedanke des Demokrit etwa 500 Jahre
vor Christus war, lässt sich vielleicht erahnen, wenn man sich einen Moment in
die geistige Situation dieser Zeit versetzt – sofern das überhaupt möglich ist.
Demokrits Zeitgenossen bewegten sich in einer mystischen, d.h. geheimnisvollen Welt
voller Götter, Halbgötter und Dämonen. Alle Naturerscheinungen wurden durch das
Wirken dieser Wesen erklärt.
Erst Demokrit und andere herausragende Denker seiner Zeit
vollzogen den gewaltigen Schritt vom Mythos zum Logos, indem sie eine Natur
zeigten, die von Gesetzen bestimmt wird und somit berechenbar ist. Erst die
Quantenmechanik sollte diese vermeintliche Berechenbarkeit der Natur in Frage
stellen und nicht zuletzt deshalb sind ihre Ergebnisse so schwer zu akzeptieren,
da sie mit dem jahrtausendealten Dogma von der Erkennbarkeit der Natur bricht.
Dieser wirkungsmächtige Gedanke des Demokrit wird zwar vorerst
durch Platons Ideenlehre und die Aristotelische Substanzmetaphysik
zurückgedrängt, bahnt sich aber – nicht zuletzt durch die Vermittlung Epikurs
und Lukrez‘ – unterschwellig seinen Weg durch die Jahrhunderte, um im französischen
Materialismus und besonders in den empirischen Wissenschaften der Neuzeit eine
fulminante Renaissance zu erleben.
So konnte auch Isaac Newton ca. 2200 Jahre später in dem „Queries“
genannten Anhang der 1704 erschienenen „Opticks“schreiben, „im Hinblick auf alle diese Tatsachen scheint es mir,
daß Gott im Angang die Materie als massive, undurchdringliche, aber bewegliche
Teilchen schuf – als am besten seinen Absichten entsprechend –, und daß diese
Urteilchen unvergleichlich härter sind als alle aus ihnen aufgebauten Körper,
so hart, daß sie niemals verschleißen oder in Stücke brechen, und daß keine
gewöhnliche Macht das teilen kann, was Gott im Anfang als eines schuf (No
ordinary Power being able to divide what God himself made One in the first
Creation).
Wie stark dieser Gedanke der atomaren Struktur von
Materie wirkt, zeigt sich noch bei dem renommierten Physiker und (aufgrund
seiner Nähe zum Nationalsozialismus) verhinderten Nobelpreisträger Pascual
Jordan, der selbst maßgeblich an der Ausarbeitung der Quantenmechanik beteiligt
war, indem er in seinem 1970 erschienenen Buch „Schöpfung und Geheimnis“
schreibt: „und dass die Materie tatsächlich aus kleinen Teilchen besteht, daran
ist nicht mehr zu rütteln.“ – Er hätte es eigentlich besser wissen können.
Der Beginn der Quantenmechanik fällt zusammen mit dem Beginn
des 20. Jahrhunderts und hat sich, so hat es der Physiker, Nobelpreisträger und
Begründer der Molekularbiologie Max Delbrück einmal beschrieben, in fünf aufeinanderfolgenden
Stufen vollzogen. Auf der ersten Stufe führte Max Planck in einem – wie er
selbst schrieb – Akt der Verzweiflung im Jahr 1900 den Begriff des
„Wirkungsquantums“ ein, der besagte, dass die in einer einzelnen Welle steckende
Energie nicht jeden beliebigen Wert annehmen kann, sondern gebündelt, das heißt
quantisiert auftritt. Ein Akt der Verzweiflung war es deshalb, da das
jahrtausendealte Dogma vom Fließen aller natürlichen Vorgänge („Natura non
facit saltus“, „die Natur macht keine Sprünge“) radikal in Frage gestellt
wurde.
Auf der zweiten Stufe konnte Albert Einstein zeigen, dass
Licht sowohl als Welle als auch als Teilchen auftreten kann. Diese masselosen,
aber energiereichen Teilchen bzw. Wellen des Lichts bezeichnete er als
Photonen. Er offenbarte somit als Erster die duale Eigenschaft des Lichts.
