Erschienen in Ausgabe: No 108 (02/2015) | Letzte Änderung: 02.02.15 |
von Karl-Eckhard Hahn
„Strategie
und Taktik“, so die abgeklärt knappe Reaktion einiger Zeitgenossen, bei denen
der Rezensent für die Lektüre des Buchs „Die Linke: Partei neuen Typs?“ aus der
Feder Benjamin-Immanuel Hoffs warb, des neuen Chefs der Thüringer
Staatskanzlei. Dass an Lenin geschulte Kommunisten politisch zu fast jedem
Winkelzug bereit sind, wisse man doch noch aus dem Staatsbürgerkundeunterricht
oder Grundlagenstudium des Marxismus-Leninismus.
Es wäre
bedauerlich, wenn es damit sein Bewenden hätte. Denn die Lektüre der als
„Flugschrift“ bezeichneten Studie über Milieus, Strömungen und Parteireform ist
überaus lohnend, und zwar für Parteigänger, Koalitionäre und Widersacher der
LINKEN gleichermaßen. Die LINKE träumt den alten sozialistischen Traum weiter und
ihr erklärtes Ziel ist, das aktuelle Wirtschafts- und Gesellschaftssystem
grundsätzlich zu überwinden. Dass es nicht einfach um die Rekonstruktion des
real existent gewesenen Sozialismus geht und ihre maßgeblichen Köpfe den Weg
über die Diktatur als schweren Fehler erkannt haben, sollte man der Partei
zugestehen. Doch wie dann?
Hoffs Buch
gibt Auskunft zu dieser Frage. In knapper Form skizziert und kommentiert der
Autor die in jüngerer Zeit in der Führung der LINKEN und der
Rosa-Luxemburg-Stiftung (RLS) geführten Diskussionen über mögliche Wege zu
sozialistischen Verhältnissen. Sozialwissenschaftlich abgesichert, nimmt er
Milieus, Parteien und ihre Wählerschaft in den Blick, die als Resonanzboden und
Bündnispartner für eine langfristig angelegte Strategie in Frage kommen. Das Ganze
rundet Hoff durch Überlegungen zum Selbstverständnis und zu
Entwicklungsoptionen der LINKEN und zur Einordnung ihrer Flügel und Akteure ab.
Für
Mitglieder und Anhänger der LINKEN kann die Veröffentlichung einen Beitrag zur
Selbstaufklärung leisten und damit möglicherweise zur Überbrückung
innerparteilicher Grabenkämpfe, den meisten Lesern gibt sie entscheidende
Hinweise zum besseren Verständnis linker Politik innerhalb und außerhalb
Thüringens. Aus dem an Themen und Denkanstößen reichen Buch seien lediglich
drei Aspekte von allgemeinerer politischer Bedeutung herausgegriffen, die über
parteiinterne Debatten hinausweisen.
Wie ein
roter Faden zieht sich zunächst die Beschäftigung mit dem italienischen
Kommunisten Antonio Gramsci (1891-1937) in der LINKEN und der RLS durch die
einzelnen Kapitel. Schlüsselbegriffe des von Gramsci vertretenen Konzepts sind
„Hegemonie“ und „Transformation“. Hegemonie zielt in der Zusammenfassung Hoffs
auf „die Herstellung von aktivem oder passivem Konsens auf Seiten der
Beherrschten in einer moralisch-kulturellen Dimension“. Dazu will die Linke
Interessen, Institutionen und Akteure im staatlichen und gesellschaftlichen
Bereich zu breiten Bündnissen verknüpfen. Der gesellschaftlichen Transformation
geht die geistig-kulturelle Herrschaft voraus. Für Liebhaber marxistischer
Ideologiedebatten: Die Gewichte verschieben sich von der Basis in den Überbau.
Ein von
Gramsci verwendeter Begriff für diese breiten Allianzen ist der des Blocks. Dem
Hegemonie-Konzept oder, deutlicher gesagt: diesem Hegemonie-Streben messen die
Strategen der LINKEN zentrale Bedeutung zu, wenn es darum geht, die
gegensätzlichen ideologischen Positionen in ihrer Partei bei der Überwindung
der herrschenden kapitalistischen Verhältnisse zu versöhnen. Hoff beschreibt
diese Pole mit „Widerstand“ und „Transformation“. Der Autor lässt hier und da
Distanz zu Teilaspekten dieser Strategie durchblicken, auch im Bemühen, einen
weiteren Sozialismusanlauf vor erneuten totalitären Entartungen zu bewahren und
eine Engführung innerparteilicher Diskurse zu vermeiden. Insgesamt trägt er den
Ansatz jedoch mit.
