Erschienen in Ausgabe: No 108 (02/2015) | Letzte Änderung: 02.02.15 |
von Issai Spitzer
Diese Geschichte
erzählte mir Gabriel Glikman selbst kurz vor seinem Tod.
„Meine Erzählung geht weit zurück in der Zeit. Man
schrieb das Jahr 1939: Leningrad. Ilja Ginzburg, der herausragende Bildhauer,
Mitglied der Akademie, wurde zu Grabe getragen. Der Sarg war in der Akademie
der Schönen Künste aufgebahrt. Der Akademieprofessor Matvej Maniser leitete die
Beerdigungskommission. Viele Leute waren gekommen, um vom Verstorbenen Abschied
zu nehmen. Auch ich befand mich unter all diesen Menschen, damals Student der
Akademie, ein Schüler von Maniser. Und hier, am Sarg von Ilja Ginzburg, überkam
mich die Erinnerung, wie ich ihn kennengelernt hatte.
Auch er unterrichtete
an unserer Akademie. Als Ginzburg erfuhr, dass ich Schüler von Maniser war,
rief er aus:
-„Junger Mann, Sie
haben aber Glück gehabt: Schüler von Maniser! Könnten Sie mir vielleicht Ihre
Arbeiten zeigen?“
-„Gerne“, -
antwortete ich.
Maniser lobte mich
oft für einige meiner Skulpturen, für andere wiederum tadelte er mich. Er
sagte, ich hätte schiefe Augen. Wahrscheinlich hatte er auf seine Art Recht.
Denn schon damals fiel mein künstlerischer Still in einigen Arbeiten aus dem
fest gesetzten akademischen Rahmen heraus. Deshalb freute ich mich, als ein so
berühmter Meister wie Ginzburg meine Arbeiten sehen wollte.
Er kam in meine
Werkstatt und ich zeigte ihm meine Arbeiten: Büsten, Basreliefs, Statuetten. Er
selber war ein großer Meister von Genre-Figuren, die lebensnah, ausdrucksstark
und unmittelbar in ihrer Wirkung waren. Viele seiner Werke befinden sich
inzwischen im Russischen Museum in Sankt-Petersburg. Wahrscheinlich gefielen
ihm meine Arbeiten, denn er lud mich zu sich nach Hause ein.
Und so befinde ich
mich denn nun beim großen Ginzburg in seiner Wohnung im „Haus der Gelehrten“.
Er bat mich, etwas über mich selbst zu erzählen. Ich sagte ihm, dass ich aus
Beschenkovitschi stamme, einem kleinen Städtele unweit von Witebsk, dass ich
meine erste Arbeit aus Lehm geformt habe, als ich 8 Jahre alt war. Das war der
Kopf von Sokrates, den ich in irgendeinem Büchlein gefunden hatte. Damit hat
alles begonnen. Dann kam Witebsk; dort konnte ich als Junge in der Kunstschule
zuschauen, wie Chagall und Malevitsch arbeiteten.
Er hörte mir mit
großem Interesse zu, erzählte dann seinerseits, dass auch er aus Weissrussland
stammte – aus Grodno. Damals sei das ein kleines Städtchen gewesen, wo viele
Handwerk treibende Juden lebten: Schuster, Sattler, Schneider usw. Beim Wort
„Schneider“ flammten seine Augen auf. Ein rätselhaftes Lächeln erschien auf
seinem Gesicht, sein ganzer Körper spannte sich – und mit einem unerwarteten
Sprung hüpfte dieser alte kleinwüchsige Mann auf den Tisch, setzte sich im
Schneidersitz darauf und verwandelte sich im Nu in einen Schneider. Diese
Verwandlung war im wahrsten Sinne des Wortes wundersam.
Vor mir auf dem
Mittagstisch saß wahrlich nicht der berühmte Bildhauer, nicht das Mitglied der
Akademie, Schüler des großen Mark Antokolskij, - sondern ein blinzelnder
jüdischer Schneider, deren nicht wenige ich in meinem Städtelе gesehen hatte.
„Stellen Sie sich vor, - erzählte er mir gleich
darauf, als wir bereits am Tisch saßen und Tee tranken – an dem selben Tisch,
auf dem er eben erst sein Kunststück vorgeführt hatte, -
was Sie soeben
gesehen haben, das habe ich Lew Tolstoj vorgeführt“.