Auf der dritten Stufe zeigte Niels Bohr, dass das
Atommodell von Ernest Rutherford fehlerhaft sein musste. Ein geladenes Teilchen
(Elektron), das sich auf einer Bahn um ein elektrisches Feld (Atomkern) bewegt,
würde nach den Gesetzen der klassischen Physik Energie verlieren und früher
oder später in den Atomkern stürzen. Dieses Problem löste Bohr im Jahr 1913, indem
er das Plancksche Wirkungsquantum h in die Dynamik des Elektrons einführte und erklärte,
dass Elektronen in gewissen Bahnen stabil sind, aber die Fähigkeit besitzen,
von einer Bahn auf eine andere zu wechseln und dabei Energie in Form von
Quanten emittieren oder absorbieren, je nachdem ob sie von einer inneren auf
eine äußere Bahn wechseln oder umgekehrt. Dabei stimmt das von den Atomen
emittierte Licht nicht mit den Frequenzen überein, mit der die Elektronen den
Atomkern umkreisen, sondern ist abhängig vom Unterschied der Frequenzen der
jeweiligen Umlaufbahnen (Orbitale) zwischen denen das Elektron gesprungen ist.
Bohrs Atommodell, in dem sich die Elektronen um den
Atomkern bewegen wie die Planeten um die Sonne, hatte zwar einen großen
ästhetischen Reiz, da es so aussah als ob der Mikrokosmos lediglich das
verkleinerte Spiegelbild makrokosmischer Vorgänge ist, war aber wie sich
herausstellte falsch. Heute wissen wir, dass die Elektronen keine festen Bahnen
haben, auf denen sie den Atomkern umkreisen, sondern in „Wahrscheinlichkeitswolken“
um den Kern gruppiert sind.
Auf der vierten Stufe behauptete Erwin Schrödinger in
seiner Wellenmechanik von 1926 den Welle-Teilchen-Dualismus auch für das
Elektron, was im Folgenden auch experimentell bestätigt wurde. 1925 schließlich
war die „Verwirrung“ komplett, als Werner Heisenberg seine Matrizenmechanik
vorstellte, in der er zeigte, dass sich Ort und Impuls (Masse mal
Geschwindigkeit) eines Teilchens nicht gleichzeitig exakt bestimmen, sondern
nur noch in Wahrscheinlichkeiten ausdrücken lassen.
Auf der fünften Stufe schließlich mündeten alle diese
Ergebnisse in den Begriff der „Unbestimmtheitsrelation“ durch Werner Heisenberg
einerseits und andererseits in den Begriff der „Komplementarität“ durch Niels
Bohr.
1927 schließlich wurden diese unserem Alltagsverstand
zutiefst zuwiderlaufenden Ergebnisse in der bereits angesprochenen Kopenhagener
Deutung in ein kohärentes System gebracht. Danach sind sowohl Komplementarität
(Welle-Teilchen-Dualismus) als auch Unbestimmtheitsrelation (Indetermination) nicht
Fehler der Theorie, sondern fundamentale Eigenschaften der materiellen Welt.
In seinem Buch „Der Teil und das Ganze“ zitiert Werner
Heisenberg Niels Bohr mit den Worten, „es wird doch zum Beispiel immer wieder gesagt, daß die Quantentheorie
unbefriedigend sei, weil sie nur eine dualistische Beschreibung der Natur mit
den komplementären Begriffen ,Welle’ und ‚Teilchen’ gestattete. Wer die
Quantentheorie wirklich verstanden hat, würde aber gar nicht mehr auf den
Gedanken kommen, hier von einem Dualismus zu sprechen. Er wird die Theorie als
eine einheitliche Beschreibung der atomaren Phänomene empfinden, die nur dort,
wo sie zur Anwendung auf die Experimente in die natürliche Sprache übersetzt
wird, recht verschieden aussehen kann. Die Quantentheorie ist so ein
wunderbares Beispiel dafür, daß man einen Sachverhalt in völliger Klarheit
verstanden haben kann und gleichzeitig doch weiß, daß man nur in Bildern und
Gleichnissen von ihm reden kann.“ [2]
Zunächst geht es im Folgenden um
diese beiden Begriffe der Unbestimmtheitsrelation und damit verbunden um die
Kausalität bzw. Akausalität physikalischer Prozesse sowie der Komplementarität
und damit verbunden um den Einfluss des Beobachters auf das Beobachtete, da
ihre Aussagen wesentliche Bereiche der Philosophie und unserer Weltanschauung
betreffen. Betroffen ist zum einen das Problem der Freiheit bzw.