In einem
Punkt von praktischer politischer Bedeutung, und das ist der zweite Aspekt,
liegt er mit seiner Parteiführung erkennbar über Kreuz. In einer Art Vorwort
hält die Parteivorsitzende Katja Kipping ihm vor: „Du meinst, Rot-Rot-Grün muss
nicht von Anfang an als `hegemoniales Projekt´ angelegt sein – als ein Projekt
mit dem gemeinsamen Anspruch, grundlegend andere politische Weichenstellungen
vorzunehmen.“ In der Tat meint Hoff, „die drei Mitte-Links-Parteien und die sie
tragenden Milieus haben derzeit kein gemeinsames Projekt“. Die Betonung liegt
auf „derzeit“. Das benötigte Projekt kann und muss nach seiner Überzeugung
durch rot-grün-rotes Handeln selbst entstehen und darf nicht zur Voraussetzung
dieses Handelns erklärt werden. Am Ende entpuppt sich der Konflikt als eher
graduell denn fundamental: Hoff ist zu größeren Vorleistungen bereit.
Der dritte
Gesichtspunkt betrifft die intensive Beschäftigung des Verfassers mit den
Milieus, in denen die LINKE einen fruchtbaren Boden für sich vermutet, und den
parteipolitischen Partnern: der SPD und den Grünen. Die LINKE wünscht sich Hoff
als „partizipative Mitgliederpartei“ und grenzt sie von den weniger
ideologiefixierten Volksparteien ab, die er unter den Bedingungen
zeitgenössischer politischer Kommunikation als „professionalisierte Wähler-
bzw. Medienkommunikationsparteien“ beschreibt. Nicht allein der LINKEN, ihr
allerdings vor allem, empfiehlt er die Rückbesinnung „auf die sie tragenden
Milieus und die Schließung der dazwischenliegenden kulturellen und politischen
Kluft“.
Dass
Milieus erodieren und nicht mehr wie zu Zeiten der alten Massenparteien
weltanschaulich geprägt und lebensweltlich abgegrenzt sind, benennt Hoff, er
taxiert ihre Bedeutung als politischen Resonanz- und Kommunikationsraum
allerdings deutlich höher als in den Volksparteien üblich. In Auswertung
diverser Milieustudien kommt er zu dem Schluss, dass die
Linke vor allem bei Arbeitslosen, Menschen in prekären Beschäftigungslagen,
Abstiegsbedrohten und DDR-Nostalgikern gute Chancen hat. Ergänzt um
Parteigänger in einer Gruppe, die je nach Quelle als „progressive“ oder
„kritische Bildungselite“ bzw. „sozialökologisches Milieu“ beschrieben wird.
Es ist
jene politisch überdurchschnittlich artikulationsfähige Gruppe, in der sich
etwa zu gleichen Teilen auch die Anhänger der SPD und der Grünen befinden und
in der Hoff „gemeinsam geteilte Leitbilder, Werte, Normen seitens der
Mitte-Links-Wähler_innen“ verortet. Ansonsten unterscheiden sich die Anhänger
der drei Parteien deutlich: Das Potential der SPD liegt in allen Milieus
zwischen 20 und 30Prozent außer beim „abgehängten Prekariat“
(Friedrich-Ebert-Stiftung), und die Grünen sind im Wesentlichen auf bürgerliche
Parteigänger beschränkt. Die Bedeutung des Befundes und rot-rot-grüner
Bündnisse für das Etappenziel einer geistig-kulturellen „Hegemonie“ liegt auf
der Hand.
Vor dem
Hintergrund der Studie ist nicht weiter erklärungsbedürftig, wenn in Thüringen
ein Ministerpräsident der LINKEN ein sozialdemokratisches Regierungsprogramm
mit grünen Beigaben umsetzt und die das linksparteiliche Herz wärmenden Zutaten
eher sparsam eingesetzt werden. Die linke Versuchsanordnung im Politik-Labor
Thüringen hat eine bemerkenswerte Stringenz, die durch die Veröffentlichung
Hoffs klarer wird. Die Prognose ist nicht besonders gewagt, dass es kaum einen
Bereich geben dürfte, in denen die LINKE einstweilen nicht zu weitreichenden
Kompromissen bereit ist, um Vertrauen aufzubauen.
