Erschienen in Ausgabe: No 106 (12/2014) | Letzte Änderung: 05.01.15 |
Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi zählte zu den bedeutendsten libertären Reformpädagogen, die antiautoritäre Strömungen in der Erziehung wie die Summerhill-Pädagogik weltweit im 20. Jahrhundert beeinflusst haben. Für ihn existierte ein Zusammenhang zwischen Bildung, Freiheit und Erfahrung, was er als Einheit verstand. Seine Pädagogik wurde durch die Verarmung der Bauern und durch den despotischen Charakter der zaristischen Regimes geprägt. Die russisch-orthodoxe Kirche war eine weitere autoritäre Institution, deren Erziehungspraxis Tolstoi für die kinderfeindliche Erziehung verantwortlich machte.
von Michael Lausberg
Tolstoi erbte das Landgut Jasnaja Poljana im Alter von
18 Jahren. Zu dem Gut gehörten damals über 1800 Hektar Land, fünf Dörfer und
300 Leibeigene, worunter Männer im arbeitsfähigen Alter gezählt wurden. Er
wurde in Jasnaja Poljana in einem schlichten Grab beerdigt Das Gut ist heute
ein vielbesuchtes Museum, das seit 1921 existiert. Seine Hauptwerke Krieg
und Frieden und Anna Karenina, die Tolstois literarischen Weltruhm
begründeten, schrieb er auf dem Landgut.
Die politisch-soziale
Situation in Russland war durch die Entstehung eines Industrieproletariats in
den großen Städten wie Moskau oder St. Petersburg und auf dem Lande durch Armut
und ein Fortbestehen feudaler Herrschaftsverhältnisse geprägt. Es fand eine
Vielzahl von Bauernaufständen statt, die sich gegen die zaristische Repression
auflehnten. Insbesondere
für die ärmeren Schichten der russischen Bevölkerung forderte Tolstoi den
Zugang zur Bildung. Er
gründete 1849 im Alter von 21 Jahren die erste Bauernschule auf diesem Gut, die
jedoch keine zwei Jahre nach ihrer Eröffnung wieder schließen musste. Die
mangelhafte finanzielle Absicherung begleitete das Projekt Tolstois von Anfang
an. Seine Bauernschule in Jasnaja Poljana galt als Ort der selbsttätigen,
freiwilligen und alltagsorientierten Bildung.[1]
Sein widerwilliger
Eintritt in die russische Armee 1851, wo er am Kauskasus- und am Krimkrieg
teilnahm, bedeutete die Hinwendung Tolstois zu einer antimilitaristischen
Überzeugung. Es gab
freundschaftliche Kontakte und einen Briefwechsel zwischen Tolstoi und Mahatma
Ghandi und dessen Widerstandsbewegung im von Großbritannien kolonisierten und
ausgebeuteten Indien.
Gemäß der reinen christlichen Lehre wandte er sich nun gegen Krieg und
Militarismus, Feudalismus, gegen Leibeigentum sowie gegen die Kirche und ihre
Dogmen. Nach dem Kriegsdienst kehrte er auf sein Landgut zurück und gab den
Leibeigenen 1856 die Freiheit. Das war eine mutige Tat, denn die
Leibeigenschaft in Russland endete erst 1861, in Wirklichkeit erst viel später.
Tolstoi entwickelte eine Abneigung
gegenüber der rituellen Form der Religiosität wie es in der russisch-orthodoxen
Kirche damals üblich war. Seine ideologischen Überzeugungen orientierten sich
am Urchristentum, das die starren Regeln und Dogmen der russisch-orthodoxen
Kirche ablehnte. Das Urchristentum bezeichnet die Anfangsjahre des
Christentums, die vom Jesus von Nazareth bis zur Abfassung der letzten
urchristlichen Schriften reicht (30–ca. 100). Tolstoi orientierte sich
besonders an der Jerusalemer Urgemeinde und die als normatives Wort Gottes im
Neuen Testament gesammelten Schriften und am Gebot der
Nächstenliebe.[2]Ausgangspunkt für seine Kritik an
Gesellschaft und Kirche war die „Bergpredigt“ aus dem Neuen Testament. In
seinem Werk „Das Himmelreich in Euch“ aus dem Jahre 1893 entwickelte er seine
grundlegenden christlichen Überzeugungen und deren politischen und
gesellschaftlichen Folgen. Er übersetzte ebenfalls die Evangelien erneut ins
Russische.