Determiniertheit des Menschen (Unbestimmtheitsrelation) und zum andern das
Leib-Seele-Problem sowie das epistemologische Problem der Existenz und
Beschaffenheit der Außenwelt (Komplementarität). Aber erst einmal zur Heisenbergschen
Unbestimmtheitsrelation.
Wie bereits angedeutet wurde, war
die Welt Demokrits und später Newtons relativ überschaubar. Wollte man wissen,
in welchem momentanen Zustand sich beispielsweise unser Sonnensystem mit seinen
acht Planeten (Pluto gehört seit 2006 nicht mehr dazu) und den dazugehörigen
Monden befindet, benötigte man lediglich einige Daten. Das waren die Massen der
Himmelskörper, die Kenntnis ihrer momentanen Orte relativ zur Sonne und ihre
augenblicklichen Geschwindigkeiten jeweils nach Richtung und Größe.
Mit Hilfe dieser wenigen Daten
ließe sich jetzt ohne Weiteres berechnen, in welchem Zustand sich das
Sonnensystem zu einem bestimmten Zeitpunkt befindet. Es wäre auch kein Problem,
die Daten weit in die Zukunft hinein zu extrapolieren. Es handelt sich also
hierbei um ein determiniertes, das heißt vorausbestimmtes und vorausbestimmbares
System.
Was uns aber an dieser Stelle
interessiert, ist weniger unser Sonnensystem als vielmehr die Möglichkeit oder
Unmöglichkeit unserer eigenen Determiniertheit als menschliche Individuen. Hat
der Mensch zumindest die Möglichkeit der Freiheit oder ist er so berechenbar
wie unser Sonnensystem und nichts anderes als ein von einem Uhrmacher geschaffenes, zwar kompliziertes,
aber doch kausal determiniertes Gebilde (Uhrwerk), das nach strengen Regeln abläuft
und keinerlei Spielräume hat?
Die Antwort von Julien-Offray de
la Mettrie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts dazu war eindeutig. In
seinem 1747 erschienen Buch „L´homme
machine“ (Der Mensch eine Maschine) fasst er den Menschen als eine rein
physiologisch zu verstehende, determinierte lebende Maschine auf und
radikalisierte damit das cartesianische Denken oder vielmehr reduzierte es auf
seinen naturalistischen Teil („res extensa“). Zu Lebzeiten verspottet, verfolgt
und ins Exil getrieben entfaltete sich seine Wirkung erst circa einhundert
Jahre später und sollte einen großen Einfluss auf Charles Darwin ausüben. Somit
zieht sich ein roter Faden des materialistischen, kausalen Denkens von Demokrit
über Newton, Descartes, Lammetrie und Darwin bis hin zur heutigen synthetischen
Theorie vom Schlage eines Richard Dawkins.
Dass durch dieses Denken die
beiden großen Fragen der Evolution, nämlich der Übergang von „toter“ zu
lebender Materie und der vielleicht noch größere Hiatus zwischen unbewussten
materiellen Strukturen und Bewusstsein nie geklärt werden wird, liegt auf der
Hand. Die Einführung des Emergenzbegriffes („Übersummativität“) verschiebt das
Problem nur, ohne es zu lösen, da er nicht erklärt, was und warum etwas
emergiert. Aber das nur am Rande und zurück zur Freiheit.
Solange man also der Meinung war, dass alles aus kleinen,
unzerstörbaren Teilchen bestand, vergleichbar etwa mit Billardkugeln, die
lediglich aufDruck und Stoß reagieren,
war es naheliegend und seinerzeit nur folgerichtig, auch den Menschen, da er
wie alles andere auch aus diesen Teilen aufgebaut ist, als eine lückenlos
determinierte Maschine aufzufassen. Erst Werner Heisenberg sollte diesem Denken
mit seiner Unbestimmtheitsrelation endgültig die Grundlage entziehen, denn im
mikrophysikalischen Bereich gelten offenbar andere Gesetze.
Heisenberg hat eindeutig gezeigt, dass sich Ort und
Impuls eines Teilchens niemals gleichzeitig mit hinreichender Genauigkeit bestimmen
lassen. Je genauer ich etwas über den Ort sage, desto ungenauer wird meine
Angabe über den Wert des Impulses und umgekehrt.
Um aber exakt bestimmen zu können, wo sich ein Teilchen,
das sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit bewegt und gerade noch an einem
bestimmten Ort war in, sagen wir, fünf Sekunden befinden wird, brauche ich
exakte Daten sowohl über den Ort als auch über die Geschwindigkeit – und genau
diese gleichzeitige Bestimmung der Daten ist nicht mehr möglich.