Und er erzählte mir
folgende Geschichte:
„Es begab sich im letzen Jahr des vorigen
Jahrhunderts (des 19. Jhs!). Ilja Repin, mit dem ich befreundet war, schlug mir
einmal vor, Tolstoj auf seinem Gut Jaßnaja Poljana zu besuchen. Ich wusste, das
er dort aus und ein ging, dass Tolstoj Repins Bilder sehr schätzte und von ihm
oft gemalt wurde. Wie hätte ich da nein sagen können?! So reisten wir nach
Jassnaja Poljana. Tolstoj empfing uns voller Freude. Repin stellte mich vor und
erläuterte das Ziel unseres Besuches: wir sollten Porträt-Skulpturen des
Dichters anfertigen. Tolstoj hatte nichts dagegen und schlug uns sogar vor, ihn
zu begleiten, um, wie er sagte, erst echten
Lehm zu holen. So
nahmen wir denn Schaufeln, einen Schubkarren und folgten Lew Tolstoj. In der
Tat brachte er uns zu einem Stück Land, wo es vorzüglichen Lehm gab: er war
fett, weich und von dunkelbrauner Farbe, wie Schokolade.
Repin und ich freuten
uns sehr, denn wir wussten, wie leicht und angenehm es sich mit solchem Lehm
arbeiten lässt. Wir hoben genügend Lehm aus und brachten ihn nach Hause. Man
hatte für uns eine Art Werkbänke hergerichtet und wir begannen zu arbeiten.
Jeder fertigte seinen eigenen, individuellen Tolstoj an; so, wie er ihn sah.
Übrigens befindet sich jene Büste von Repin – in Naturgröße – im Tolstoj-Museum
von Jassnaja Poljana. Als ich einen Arbeitsabschnitt beendet hatte, empfand ich
plötzlich eine große Müdigkeit. Es kam alles zusammen: die Reise, die Aufregung
bei der Begegnung mit dem berühmten Schriftsteller, die Anstrengung bei der
Arbeit. Lew Nikolajewitsch, der das bemerkte, schlug mir eine Ruhepause vor. Er
führte mich ins Zimmer im 1.Stock, wo ich mich hinlegen konnte.
Kaum ich mich hingelegt
hatte, stürzte ich in einen tiefen Schlaf. Ich wachte auf von der Empfindung,
dass sich jemand im Zimmer befinde. Ich öffnete die Augen und sah in Dämmerung
des Zimmers Tolstoj. Schuldbewusst sagte er: „Ilja, entschuldigen Sie mich
bitte. Es tut mir leid, dass ich Sie gestört habe. Aber Repin erzählte mir, Sie
besäßen die Gabe, Menschen zu imitieren. Und das hat mich neugierig gemacht,
bin ich doch ein großer Liebhaber von Menschdarstellungen. Könnten Sie uns
nicht etwas vorführen?“
Ich entgegnete: „Aber
Lew Nikolajewitsch, das sind doch Kinderspiele, unsere studentischen
Vergnügungen – nichts weiter. Es ist mir irgendwie peinlich...“ Er jedoch
sagte: „Ilja, ich bitte Sie – kommen Sie nach unten“ und ging aus dem Zimmer.
Wie hätte ich da Lew
Nikolajewtsch die Bitte abschlagen können! So ging ich denn hinunter ins
Wohnzimmer. Es war hell erleuchtet, es brannten viele Lampen und Kerzen. Im
Salon befanden sich an die fünfzehn mir völlig unbekannte Personen. Als
Erklärung sei hinzugefügt, dass Tolstoj dauernd Gäste hatte: Literaten,
Gelehrte, Schauspieler, Musiker... Er stellte mich den Gästen vor und sagte:
„Wir haben hier heute einen ganz besonderen Gast – den Bildhauer Ilja
Ginzburg“.
Dann wandte er sich
an mich: „Nun, bitte!“ und wies auf den Tisch, den man bereits in der Mitte des
Salons aufgestellt hatte. Lew Nikolajewitsch selber setzte sich ganz in der
Nähe hin. Etwas betreten und vorwurfsvoll schaute ich zu Repin hinüber. Er
fragte: „Du bist mir wohl böse, dass ich deine Talente verraten habe?“ Ich
zuckte die Achseln – was sollte man da schon machen...“
Ich warf einen kurzen
Blick auf die Anwesenden, sprang leicht auf den Tisch und rief mir die Zeit
zurück, als ich Student war und verschiedene Menschen imitierte. Und plötzlich
wurde der große helle
Salon ganz eng, schmal und dämmrig und verwandelte sich vor meinen Augen in ein
dunkles, schmutziges Kämmerlein eines jüdischen Schneiders. Die Vorstellung
begann. In meiner rechten ausgestreckten Hand klapperte die Schere, die Finger
der linken
Hand hielten auf dem
Schoss den nicht vorhandenen Stoff, die kurzsichtigen Augen blinzelten. Dabei
wiegte ich mich im Takt einer melancholischen jüdischen Melodie, die ich dazu
leise summte.
Ich bemerkte, dass
die Menschen bei diesem Augenblick verstummten und mich völlig unbeweglich
anstarrten. Einige Minuten herrschte im Salon völlige Stille. Ich schaute zu
Lew Nikolajewitsch hinüber und sah, dass seine breiten Schultern leise zuckten
und dass aus seinen großen grauen Augen Tränen flossen. Tränen der Rührung und des
Mitgefühls, verursacht durch jenes Bild, das mir gelungen war ins Leben zu
rufen.
