Erschienen in Ausgabe: No 109 (03/2015) | Letzte Änderung: 25.03.15 |
von Karim Akerma
Der israelische Ministerpräsident lädt französische
Bürger jüdischen Glaubens nachdrücklich zur Emigration nach Israel ein und Houellebecq
ist sein Prophet. Für alle findet sich im Roman „Unterwerfung“ nach den Wahlen
zur französischen Nationalversammlung im Jahr 2022 ein Weg. Nicht für die
französischen Juden. Jedes neue Aufflammen von Gewalt im Niemandsland der
Großstädte – hier wurde eine Frau genötigt, ihren Schleier zu lüften, dort eine
Moschee geschändet – spült weitere Stimmzettel in die Urnen des von Marine Le
Pen geführten Front National. Um einen Sieg der Rechtsextremen zu verhindern,
gehen die Sozialisten nach der Wahl eine Koalition mit der islamischen Brüderschaft
ein, die fortan den Ministerpräsidenten stellt.
In Interviews benennt Houellebecq das Kardinalproblem,
für das „Unterwerfung“ eine Lösung anbieten soll: Ohne Religion ist eine Gesellschaft nicht funktionsfähig.
Detailprobleme werden im Laufe dieses gehobenen sozialphilosophischen
Unterhaltungsromans durch eine freiwillige Unterwerfung der einzelnen Personen und
Institutionen unter den Islam gelöst. Der Wert dieses Buches besteht darin, ein
solches Szenario für alle lesbar und wirklichkeitsnah durchzuspielen.
Warum gerade der Islam und nicht etwa der christliche
oder jüdische Monotheismus? Dies, so erfährt der Leser aus manchen
interessanten Dialogen, liegt nicht etwa daran, dass der Islam „besser“ wäre
als das Christentum oder Judentum, sondern sei darauf zurückzuführen, dass sich
das Christentum in der von Houellebecq vorgetragenen Diagnose erschöpft hat und
nicht mehr in der Lage sei, den Durst nach Sinn und Orientierung zu stillen.
Die einst von der christlichen Religion konstituierte Zivilisation gilt als
ausgebrannt. Zeit, dass der jüngere und frischere Bruder übernimmt. Als seinen
geschichtsphilosophischen Gewährsmann bemüht Houellebecq an einer Stelle des
Romans den britischen Universalhistoriker Arnold Toynbee (1889–1975). In Houellebecqs
Darstellung werden Kulturen nicht von außen „umgebracht“, vielmehr begehen sie
Selbstmord. Doch hatte Toynbee anderes im Sinn als Houellebecq: Einen Prozess
geistiger Erleuchtung, eine zunehmende Spiritualisierung der gesamten
Menschheit, mit dem Christentum als Wegweiser an der Spitze aller
Hochreligionen. Bei Toynbee und Houellebecq erscheint das Religiöse als das
Nährgeflecht, über das eine Gesellschaft sich erhält. Das Versiegen des
Religiösen hingegen führe in einen problematischen humanistischen Atheismus.
Diesen – nicht etwa das Judentum oder Christentum – stellt Houellebecq in
„Unterwerfung“ als den Feind des Islam vor. Im Übrigen erledige sich das
Problem des humanistischen Atheismus in der islamisch werdenden französischen
Republik von selbst, da die Anhänger monotheistischer Religionen mehr
Nachkommen hervorbringen als nichtreligiöse Menschen (vgl. Religion und
Demografie: http://tabularasa-jena.de/artikel/artikel_5648/). Insbesondere
gelte dies für die moslemische Bevölkerung.