Eng mit der Unbestimmtheitsrelation hängt die Frage der
Kausalität physikalischer Prozesse zusammen. Noch Kant war der Meinung,
Kausalität wäre eine dem menschlichen Verstand „a priori“ das heißt vor aller Erfahrung
gegebene Kategorie. Danach sind wir gar nicht in der Lage etwas zu erkennen,
ohne dass das von uns Erkannte kausal geschlossen ist. Die Kausalität ist
demnach eine „transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis“, so
Kant.
Wir wissen heute, dass Kausalität zumindest im mikrokosmischen
Bereich nicht existiert. Da „Teilchen“ eben keine Teilchen sind, sondern
Welle/Teilchen, die sich über einen größeren Raum ausbreiten, können wir im
Augenblick des Betrachtens den Ort, an dem ein Teilchen sich manifestieren
wird, nicht im Voraus bestimmen. Das Verhalten dieses Teilchens ist also durch
und durch indeterminiert. Ebenso der radioaktive Zerfall bestimmter Elemente.
Es gibt keine Möglichkeit, im Voraus zu erkennen, zu welchem Zeitpunkt ein einzelnes Atom dieses Elementes
zerfallen wird. Wir wissen, dass es
zerfallen wird, aber wir können keine Ursache angeben, warum es zerfällt, und keinen Zeitpunkt, wann es zerfällt. Dass es trotzdem eine statistische Genauigkeit gibt (Halbwertszeit), mit der sich der
radioaktive Zerfall angeben lässt, ist ein bisher ungeklärtes Phänomen und
deutet auf eine Kraft hin, die aus der Unordnung Ordnung schafft. So konnte
Heisenberg feststellen, „dass die Quantenphysik die definitive Widerlegung des
Kausalitätsprinzips ist.“
Wenn man also davon ausgeht, dass auf mikrophysikalischer
Ebene das Kausalitätsprinzip außer Kraft gesetzt und somit das Universum und
alles in ihm Vorkommende eben nicht lückenlos determiniert ist, so kann man
daraus folgern, dass auch lebende Wesen die Möglichkeit zur Freiheit und
Spontaneität haben, und weiter noch zeigt sich, dass der Grad der Freiheit mit
steigender Komplexität des Lebendigen ansteigt. Die, besonders durch die
heutige Hirnforschung und durch das 1979 von Benjamin Libet durchgeführte
Experiment, ausgelöste Diskussion um menschliche Freiheit bzw. Unfreiheit,
könnte ein Ende nehmen, wenn die Konsequenzen der Heisenbergschen Entdeckung
endlich ernst genommen würden.[3]
Darüber hinaus bleibt es ohnehin ein Mysterium, warum es
eine gewisse Anzahl von Menschen gibt – und es sind nicht wenige – die mit
aller Macht an die eigene Unfreiheit glauben wollen. Vielleichtist es einfach nur die Angst vor der Freiheit, die wohl die Wurzel aller Angst ist.[4]
Die Unbestimmtheitsrelation macht den Menschen noch lange nicht frei, aber sie
gibt ihm die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit. Nutzen müssen wir sie
selbst.
Die zweite, wesentliche Implikation der Quantenmechanik,
ausgedrückt durch den Begriff der Komplementarität, betrifft zwei der größten
Probleme in der Geschichte der Philosophie. Zum einen das sogenannte
Leib-Seele-Problem (bzw. Geist-Hirn-Problem) und zum anderen das Problem der
Außenwelt, das spätestens mit Descartes ins Zentrum des philosophischen Fragens
gerückt ist.
Bereits Platon hatte die Welt in zwei Teile aufgespalten:
in die intelligible, das heißt nur dem Verstand zugängliche Welt der ewigen und
unzerstörbaren Ideen und in die mit den Sinnen erfassbare Welt der
veränderbaren Materie, die lediglich ein Abbild dieser Ideen darstellt. Wer in
diesem Modell die beiden modifizierten Anschauungen Heraklits und Parmenides
wiederzufinden glaubt, irrt sich nicht. Das ewige Werden Heraklits zeigt sich
in der sinnlich fassbaren Welt, während das ewige, unzerstörbare Seiende des
Parmenides sich in den Ideen manifestiert. So wie bei Demokrit war also auch
Platons Philosophie nicht zuletzt der Versuch divergierende Anschauungen zu
vereinen.
