Erschienen in Ausgabe: No 39 (5/2009) | Letzte Änderung: 21.11.13 |
von Dörte Fehling
Zwei Frauen, zwei grundverschiedene Leben, die
sich trotzdem, wenn auch nicht persönlich, begegnen. In dem Buch „Sarahs
Schlüssel“ beschreibt die Autorin Tatiana De Rosnay zwei fesselnde Geschichten,
die eine fiktiv, die andere auf grausamen Tatsachen beruhend, die sich im
besetzen Frankreich im Sommer 1942 zugetragen haben. Beide verschmelzen in der
Mitte des Buches miteinander, um letztendlich als amerikanistisches, modernes Pseudohappyend
auszuklingen. Alle Personen sind frei erfunden, die geschichtlichen Tatsachen
leider nicht. Die Journalistin Julia Jarmond lebt als gebürtige Amerikanerin in
Paris. Im Rahmen des 60igsten Jahrestages des „Vél d´Hiv“ im Juli 2002 bekommt
sie den Auftrag einen Bericht über die große Zusammentreibung der Juden im
Velodrome d`Hiver, mitten im Herzen von Paris, zu schreiben. Im Laufe der
Recherchen stößt sie auf die Geschichte der Jüdin Sarah Stazinski, die bei der
Massenfestnahme und darauffolgenden Deportation der 12 884 Juden durch die
französische Polizei ebenfalls mit ihrer Familie verschleppt wurde. Am 16. und
17. Juli 1942 waren darunter 4000 Kinder, die zunächst im Vélodrome d'Hiver, –
einer Radsporthalle – gesammelt wurden. Dort verbrachten die jüdischen Familien
Tage zusammengepfercht und unter menschenunwürdigen Bedingungen. Es gab laut
Aussagen französischer Augenzeugen weder Toiletten, Wasser noch Nahrung für die
Inhaftierten, die der mörderischen Hitze durch das Glasdach der ehemaligen
Maschinenhalle ausgesetzt waren. Von dort wurden die Familien in das
französische Internierungslager Drancy, 20 km nordöstlich
von Paris, deportiert, bevor sie ins Konzentrationslager Auschwitz gebracht
wurden. Die Zusammentreibung war Teil der nationalsozialistischen Endlösung der
Judenfrage und basierte auf einer groß angelegten antisemitischen
Zusammenarbeit zwischen der französischen und deutschen Regierung. Die
Beteiligung der französischen Vichy-Regierung sowie französischer
Polizeibeamter an dieser Aktion war jahrzehntelang ein
Tabu
in Frankreich. Erst am 16. Juli 1995 entschuldigte sich der französische Staatspräsident Jacques Chirac öffentlich und bekannte offiziell
die aktive Mitwirkung französischer Polizei an der Aktion.
Der Roman beginnt mit
der nächtlichen Verschleppung der Familie der damaligen 10 jährigen Sarah. Alle,
außer ihr kleiner Bruder, den sie in einem geheimen Wandschrank versteckt, um
ihn nach ihrer Flucht aus dem Lager wieder zu befreien. Diese gelingt ihr,
nicht ohne zuvor dem Leser einen erschütternden Einblick in den damaligen Lageralltag
zu offerieren. In Drancy werden gleich nach der Ankunft die Väter von den
Müttern und Kindern getrennt, nach ein paar Tagen die Mütter von den Kindern.
Alle Altersklassen, vom Kleinstkind bis zum Teenager, sind auf sich allein
gestellt, da man sich lange Zeit nicht im Klaren darüber ist, was mit ihnen
geschehen soll. Anstelle sie, wie anfangs angedacht, in Kinderheime
abzuschieben, entschloß man sich doch, sie ebenfalls nach Auschwitz zu
verfrachten. Die Wochen bis zu ihrem Abtransport sind gezeichnet von Schmerzen,
Trauer, Angst und Brutalität, die den wenig Überlebenden ein normales Dasein
nach dem Krieg zeitlebens versagt. Sarah gelingt die Flucht, und mit Hilfe von
Bauern, die sich des Kindes annehmen, schafft sie es bis in die elterliche
Wohnung in Paris. Für ihren Bruder kommt jede Hilfe zu spät, er stirbt im
Wandschrank, während inzwischen eine Pariser Familie die von den Juden gesäuberte
Wohnung wieder bezogen hat. Er stirbt im Kinderzimmer des damals 12 jährigen Schwiegervaters
der Journalistin Julia Jarmond.
Im Verlaufe der
Aufdeckung dieser Tatsachen beschreibt die Autorin die gemeinsame Geschichte
vieler Einwohner von Paris. Das schlechte Gewissen und Verdrängen, der
verzweifelte Versuch von Vergangenheitsbewältigung, der bis heute anhält, um
den Schmerz und die Abscheu zu ertragen. Aus dem ehemaligen Lager von Drancy,
in dem ca. 63000 Juden inhaftiert waren, wobei ein Großteil an den katastrophalen
Umständen der Unterbringung und der Behandlung starben, wird nach dem Krieg
eine idyllische Wohnanlage für Familien, die die Journalistin, inzwischen auf
das Schicksal der kleinen Sarah aufmerksam geworden, besucht. An die Greueltaten
erinnert lediglich das Mahnmal des Bildhauers Shlomo Selinger und kleine,
unauffällige Tafeln an den Häusern. Immer mehr verstrickt sich das Leben ihrer
angeheirateten französischen Familie mit dem Leben der kleinen Sarah, als Julia
Jarmond erfährt, daß ihre zukünftige Wohnung in Paris, die der jüdischen
Familie ist. Die, in der der kleine Bruder jämmerlich und einsam mit 4 Jahren
im Wandschrank verstorben ist. Zu einem persönlichen Kontakt zwischen der Journalistin
und Sarah kommt es nie, denn der Jüdin gelingt es nicht, ein neues Leben in
einem anderen Land zu führen und sie beendet es selbst, als sie im Alter von 40
Jahren ihr Auto an einen Baum auf einer vereisten Straße lenkt. Zurück bleibt
Julia Jarmond, der das Leben von Sarah trotzdem so vertraut ist, und deren Sohn
William als einzige Verbindung zwischen beiden Frauen und als einzige
Möglichkeit, die Vergangenheit in beiden Familien zu verarbeiten.
In ihrem Buch Sarahs
Schlüssel vereint die Autorin den generationsübergreifenden Konflikt zweier
sich nur flüchtig bekannter Familien, verbunden durch die Greueltaten des
Nationalsozialismus. Oft fällt das Lesen schwer, so erschütternd ist die
Geschichte des Leides der kleinen Sarah, so daß einem die Passagen, in denen
sie das geordnete Leben der Journalistin verändern, unweigerlich profan
erscheinen lassen. Das Buch bleibt von Anfang bis Ende spannend, wobei sich der
Schluß leider doch in einem typisch amerikanistisch erwünschten Happyend in die
Länge zieht.
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