Betrachten wir kurz die Verteilung der Ressorts nach den
Wahlen 2022: Die moslemische Brüderschaft konzediert den Linken mehr als die
Hälfte aller Ministerien, darunter das Finanz- und das Innenministerium. Weder
auf dem Gebiet der Wirtschaftspolitik noch in der Fiskalpolitik gibt es
irgendwelche Differenzen. Ebenso wenig im Bereich der inneren Sicherheit: Im
Gegensatz zu ihren sozialistischen Partnern verfügen die regierenden Moslems –
konstatiert Houellebecq süffisant – über die nötigen Mittel, diese zu
gewährleisten. Ein wenig Uneinigkeit besteht im Bereich Außenpolitik, da die
Moslempartei eine entschiedenere Verurteilung Israels fordert, welche ihr die
Linken ohne Weiteres zugestehen.
Unverzichtbar für die Moslempartei ist die Oberhoheit
über die Bereiche Demografie und Bildung: Wirtschaft und Geopolitik seien demgegenüber
nichts als Augenwischerei. Worauf es ankommt, ist die Hegemonie über die
Kinder. Wer die Kinder kontrolliere, habe die Zukunft in der Hand. Jedes Kind
soll daher ab der Einschulung von einer islamischen Bildung „profitieren“
können. Über alles andere lässt die Moslempartei folglich mit sich reden.
Französische Juden
Die Vorhaben der islamischen Brüderschaft hat in Houellebecqs Roman nichts mit
dem islamischen Fundamentalismus zu tun. Zwar sehen sich die französischen
Christen nach einer islamischen Machtübernahme formell auf den Status von
Dhimmis (Schutzbefohlenen) reduziert, gewissermaßen Staatsbürger zweiter
Klasse. Aber die Prinzipien des Islam seien großzügig und die Praxis der Dhimma
überaus elastisch: In Saudi Arabien werde das islamische Völkerrecht ganz
anders ausgelegt als in Marokko oder Indonesien. Die französischen Christen
jedenfalls dürfen darauf rechnen ihr bisheriges Leben weitgehend ungestört
fortführen zu können. Es komme nur noch darauf an, einen einzigen Schritt
weiter zu gehen und zum Islam zu konvertieren.
Man fragt sich: Wo bleiben hier die Juden? Müssen auch
sie nur noch einen kleinen Schritt aus ihrer Buchreligion tun, um im Islam
anzukommen? Wir lesen „Für die Juden ist es natürlich etwas komplizierter.
Theoretisch ist es prinzipiell das Gleiche, das Judentum ist eine
Buchreligion.“ In der Praxis sehe es jedoch anders aus. In moslemischen Ländern
gestalteten sich die Beziehungen mit den Juden häufig schwieriger als mit den
Christen. Überhaupt seien die Beziehungen durch den Palästina-Konflikt
vergiftet. Am Ende bleibe den französischen Juden wohl nur die Emigration nach
Israel. Also genau das, wozu der israelische Ministerpräsident die
französischen Juden in diesen Tagen gezielt einlädt. Houellebecq lässt die
Schwierigkeiten jüdischen Lebens an der Universität beginnen, an der irgendwann
eine jüdische Studentenvertretung fehlt, und der Literaturprofessor Francois,
Hauptfigur des Romans, sieht sich plötzlich allein gelassen, weil seine
studentische Geliebte mit ihren Eltern nach Israel auswandert.
Die Hauptperson Francois
Beim Ich-Erzähler und Universitätsprofessor haben wir es
mit einem Misanthropen zu tun. In seinem misanthropischen Bekenntnis
interessiert ihn die Menschheit nicht, sie widert ihn sogar an, dies gilt auch
für seine Landsleute und Kollegen. Dabei weiß er sehr wohl, dass es sich bei
diesen Menschen um Seinesgleichen handelt – aber genau diese Ähnlichkeit ist
es, die ihn ihre Nähe fliehen lässt. In einem mikroskopischen Bereich der
Gelehrsamkeit indes hat sich der Professor einen gewissen Respekt unter
Kollegen verschafft. Er ist Experte für den französischen Schriftsteller
Joris-Karl Huysmans (1848–1907), der in späteren Lebensjahren zum Katholizismus
konvertieren sollte und auf dessen Biografie Houellebecq immer wieder Bezug
nimmt. Als Huysmans-Forscher kann Francois niemand so leicht das Wasser
reichen. Zugleich aber wähnt er sich am Ende aller Tage, was die Vitalsphäre
seines Daseins angeht. Seinen Körper beschreibt der 44-Jährige als Sitz
diverser schmerzhafter Leiden und fragt sich, wie es mit 50 oder 60 Jahren um
ihn bestellt sein möge. Sein Leben resümiert er, werde dann nur mehr ein
Nebeneinander kompostierender Organe sein, eine unaufhörliche Qual, trostlos
und ohne Freude. Auch für den Protagonisten des Romans bietet der Islam
zumindest Teillösungen.