Aus Gründen persönlicher
pädagogischer Weiterbildung bereiste er 1857 und 1860/61 westeuropäische
Länder. Dabei besuchte er Künstler wie Charles Dickens oder Iwan Sergejewitsch
Turgenew und Pädagogen wie Adolph Diesterweg. Tolstoi übernahm Diesterwegs
Ansätze der Anschauung und Selbsttätigkeit als didaktische Grundsätze und die
Ideen der Volksschule als Lehranstalt für die arbeitenden Klassen. Außerdem war
Tolstoi von Diesterwegs Ziel der Heranbildung eines mündigen und kritischen Bürger
durch Bildung angetan, was im krassen Gegensatz zum despotischen zaristischen
Russland seiner Zeit stand. Negative Eindrücke erhielt er bei der Hospitation
in Preußen an einigen Schulen und Kindergärten. Tolstoi bemerkte: „Außer der
abstumpfenden Wirkung der Schule, für die der Deutsche das schöne Wort
‚verdummen‘ hat, und die in einer dauernden Verkrüppelung der geistigen
Fähigkeiten besteht, gibt es noch eine andere viel schädlichere Wirkung, die
darin besteht, daß das Kind im Laufe von mehreren Stunden, durch das Schulleben
stumpf gemacht, täglich während dieser Zeit, die für das Lebensalter so kostbar
ist, aus jenen Lebensbedingungen herausgerissen wird, die die Natur selbst für
seine Entwicklung vorbestimmt hat.“ [3]
Nach seiner Rückkehr bemerkte er außerdem, „daß die einzige Grundlage der
Erziehung die Erfahrung und ihr einziges Kriterium die Freiheit ist“.[4]
Bildung interpretierte er als Begegnung von Menschen zum Zweck der
Emanzipation.[5]
Im Jahre 1859 gründete
er auf seinem Gut erneut eine Bauernschule, die bis 1862 von ihm geleitet
wurde. Zwischen 1859 und 1862 kam es zur Gründung weiterer 20 dieser Schulen.
Der Zeitraum von 1859 bis 1863 gilt heute als die Phase seiner intensivsten
Beschäftigung mit pädagogischen Fragen. Daneben gab er auch eine eigene
pädagogische Zeitschrift heraus, die von 1862 bis 1863 in zwölf Ausgaben
erschien. Sie diente der Verbreitung seiner Erziehungs- und Bildungskonzeption
und sollte im despotischen Rußland eine Reformdiskussion innerhalb des
staatlichen Erziehungswesens darstellen. 1862 wurden seine Schulen durch die
Staatsgewalt geschlossen. Dies wurde damit begründet, sie seien „ein Hort von
Anarchie, Negation und Chaos“.[6]
Tolstoi wurde außerdem einer angeblichen Verschwörung gegen den Zaren
beschuldigt, was einen Vorwand darstellte, sein Wohnhaus sowie seine Schule zu
durchsuchen und zu verwüsten. 1863 zog sich Tolstoi daraufhin aus der
pädagogischen Arbeit zurück und konzentrierte sich wieder verstärkt auf seine
literarischen Werke.[7]
Der dritte Versuch, die „Universität der Bastschuhe“, eine höhere Schule für
die Bauernschaft, scheiterte an den fehlenden Finanzen.
In seiner pädagogischen Theorie ging
Tolstoi davon aus, dass die frühkindliche Erziehung hauptverantwortlich dafür
ist, wie sich Menschen im späteren Leben in ihrem Charakter entwickeln würden.
Sein Wille, die Gesellschaft zu verändern, wurde für ihn vor allem eine Frage
der künftigen Erziehung. Er ging davon aus, dass Kinder ein im Vergleich zu
Erwachsenen viel stärker von „Bildern“, „Farben“ und „Tönen“ geprägtes
unterbewusstes Denken besäßen.
Tolstoi wurde inspiriert
von Jean-Jacques Rousseaus pädagogisches Werk „Emile oder über die Erziehung“.
Besonders der weitgehende Verzicht der Autorität gegenüber den Schülern und das
Erfahrungslernen beeindruckten Tolstoi. Neben dem Unterricht standen Schwimmen,
Schlittschuhlaufen, Reisen und Wandern und die dazugehörigen Naturerfahrungen
im Mittelpunkt.
Er unterschied
ausdrücklich zwischen Erziehung als Anwendung von Zwang und Bildung als eine
freiwillige und freiheitliche Begegnung zwischen Lehrer und Schüler: „Woran
liegt es, daß es eine Erziehung gibt? Wenn eine so unmoralische Erscheinung,
wie Zwang in der Bildung, d.h. Erziehung Jahrhunderte existieren kann, so muß
die Ursache dazu in der menschlichen Natur wurzeln. Diese Ursache glaube ich zu
entdecken, erstens in der Familie, zweitens in der Religion, drittens im Staat
und viertens in der Gesellschaft.“ [8]
In den Schulen Tolstois
gab es keinen Zwang zur Pünktlichkeit, was auch in der Realität funktionierte.
