Erschienen in Ausgabe: No 110 (04/2015) | Letzte Änderung: 13.04.15 |
Sie wollen nur das Beste für die anderen. Sie üben sich in Sanftmut. Sie zwingen nicht, sondern leiten an. Dabei vollenden sie bloss eine moderne Technik der Macht. Die neuen Paternalisten nennen sich Verhaltensökonomen und Sozialarbeiter – und wissen ganz genau, was sie tun.
von Norbert Bolz
Manchmal kann man ein Problem einfach dadurch lösen, dass
man ein Buch liest. Wer unser Problem des allumfassenden Wohlfahrtsstaats lösen
will, sollte «Public Opinion» lesen – ein Buch, das der US-amerikanische
Publizist Walter Lippmann schon vor fast hundert Jahren geschrieben hat.
Lippmann geht davon aus, dass die Welt zu komplex geworden sei, um sie den ganz
normalen Bürgern zu überlassen. Das demokratische Dogma, wonach die Menschen
sich ein Bild von der Welt machen, über ihre Meinungen streiten und dann durch
Abstimmung zu politischen Entscheidungen kommen, funktioniere nicht mehr.
Deshalb brauche die moderne Massendemokratie Experten, die die Welt verstehen
und mit Hilfe der Massenmedien dann die Meinungen der Bürger «kristallisieren».
Im Klartext heisst das: Eine moderne Massendemokratie braucht die Propaganda
der Wissenden und Wohlmeinenden.
Lippmanns wichtigster Leser war Edward Bernays, ein
Werbefachmann und Neffe von Sigmund Freud. Bernays erkannte sofort, dass es
keinen wesentlichen Unterschied zwischen Werbung und Propaganda gibt und dass
man Politik genau so verkaufen kann wie Seife oder Zigaretten. Man kann seine
Überlegungen auf einen Satz reduzieren: Das grosse Geheimnis der modernen
Gesellschaft ist die unsichtbare Lenkung der Massen durch Massenmedien und
Massenpsychologie. Deshalb hatte Bernays genau wie Lippmann einen ganz
positiven Begriff von Propaganda. Erst als Goebbels, ein aufmerksamer Leser von
Bernays, daraus die bekannten Konsequenzen zog, drängte die amerikanische
Regierung darauf, den Begriff Propaganda zu ersetzen. Seither spricht man von
Public Relations.
Die Menschen wissen nicht, was gut für sie ist. Aber, Gott
sei Dank, gibt es Experten und Intellektuelle, die das Gute wissen und ihre
Mitmenschen durch die überkomplexe Welt führen – von der Wiege bis zum Grab.
Das ist das Credo des neuen Paternalismus.
Was sich seit den Tagen von Lippmann und Bernays geändert
hat, ist nur dies: Nicht nur der Staat, sondern auch gut artikulierte
Minderheiten der Gesellschaft betreiben heute die Propaganda des richtigen
Lebens. Mit immer grösserer Aggressivität formiert sich die Lustfeindlichkeit
der Gesundheitsapostel, Feministinnen und Umweltschützer. Unter dem Vorwand der
Suchtprävention und Gesundheitsvorsorge wird eine puritanische Politik der
Lüste betrieben. Unaufhörlich tobt der Kampf gegen das Rauchen, den Alkohol,
Fast Food und Pornographie. Wir sollen langsamer Auto fahren – oder am besten
gar nicht! Wir sollen weniger Fleisch essen, und die grüne Idee eines
Veggie-Day hat gezeigt, dass die Regulierungswut der Politik prinzipiell keine
Grenzen mehr kennt. Selbst das Essen ist zum Politikum geworden. Immerhin ist
es ein Hoffnungszeichen, dass dieses vegetarische Glückszwangsangebot dann doch
noch auf Widerstand gestossen ist. Ganz allgemein gilt aber schon heute: Ein
Netz präziser, kleiner Vorschriften liegt über der Existenz jedes einzelnen und
macht ihn auch in den einfachsten Angelegenheiten des Lebens abhängig vom umsorgenden
Sozialstaat.