Houellebecq deutet eine Zeitenwende an, indem er
antlitzlose entrepublikanisierte Studentinnen in Burka selbstbewusster und
langsamer als sonst die Korridore der Fakultät in Dreierreihe defilieren lässt.
Für Francois verheißt dies mittelfristig nichts Gutes. Die frisch islamisierte
Universität entlässt ihn, den Nicht-Moslem, der ohnedies schon lange nichts
mehr publiziert hatte, belässt ihm aber sein ordentliches Gehalt als Pension.
Nun ist Houellebecq jedoch nicht ausgezogen, den Islam als Problem zu
schildern, sondern als Lösung. Der Gipfel menschlichen Glücks, scheint er
vermitteln zu wollen, liege womöglich in einer restlosen Unterwerfung unter
etwas Höheres, im Idealfall unter das Höchste, konkret: den Gott des Islam und
seine Gesetze. Während im Christentum Satan Herr dieser Welt sei, gilt die
Schöpfung der islamischen Schwesterreligion als ein perfektes Meisterwerk – der
Koran sei im Grunde nichts anderes als ein immenses mystisches Loblied auf den
Schöpfer und die Unterwerfung unter seine Vorschriften.
Auch für den Literaturprofessor bieten die Gesetze des
Islam nach der Abreise seiner jüdischen studentischen Freundin gen Israel eine
Problemlösung, für die an der Universität bis zum Jahr 2022 das Machtgefälle
zwischen Professoren und Studentinnen à la „Campus“ von Dietrich Schwanitz sorgte:
die Polygamie im Austausch gegen einen Übertritt zum Islam. Als Kapazität auf
dem Gebiet der Huysmans-Forschung, erfährt er von einem Gönner, habe er auf
circa drei Frauen Anspruch.
Nach anfänglichen Krawallen und bürgerkriegsähnlichen
Zuständen vollzieht sich Frankreichs Unterwerfung unter den Islam in der
Darstellung Houellebecqs übrigens freiwillig und friedlich. Anlässlich einer
Reise nach Brüssel im Zuge von Huysmans-Recherchen – eine Stadt, deren Schmutz
und Tristesse ihn frappieren – gewinnt Francois allerdings den Eindruck, dass
sie mehr als jede andere europäische Hauptstadt am Rande eines Bürgerkriegs
steht.
Humor und Satire
Menschen tun zumeist das, was die anderen machen. Ist ein bestimmter
Schwellenwert erst einmal überschritten, könnte es vielen ganz unvermittelt
unproblematisch scheinen, sich rasch mit neuen Essenssitten, Kleidungssitten
und Bildungssitten arrangieren zu müssen und ein neues Regime anzunehmen, auch
wenn dieses sich in allen Poren des gesellschaftlichen Seins breitmacht.