Bei René Descartes verläuft die Trennlinie zwischen
Materie und Geist sozusagen durch den Menschen hindurch. Bei ihm gibt es das
Körperliche, Ausgedehnte („res extensa“) und das Unkörperliche, Geistige („res
cogitans“). So wie Platons Welten durch einen Abgrund („chorismos“) getrennt
sind, so sind es auch die beiden Reiche des Descartes. Denn bis heute ist es
eine ungeklärte Frage, wie der Geist mit der Materie interagiert. Auf die
einzelnen Theorien zur Philosophie des Geistes (Identitätstheorie,
Epiphänomenalismus, Supervenienz, Funktionalismus, u.a.) einzugehen, würde den
Umfang dieses Essays bei Weitem sprengen, nur so viel: Solange man davon
ausgeht, dass es zwei getrennte Bereiche gibt, nämlich die Welt des Geistes und
die Welt der Materie, steht man vor unlösbaren Problemen, wie sich das Zusammenspiel
dieser beiden Qualitäten gestaltet.
Der Komplementaritätsbegriff zeigt aber eine Möglichkeit
auf, diesem Dualismus zu entkommen, indem er, auf den Menschen übertragen, das
Problem der Interaktion zwischen Materie und Geist zumindest entschärft, da es
sich eben um keine qualitativ grundsätzlich voneinander geschiedenen Qualitäten
handelt. So wie Materie gleichzeitig Welle und Teilchen und trotzdem eine Ganzheit
ist, so ist der Mensch eine psychophysische Einheit und Materie und Geist sind
nur zwei Attribute des für uns unerkennbaren Urgrunds. Alle geistigen und
körperlichen Prozesse spielen sich auf diesem Grund ab. Was wir wahrnehmen,
sind nur – um es bildlich zu formulieren – die Schaumkronen der einzelnen
Wellen im unendlichen Ozean. Der Ozean selbst entzieht sich unserer Erkenntnis,
was nicht bedeutet, dass wir nicht immer tiefer in ihn eintauchen könnten.
Wie bereits oben zitiert, hat die Quantenmechanik nicht
verstanden, der sie für dualistisch hält. Sie ist durch und durch holistisch,
das heißt ganzheitlich. Es gibt nicht entweder Teilchen oder Wellen, es gibt
nur Teilchen/Wellen, auch wenn das für unseren Verstand nicht logisch und schon
gar nicht vorstellbar ist. Wir müssen uns endgültig von der alten Vorstellung
befreien, dass Materie eine feste, sozusagen körnige Struktur hat und als eine
solche Substanz der Substanz des Geistes gegenübersteht.
Es war Ernst Bloch, der diese Anschauung einmal als „Klotzmaterialismus“
verspottet hat. Je tiefer wir in die Materie eindringen, umso mehr verliert sie
gerade diesen festen Charakter und löst sich auf in ein Geflecht von Beziehungen.
Streng genommen müsste man sagen, dass es so etwas wie
Materie überhaupt nicht gibt. Durch unsere tägliche Erfahrung im
„mesokosmischen“ (Vollmer), also im mittleren kosmischen Rahmen haben wir uns
allerdings so daran gewöhnt, mit festen materiellen Dingen umzugehen, dass es
jenseits unserer Vorstellungskraft liegt, Materie so wie wir sie wahrnehmen,
könnte nur eine menschliche Variante der Wahrnehmung von etwas sein, was uns
vielleicht für alle Zeiten unbekannt bleiben wird. Und dabei ist nicht das
Kantsche „Ding an sich“ gemeint, denn der Grund des Daseins ist mit Sicherheit
kein Ding und Kant irrt hier ohnehin gewaltig, wenn er glaubt, der Welt alle
Qualitäten absprechen zu können, um sie ins Individuum zu verlagern. Die Welt
der Erscheinungen (nicht des Scheins) ist und bleibt für den menschlichen
Verstand bodenlos. Selbst wenn es uns eines Tages möglich sein wird, noch
tiefer in die materiellen Strukturen einzudringen, werden wir den Grund doch
niemals erreichen. „Vielmehr
ist die Materie offen für die Erforschung ins Unendliche hin, nicht das
Vorhandensein eines Urstoffes. Alle Stoffe sind Erscheinungen, nicht
Grundwirklichkeiten. Das Wesen der Materie bleibt unbestimmbar.“[5]
Das Problem der Physik besteht immer noch in dem
Irrglauben, man könne ein letztes Teilchen finden. Es gibt kein letztes
Teilchen, weil es keine Teilchen gibt. Wenn der Physiker und Philosoph Carl
Friedrich von Weizsäcker schreibt, „daß die Materie, welche wir nur noch als dasjenige definieren können,
was den Gesetzen der Physik genügt, vielleicht der Geist ist, insofern er sich
der Objektivierung fügt“,[6] hat er insofern
Recht, dass er beide Qualitäten gleichsetzt, aber um wirklich zu begreifen, was
das Wesen der Materie bzw. des Geistes ist, müssten wir in der Lage sein, noch
ein paar Stufen tiefer hinabzusteigen, als wir das bisher getan haben. Noch dazu
wird es mit ein paar Stufen vielleicht nicht getan sein, denn möglicherweise
müssten wir unendlich viele Stufen tiefer gehen, bis zur Selbstauslöschung des
Seienden selbst.