Am nächsten Morgen,
noch vor dem Frühstück, forderte mich Lew Nikolajewisch auf, mit ihm
auszureiten. Man führte seinen Rappen vor. Leicht sprang er auf und half mir
dann von oben zu sich vorne in den Sattel. So ritten wir zu zweit auf einem
Pferd über Wiesen und Felder indem wir die Schleier des Morgennebels
zerteilten“.
Was mir Ginzburg
damals erzählt und vorgeführt hatte, hat meine Seele tief beeindruckt. Ich
empfand den großen Wunsch, den Schneider zu malen – aber ich? traute? mich
nicht. Ich wagte es nicht einmal, diese Arbeit anzufangen. Wahrscheinlich war
die Gestalt in mir noch nicht so weit gediehen, dass sie reif war, gleichsam
von selbst auf die Leinwand zu „fallen“.
Es vergingen Jahre, Jahrzehnte. In
Leningrad war ich kein Unbekannter mehr. Man kannte und schätzte mich sowohl
als Bildhauer wie auch als Maler. 1962 fuhr ich in die Sommerfrische nach
Repino, in das eigens für Komponisten eingerichtete Erhaltungsheim. Repino ist
ein wunderschöner Ort in Karelien, am Finnischen Meerbusen (wo Ilja Repin die
letzten Jahrzehnte seines Lebens verbracht hat und wo er auch begraben ist.
Sein Haus ist heute Museum. - Anmerkung des Übersetzer). Ich hatte dort ein
Zimmer mit einer kleinen Veranda, wo ich Skizzen machte und Porträts der
Musiker und Komponisten malte. Übrigens befand sich dort zur selben Zeit auch
der berühmte Dirigent Jewgenij Mrawinskij, den ich gut kannte. Auch ihn habe
ich gemalt.
Eines Tages, am
frühen Morgen – es war ungewöhnlich klar und frisch – trat ich auf die Veranda
– selber frisch und erholt, gleichsam reingewaschen und losgelöst von all dem
Treiben der Stadt. Auf der Veranda lagen Farbtuben, Lösungsmittel, fester
Karton. Ich hob einen davon auf. Als ob es heute gewesen wäre, erinnere ich
mich an seine Masse: 120 x 90. Ich schwang Paar Mal den Pinsel und entwarf
gleich hier auf dem Fußboden der Veranda meinen Schneider. Ich malte daran
nicht länger als eine Stunde. So ausdrucksstark erstand er vor meinem inneren
Auge. Ich sah seine wiegende rhythmische Bewegung, seinen Nagelen, fast
Körperlosen Leib. Mit spindeldürren Armen, dünnem Körper. Das war bei weitem
keine naturalistische Darstellung eines Menschen, vielmehr, möchte ich sagen,
eine Konstruktion. Diese spitzen Knie, auf denen er den Stoff zuschneidet,
dieser nackte Fuß mit dem riesigen Zehennagel – all das gibt dieser Figur ein
ganz besonderes Gepräge. Man sagte mir später, das sei nicht einfach ein
Porträt, das sei ikonographisch gesehen eine Art „Ikone“, mit der das Bild die
stereotype Abstraktion gemeinsam hat. Das ist kein Handwerker – das ist ein
Magier.
1980 gelang es mir
dieses Bild, wie auch einige andere Arbeiten, in den Westen, in die Emigration,
mitzunehmen. Ich hatte viele Ausstellungen. In einer Ausstellung in Rotterdam
wurde mein „Schneider“ zusammen mit einem Porträt von Schostakowitsch und
anderen Arbeiten von einem bekannten holländischen Sammler erworben. Nun stelle
ich eine Variante jenes Bildes aus. Das ist die Geschichte meines „Jüdischen
Schneiders“.
Als Gabriel Glikman
seine Erzählung beendet hatte, dachte ich folgendes:
Die Kunst existiert seit Anbeginn der Zeiten - und genau so
lange bleibt ihr Geheimnis unergründet. Es ist das Geheimnis der Inspiration.
Man überlege sich bloß genau, was dieses Wort „Inspiration“ bedeutet. Was für
eine wunderwirksame Kraft flößt dem Künstler Formen, Gedanken, Wörter, Melodien
und Rhythmen ein, die uns die Welt mit den Augen des Meisters sehen und unsere
Herzen im Einklang mit seinem Herzschlag schlagen lassen? Kommt diese
Erleuchtung vom Himmel? Wahrscheinlich.
Und dennoch, wie
schön, dass es ein Geheimnis bleibt!
Die Erzählung von
Gabriel Glikman wurde von dem mit dem Maler befreundeten, in München lebenden
Schriftsteller Issai Spitzer aufgezeichnet.
Wir drucken sie in der Übersetzung aus dem Russischen von
Dr. Natalie Reber ab.
Bild: Gabriel Glikman - Der jüdische Schneider, 1962
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