Plötzlich ist es für viele Menschen ganz selbstverständlich oder bequemer,
halal (von der islamischen Partei zum neuen „Bio“ deklariert) und verschleiert
zu leben statt aufgeklärt. In der Tat muss man die soziologischen Satiren und
den Humor würdigen, den Houellebecq an den Tag legt und seinem Buch
eingeschrieben hat. So findet sich eine Ausführung über eine Autofahrt an einem
Sonntagmorgen. Es seien deshalb nur wenige Leute unterwegs, weil der
Sonntagmorgen der Augenblick ist, in dem die Gesellschaft durchatmet und
herunterfährt, wo ihre Mitglieder sich der kurzen Illusion hingeben, ein
individuelles Leben zu führen. Wie es vielleicht auch jene Person tut, die im
Roman dadurch charakterisiert wird, dass sie die Gastronomie nicht auf die
leichte Schulter nimmt. Humor auch in einer beiläufigen Kritik der immer
kleiner werdenden Gepäckablagen in den Schnellzügen der französischen SNCF, was
die Reisenden nötigt, die Gänge mit ihren Koffern zu blockieren, sodass der
Protagonist zum Zugrestaurant 20 Minuten benötigt, um dort zu erfahren, dass
die meisten Speisen nicht mehr erhältlich sind und er sich mit einem
Quinoa-Basilikum-Salat sowie einem italienischen Mineralwasser zufriedengeben
muss. Anspielungen auch auf das verwaltete Leben, das eine fast permanente
Präsenz zu Hause erfordere, um bei den Anfragen der Behörden auf dem Laufenden
zu bleiben. Insgesamt ist der Westen einfach zu kompliziert.
Humor und Satire im Einzelfall täuschen indes nicht
darüber hinweg, dass wir es hier offenbar mit einem Autor zu tun haben, der
nicht nur von der sinnstiftenden Kraft, sondern auch von der staatstragenden
Funktion des Religiösen überzeugt ist und der vielleicht bereit wäre, die
laizistische Verfassung Frankreichs zu unterminieren, um gewissen Problemen zu
steuern.
Die von Houellebecq unaufdringlich vorgestellte bis nahegelegte
selbstgewählte Unterwerfung unter einen bestandserhaltenden Islam ist unter
aller Würde, da sie Menschen und insbesondere Frauen auf sich vermehrende
Lebewesen mit aufgebrochenem Sinnbedarf reduziert. An einer Stelle des Romans
kommuniziert Houellebecq offenbar mit dem humanistischen Atheisten Sartre,
dessen Existenzialismus jeden Einzelnen zur Freiheit verurteilt sieht und zur
Rechtfertigung seines Daseins auffordert: „Inwiefern bedarf ein Leben der
Rechtfertigung? Die Gesamtheit der Tiere und die überwältigende Mehrheit der
Menschen leben, ohne jemals auch nur das geringste Bedürfnis nach einer
Rechtfertigung zu verspüren.“ Und anlässlich einer gepflegten Unterhaltung wird
dem Protagonisten erläutert, was der Islam mit Nietzsche gemein hat: Er
akzeptiert die Welt wie sie ist. Mit ihm verglichen erscheinen Buddhismus und
Christentum völlig verweichlicht. Spricht hier ein islamisch gefärbter
Sozialdarwinismus zu uns?
Eine ganz andere Lösung skizzierte ausgerechnet der Autor
im Roman: Karl-Joris Huysmans (1848–1907), und zwar in seinem Buch „Gegen den
Strich“. Es ist an uns, davon absehen, Menschen zum oftmals entwürdigenden
Kampf um Sinn und Dasein zu verurteilen, wozu wir den größten Beitrag leisten,
indem wir keine hervorbringen:
„Jetzt schlugen sich die Jungen. Sie entrissen sich
Stücke Brot, die sie sich in die Backen stopften, wobei sie sich die Finger
ableckten. […] das Interesse, das er an dem Kampf nahm, wendete seine Gedanken
von seinem Übel ab; bei der Erbitterung der Bengel dachte er an das grausame
Gesetz vom Kampf ums Dasein, und obgleich diese Jungen nur aus niedrigem Stande
waren, konnte er sich doch nicht erwehren, sich für ihr Los zu interessieren
und zu glauben, dass es besser für sie gewesen wäre, wenn ihre Mütter sie nicht
in die Welt gesetzt hätten.
‚Welcher Wahnsinn,‘ dachte der Herzog,
‚Kinder zu zeugen!‘“
Michel Houellebecq
Soumission
Flammarion 2015
Deutsch:
Unterwerfung
DuMont Buchverlag 2015
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