Die letzte Folgerung aus den Ergebnissen der Quantenmechanik,
die eng mit dem Problem der Komplementarität verknüpft ist, ist die
Abhängigkeit des Beobachteten vom Beobachter und damit der Einzug der
Subjektivität in die geheiligten Hallen der Wissenschaft.
Bis zur Entwicklung der Quantenmechanik konnte die materielle Welt nur konstruiert
werden um den Preis, dass die Individualität, der Geist, daraus entfernt wurde.
Jetzt musste man feststellen, dass es so etwas wie objektive Tatsachen nicht
mehr gab. Gerade der Welle-Teilchen-Dualismus der Materie hat gezeigt, dass je
nach Art der Fragestellung die Natur in entsprechender Weise antwortet. Will
der Betrachter durch seine Versuchsanordnung eine Welle sehen, so stellt sich
die Materie wellenartig dar. Soll der Versuch ein Teilchen zeigen, so zeigt
sich die Materie teilchenartig. Man könnte dieses Szenario natürlich
weiterdenken und sich fragen, wie die Materie sich möglicherweise sonst noch
zeigen würde, wenn wir in der Lage wären, andere Fragen zu stellen.
Wie dem auch sei, durch das
komplementäre Verhalten von Materiezeigt
sich, dass der Betrachter durch die Art seiner Betrachtung das Geschehen auf
mikrophysikalischer Ebene beeinflusst. Man muss nicht so weit gehen, wie es
seinerzeit der irische Philosoph George Berkeley getan hat, in dem er die
Auffassung vertrat, dass Sein nichts anderes heißt, als wahrgenommen zu werden
(„esse est percipi“). Nach dieser Ansicht würde alle Materie verschwinden, wenn
niemand mehr da ist, der sie betrachtet. Niemand von uns glaubt ernsthaft, dass
das der Fall ist, übrigens auch Berkeley nicht. Wenn auch niemand mehr da
seinsollte, um die Dinge zu betrachten,
so gibt es – laut Berkeley – doch immer noch eine letzte Instanz, einen letzten
allumfassenden Beobachter: Gott. Auch wenn viele Berkeley seinerzeit für einen
Spinner hielten, so ist er doch heute näher an der Wahrheit als so manch
anderer Denker. Denn wenn ohne einen Beobachter die Materie auch nicht
verschwände, so steht doch eines mit Sicherheit fest: Mit der Materie so wie
wir sie wahrnehmen hätte das, was dann übrigbliebe, nur noch sehr wenig zu tun.
Eine der größten Merkwürdigkeiten
alldessen bleibt die Tatsache, dass diese Substanz, die wir Materie nennen und
die „vielleicht der Geist ist, insofern er sich der Objektivierung fügt“,und die sich auf mikrophysikalischer
Ebene quasi ins Nichts verflüchtigt und nur noch aus einem miteinander
verbundenen Geflecht aus Beziehungen zu bestehen scheint, unter unserem Blick
und unseren Handlungen zu der von uns wahrgenommenen „Festigkeit“ auskristallisiert,
was wir mit dem Begriff der „Dekohärenz“ bezeichnen. Es besteht also zweifellos
eine Wechselwirkung, vielleicht so etwas wie eine gegenseitige
Daseinsversicherung zwischen der Welt und uns.
Was in diesem Essay unter anderem
gezeigt werden sollte, ist, dass der Ausbau der positivistischen Methode zur
Weltanschauung jeglicher Grundlage entbehrt, da er auf einem überholten
Materiebegriff gründet. Das Modell des 19.