Laut Tolstoi waren nur diejenigen Schüler unpünktlich, die durch Arbeit für
ihre Eltern vom Schulbesuch abgehalten wurden. Seiner notenfreien Beurteilung
widersetzten sich seine Schüler, die eine Einordnung ihrer Leistungen
verlangten. Die Mitbestimmung bei der Auswahl des Unterrichtsstoffes und eine
Konfliktregelung, die in den Händen der Schüler lag, stellten neuartige Ansätze
von Demokratisierung des Schulsystems dar. Demokratie in der Schule bedeutet
für Tolstoi eine Dynamik der Lehrer-Schüler-Interaktion. Bildung wurde als
Dialog mit den Schülern verstanden, nicht als Belehrung oder Unterweisung
(Didaktik des Dialoges). Dies führte dazu, dass die Schule Tolstois jedoch
nicht nur die Lust am Lernen erhöhte, sondern auch mit Lernerfolgen verbunden
war.[9]
Jegliche Erziehung und Bildung
sollte die Persönlichkeit eines Kindes respektieren. Die Lehrer sollten
Tolstois Ansicht nach nur wenig in die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes
eingreifen und ihre Schüler zu mündigen Persönlichkeiten erziehen. Schroedter bilanzierte:
„Der Zwang zum Stillsitzen und die daraus resultierende fehlende Bewegung ist
ein wesentliches Element der Kritik an den Schulen sowohl Russlands als auch
der Schulen Westeuropas. Dies wurde in den von Tolstoi errichteten
Bauernschulen, die nach dem Vorbild von Jasnaja Poljana entstanden, eine
deutliche Absage erteilt. Die Kinder durften sich unterhalten, sie durften, ja,
sie sollten sich bewegen. In seinen Betrachtungen fasste er Bildung tendentiell
als die die freiwillige Teilnahme an einem ungezwungenen Unterricht auf und sah
in der Erziehung den zwangsweisen Unterricht. Die Auseinandersetzung mit den
Jugendlichen sollte da beginnen, wo sie mit ihrem Erfahrungsschatz anknüpfen
können.“[10]
In seinen Schulen
entwickelte er auch Ansätze für Untersuchungen und Systematisierungen von
Lernsituationen: „Erst wenn die Erfahrung zur Grundlage der Schule gemacht
wird, wenn die Schule sozusagen ein pädagogisches Laboratorium geworden ist,
erst dann wird die Schule nicht hinter dem allgemeinen Fortschritt zurückbleiben
und dann wird auch die Beobachtung im Stande sein, feste Grundlagen für die
Wissenschaft der Erziehung zu schaffen.“[11]
Tolstoi verfasste
Lesebücher zu den Fächern Geschichte, Physik, Biologie und Religion, um Kindern
moralische und soziale Werte zu vermitteln. Generationen russischer Schüler
erhielten bis in die 1920er-Jahre mit seinem erstmals im Jahre 1872 erschienen
Schulbuch Alphabet die Grundschulbildung. Die überarbeitete Neuauflage
aus dem Jahre 1875, mit einer Auflage von 1,5 Millionen Exemplaren, wurde in
mehrere Sprachen übersetzt.
[1] Klemm, U.: Leo Tolstois gewaltfreier
Anarchismus. In: Graswurzelrevolution, Nr. 200/September 1995, S. 23-25, hier
S. 24
[2] Es gibt nur sehr wenige nichtchristliche
Quellen über dieser Phase des frühen Christentums. Kurze Notizen zu
Einzelereignissen finden sich bei Flavius Josephus, Tacitus und Sueton. Eine
wichtige Quelle ist dann der Briefwechsel zwischen Plinius d.J und dem
römischen Kaiser Trajan, der einen Blick auf die Ausbreitung des Christentums
am Beginn des 2.Jh. in Pontus und Bithynien (Nordkleinasien) und die römischen
Gegenmaßnahmen gestattete.
[3] Tolstoi, L.: Über Volksbildung, Berlin
1985, S. 22
[4] Ebd., S. 48
[5]
www.graswurzel.net/270/tolstoi.shtml
[6]
Schroedter, T.: Antiautoritäre Pädagogik. Zur Geschichte und Wiederaneignung
eines verfemten Begriffes, Stuttgart 2007, S. 124
[7]
www.graswurzel.net/270/tolstoi.shtml
[8] Zitiert aus Bartolf,
C.: Ursprung der Lehre vom
Nicht-Widerstehen. Über Sozialethik und Vergeltungskritik bei Leo Tolstoi. Ein
Beitrag zur Bildungsphilosophie der Neuzeit, Berlin 2006, S. 104
[9]
www.graswurzel.net/270/tolstoi.shtml
[10]
Schroedter, Antiautoritäre Pädagogik. Zur Geschichte und Wiederaneignung eines
verfemten Begriffes, a.a.O., S. 123
[11] Zitiert aus Tolstoi,Über Volksbildung, a.a.O., S. 34
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