Erschienen in Ausgabe: No 105 (11/2014) | Letzte Änderung: 04.12.14 |
von Heike Geilen
"Mein Vater lebt, ein Lebender, in mir
So lang ich atme lebt auch sein Gedächtnis."
Dies schrieb Franz Grillparzer in seinem 1848 vollendeten Märchendrama
"Libussa". Der kurze Satz könnte auch als Leitmotiv über dem schmalen
Bändchen von Botho Strauss stehen. Auch wenn die Vater-Sohn-Beziehung nicht
wirklich als liebevoll bezeichnet werden kann, sondern eher als spannungsreich
einzustufen ist, so hat der 1971 Verstorbene dennoch den selbst nicht mehr
jungen Sohn stark geprägt. "Die Strenge des Vaters, sogar einzelne seiner
Ansichten steigen wie eigner Erfahrungsbestand ins Bewusstsein. Man altert,
trotz der sozialen Bedeutungslosigkeit von Tradition, immer noch geradewegs in
das hinein, was man einst als rettungslos veraltet empfand."
Das Buch entpuppt sich als emotional-intellektuelle Hommage an seinen
verstorbenen Vater und zugleich als Rückblick auf und Erinnerung an seine
Herkunft. Hervorgerufen durch die Auflösung der Kindheitswohnung in Bad Ems,
Römerstraße 18, dritter Stock, die seine Mutter bis zum 09.04.90 bewohnte, dem
Tag an dem sein Vater 100 geworden wäre, zieht plötzlich mit spürbarer
Intensität und Emotionalität "aus jedem Winkel, jedem Gegenstand Herkunft
hervor." Die Räume atmen immer noch Warmherzigkeit, aber auch Züchtigung.
Sie waren für den jungen Botho Ausgangspunkt von frohen und düsteren Gängen.
Doch damals war er im Vorwärtsblicken unterwegs. Heute schaut er zurück und
wird sogar der Pfad für seinen Vater. "Durch mich kommt er herüber, geht
er zurück."
In seinen Erinnerungen wächst Strauss langsam in den umfassenden Sinn für
Vermissen hinein. Damals schämte er sich des "Unduldsamen, der so provozierend
anders schritt als die übrigen, lässigen Bürger. Er hatte sein ganzes Wesen
abweisend und stolz gemacht um seine Entstellung herum." Einer, der ein
schwindendes bürgerliches Habitat pflegt, streng geregelte Tagesabläufe
zelebriert, stets korrekt gekleidet, auch zu Hause am Schreibtisch. Um 1940 war
er Miteigentümer einer kleinen Fabrik in Naumburg, in der frühen DDR wurde er dann
unter Zuckerschmuggel-Verdacht verhaftet - ein Vorwand für die Enteignung.
Danach verdingt er sich mehr schlecht als recht als freiberuflicher Pharmazeut.
Botho Strauss' Blicke in seine Frühe, in sein "Einst-Weltlein"
erinnern an Schauspieler und Schauspiele, an alte Theateraufführungen und an
ehemalige Lehrer, die ihn vom "Bravo"-Leser zum
"Tristan"-Schwärmer veredelten, die noch den Hut zogen, wenn man sie
im Städtlein traf und die Mutter mit "gnädige Frau" anredeten.
Badeausflüge an die Lahn sind genauso unter seinen "Beschwörungen"
wie das Abendbrot im elterlichen Gartenhaus am Berg, das hart erkämpfte erste
"Texashemd" oder aber der liebenswürdig verschrobene Onkel, der
glaubte die mathematische Lösung der Quadratur des Kreises gefunden zu haben.
Aber er spricht auch vom Älterwerden, vom Vergehen und das man dieses nicht
einfach dem Zufall überlassen, sondern sich genauso wie beim Werden ins Zeug
legen soll.
Auf knapp 100 Seiten öffnet sich ein ganzes Depot von Sinnesreizen, das nach
und nach angelegt wurde und nun in einem beinahe eruptiven Akt der Erinnerung,
ausgelöst durch den Auszug seiner Mutter, hervorbricht. Sein Vater ist ihm
dabei seine Sphäre. "Das Gedächtnis ist eine Variable der Sehnsucht, so
dass Fernweh und Heimweh, Erwartung und Erinnerung in ein und demselben 'Enzym'
des Unerreichlichen symmetrisch angeordnet sind." Zwischen den Zeilen weht
dabei eine leichte Melancholie. "Was ist vorbei? (...) Wer schwindet mehr
- dies Bild oder der es in sich trägt?" Warum verlässt man seinen
angestammten Platz und bleibt nicht dort, wo Eltern und Großeltern gelebt
haben? Und warum kommt man wenn man schon da draußen etwas lernen will, nicht
wieder zurück?, sind Fragen die der Autor in den Raum wirft.
Fazit: "Herkunft" gestaltet sich als intellektuelles Lesevergnügen
per excellence, vor allem für den Wortliebhaber. Botho Strauss zieht aus der
Zeit eine auf den ersten Blick vielleicht blass und dünn wirkende Essenz, aber
gerade das Unscheinbare hat manchmal den größten Nährwert. Ein beinahe
eruptiver Akt der Erinnerung an die Heimat, den historischen Badeort Bad Ems
und seine Eltern und Familie. In seinem Leinen-Einband auch optisch ein Text
auf allerhöchstem Niveau: Ein gewichtiges Gedankenbuch! Eine sprachmächtige
Essenz! Ein Lesegenuss!
"Es gehört ja nicht zu solchen Bildern, die man aus dem Kino kennt, auch
nicht zu Kunstwerken, die an den Wänden hängen. Vielmehr handelt es sich um ein
Implikat, eines jener zeugenden Bilder, die Stammzellen sind eines bestimmten
Sehens, Empfindens, Begreifens. Bilder, die in unserem Leben ein eigenes
Wachstum haben, indem sie sich selber niemals ganz der Wahrnehmung
öffnen."
Botho Strauss
Herkunft
Hanser Verlag (September 2014)
96 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3446246762
ISBN-13: 978-3446246768
Preis: 14,90 EUR
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