Jahrhunderts, das sich die Welt und auch den Menschen noch als Uhrwerk
vorstellen konnte, ist endgültig zerstört.Das heißt, wenn jemand heute noch eine dezidiert
materialistische Weltanschauung vertritt, dann muss er erst einmal darlegen,
was er noch unter Materie versteht.
Falls er die Erkenntnisse der modernen Physik akzeptiert
(wovon man bei einem Materialisten ausgehen sollte), wird er dabei in
ernsthafte Schwierigkeiten kommen. Kurz gesagt: Dem Materialisten ist die
Materie abhanden gekommen.
VonCarl Gustav Jung stammt der Satz,
dass alle Wissenschaft eine Funktion der Seele ist und alle Erkenntnis in ihr
wurzelt. „Sie ist das größte aller kosmischen Wunder und die conditio sine qua
non der Welt als Objekt. Es ist im höchsten Grade merkwürdig, daß die abendländische
Menschheit, bis auf wenige, verschwindende Ausnahmen, diese Tatsache
anscheinend so wenig würdigt. Vor lauter äußeren Erkenntnisobjekten trat das
Subjekt aller Erkenntnis zeitweise bis zur anscheinenden Nichtexistenz in den
Hintergrund.“[7]
Die wohl größte Erkenntnis der
modernen Physik ist somit die Tatsache, dass sie einsehen musste, dass das
Subjekt nicht aus dem Erkenntnisprozess herausgenommen werden kann. Wir haben
nur deshalb einen Einfluss darauf, wie sich uns die Wirklichkeit zeigt, weil
wir selbst Teil eben dieser Wirklichkeit sind. Nicht nur die Erscheinungen um
uns herum stehen in einem unentwirrbaren Geflecht von Beziehungen, sondern auch
wir selbst sind ein Teil dieses komplexen Beziehungsgeflechts. Unsere
Individualität ist somit – und das ist eine schöne Erkenntnis – unhintergehbar
geworden. Hinter dieses Wissen sollten wir nicht mehr zurückfallen.
[1] „Kant glaubte, daß es Wissenschaft nur insofern gebe, als es Mathematik
gebe. Der gleiche Irrtum findet sich bei vielen Mathematikern und Physikern,
die allein exakt zu sein glauben. Sie sind es aber nur auf ihrem Gebiete. In
den Bewegungen der Tiere, in den Empfindungen und Leidenschaften der Menschen
ist auch Exaktheit. Ein homerischer Hexameter oder eine Ode von Pindar sind
nicht weniger exakt als irgendein Kausalverhältnis oder eine mathematische
Formel. Diese rhythmische, metrische Exaktheit ist nur eine andere, höhere.
Wenn sie nicht berechenbar ist, so ist das noch kein Grund, sie für
unzuverlässiger zu halten als das Ergebnis irgendeiner Quantenmessung.“ In
Jünger, Friedrich Georg: Die Perfektion der Technik. 8. Auflage Frankfurt am
Main: Klostermann 2010. S. 62.
[2] Werner Heisenberg: Der Teil und
das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik. 4. Aufl. München: Piper 2002.
S. 246.
[3] Vgl. Jan Philipp Reemtsma: Das Scheinproblem „Willensfreiheit“. Ein Plädoyer
für das Ende einer überflüssigen Debatte. Basel: Schwabe 2008. (Wenn Reemtsmas
Argumentation auch nichts mit moderner Physik zu tun hat, so ist es dennoch ein
lesenswertes Büchlein).
[4] „Der Mensch ist dazu verurteilt
frei zu sein. Verurteilt, weil er sich nicht selbst erschaffen hat, und dennoch
frei, weil er, einmal in die Welt geworfen, für all das verantwortlich ist, was
er tut.“ In: Sartre, Jean Paul: Der Existentialismus ist ein Humanismus und
andere philosophische Essays. 4. Aufl. Hamburg: Rowohlt 2007. S. 145–192, S.
155.
[5]Karl Jaspers:
Kleine Schule des philosophischen Denkens. 10. Aufl. München: Piper 1985. S. 22.
[6]Carl Friedrich
von Weizsäcker: Die Einheit der Natur. 4. Aufl. München: Hanser 1972. S. 289.
[7]C.G. Jung: Archetyp und Unbewusstes. Olten und
Freiburg: Walter 1984. S. 16.
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.