Dem Buch
ist deshalb eine breite Aufnahme und Diskussion zu wünschen: SPD und Grüne
könnten angesichts der skizzierten Strategie ins Grübeln über ihre Rolle
kommen. Wollen sich SPD und Grüne tatsächlich dem Verdacht aussetzen,
Blockparteien neuen Typs zu sein, wie man unter Rückgriff auf die Terminologie
Gramscis und des hoff´schen Buchtitels polemisch anmerken könnte? Auch der
„transformatorische Reformismus“ zielt in den Worten des von Hoff zitierten
Dieter Klein, eines wichtigen Vordenkers der LINKEN, „auf Umwälzung des Kerns
der Eigentums-, Verfügungs- und Machtverhältnisse“. Wollen sie sich dafür
wirklich hergeben? Wollen sie sich zu Gehilfen eines Konzepts machen, dessen
Ziel es ist, entschlossen auf den zivilgesellschaftlichen Bereich einzuwirken,
um dort den Rückhalt für eine Transformation zu erzeugen und Widerstände
dagegen zu schleifen.
Ein kurzer
Blick auf die Entstehungsbedingungen der Theorien Gramscis ist in diesem
Zusammenhang zu empfehlen. Für den italienischen Theoretiker reproduzierte die
Gesellschaft die damals herrschende Ordnung. Es war diese „Hegemonie“, die
durch eine neue ersetzt werden sollte. Der Eigensinn der bürgerlichen
Gesellschaft erscheint in dieser Perspektive als Hindernis. Die heute
vermeintlich herrschende „Hegemonie“ wird als neoliberal beschrieben. 2011
konstatierte ein Autor im Auftrag der RLS gar, „das Diffundieren neoliberaler
Positionen“ in den Bereich der „Linksaffinen“.
Die CDU befindet
sich angesichts der langfristig angelegten kulturrevolutionären Strategie in
einem Dilemma. Jedem Versuch, einen roten Teufel an die Wand zu malen, werden
auf absehbare Zeit gut greifbare und vermittelbare Belege fehlen. Ebenso wenig
erfolgversprechend würde es sein, mit ideologischen Gegenentwürfen zu
hantieren. Die Union ist keine klassische Weltanschauungspartei, sondern
verbindet liberale, christlich-soziale und konservative Überzeugungen.
Entscheidend wird sein, das maß- und grenzenlose Politikverständnis der LINKEN
zu kennzeichnen und die Verwischung der Grenzen zwischen Staat, Gesellschaft,
Wirtschaft und Kultur zurückzuweisen.
Unbestritten
ist: Die Wirtschaft braucht eine starke und durchsetzungsfähige Ordnung, die „das
Prinzip der Freiheit auf dem Markt mit dem des sozialen Ausgleichs und der
sittlichen Verantwortung jedes Einzelnen dem Ganzen gegenüber“ verbindet
(Ludwig Erhard). Mehr jedoch nicht. Und die Gesellschaft muss als Raum der
Freiheit vom Staat als dem Bereich der Notwendigkeit unterschieden bleiben.
Eigenständigkeit und Eigensinn sind die Wesensmerkmale der Gesellschaft. Der
Staat hat einen Rahmen zu setzen, in dem Freiheit, Solidarität und
Gerechtigkeit gelebt werden können. Aufgabe der Parteipolitik und
parteipolitischer Strategien kann und darf es nicht sein, die Herzen und Hirne
der Menschen in strategischer Absicht zu manipulieren.
Insoweit
bleibt es über das politische Tagesgeschäft hinaus Aufgabe der Opposition, auch
auf die Strategie hinter der Taktik hinzuweisen. Hoffs Buch hilft dabei. „Jede
Zickzackwendung der Geschichte ist ein Kompromiss – ein Kompromiss zwischen dem
Alten, das nicht mehr stark genug ist, um das Neue ganz negieren zu können, und
dem Neuen, das noch nicht stark genug ist, um das Alte ganz zu stürzen“, so W.I.
Lenin nach einem Lehrbuch für das verpflichtende Grundlagenstudium des
Marxismus-Leninismus im Kapitel über Strategie und Taktik. Auf die
Zickzackwendungen der kommenden Jahre dürfen wir gespannt sein.
Benjamin-Immanuel
Hoff: Die Linke: Partei neuen Typs? Milieus – Strömungen – Parteireform. Eine Flugschrift,
Hamburg: VSA-Verlag 2014, Paperback, 143 Seiten, 12,80 Euro
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