Der alte und der neue
Paternalismus
Doch wie konnte es dazu kommen? Der patriarchale
Wohlfahrtsstaat des aufgeklärten Absolutismus im 18. Jahrhundert wollte für
seine Untertanen soziale Gerechtigkeit und ging in deren Namen über das Recht
hinweg. Schon damals war die Fürsorge für die Untertanen dem Staat wichtiger
als die persönliche Freiheit der Menschen.Die Bürger des frühen 19. Jahrhunderts haben
sich dann gegen diese Bevormundung durch Wohlfahrtspolitik doch noch gewehrt.
Ihre Argumente hat Wilhelm von Humboldt 1792 in seinem grossartigen Werk «Ideen
zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen»
entwickelt. Sein Fazit lautet: «Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den
positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer
Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist.»
Das ist Klartext.
Von diesem Geist der Freiheit ist heute allerdings nichts
mehr zu spüren. Das paternalistische Staatshandeln im frei unterstellten Interesse
der Bürger ignoriert ganz einfach das Interesse der Bürger. Das hat Max
Stirner, einer der grossen Freidenker des 19. Jahrhunderts, schon sehr deutlich
gesehen: «Die verteilende Billigkeitsbehörde lässt mir nur zukommen, was ihr
der Billigkeitssinn, ihre liebevolle Sorge für alle, vorschreibt.» Dieser Satz
trifft auch heute noch den Kern des Problems. Jeder Paternalismus behandelt
Menschen als Material. Das gilt gerade auch für die wohlmeinenden Reformer. Sie
organisieren die Belohnungen und Strafen zu einer Sozialtechnik der subtilen
Anleitung zu einem besseren Leben. Das Erfolgsprodukt dieser Sozialtechnik ist
der Gutmensch.
Wie sieht nun die offizielle Rechtfertigung dieser
Sozialtechnik aus? Der vorsorgende Sozialstaat entzieht seinen Bürgern
Freiheiten, um sie zu besseren Menschen zu machen und vor sich selbst zu
schützen. Der neue Paternalismus erscheint also denen gerechtfertigt, die
glauben, dass man die Leute vor der eigenen Willensschwäche schützen muss. Die Neopaternalisten
glauben, dass individuelle Freiheit für die Gesellschaft und für den einzelnen
selbst unzuträglich ist und durch eine beschränkte Wahlfreiheit für
Inkompetente ersetzt werden muss. Dieser Gedanke hat neuerdings einen netten
Namen bekommen: «Nudge». Das ist der Titel eines Buches von Richard H. Thaler
und Cass R. Sunstein. Die deutsche Übersetzung hat diesen Titel unübersetzt
beibehalten, aber gemeint ist eben: der Schubser in die richtige Richtung des
aufgeklärten Verhaltens. Im Klartext geht es um eine Art Sozialvormundschaft im
Namen der Mündigkeit.
Thaler und Sunstein lehrten zusammen an der University of
Chicago und propagieren in ihrem Werk einen «libertären Paternalismus». Die
Paradoxie dieser Formel muss man sich auf der Zunge zergehen lassen! Das
Adjektiv libertär soll das Erschrecken über einen selbstbewusst auftrumpfenden
Paternalismus mildern. Angeblich bleibt immer gewährleistet, dass die Menschen
ihren eigenen Weg gehen können – auch gegen den Rat der vorsorgenden und
fürsorglichen Väter. Doch die Ausgangsüberlegung des «Neopaternalismus» ist
eben die Überzeugung, dass die meisten Menschen nicht wissen, was gut für sie
ist. Und Leute, die nicht wissen, was gut für sie ist, brauchen kompetente
Menschen, die ihre Entscheidungen wohltätig beeinflussen.
Das Argument
Das paternalistische Patentrezept des «Nudge» ist rasch
erklärt. Das Argument hat folgende Struktur: Bei den Grundfragen von
Gesundheit, Bildung und Altersvorsorge brauchen die Bürger nicht eine Fülle von
Wahlmöglichkeiten, sondern ein benutzerfreundliches Design, das ihnen
Orientierung bietet und Wege vorgibt.Je komplexer die gesellschaftliche Lage ist,
desto wichtiger wird ein Sozialdesign, das die Bürger und Kunden in die
richtige Richtung schubst. Der Paternalismus schützt mich vor meiner eigenen Willensschwäche
und Irrationalität. Andere tun für mich, was ich selbst tun würde, wenn ich bei
klarem Verstand wäre.
Die modernen Paternalisten gehen also davon aus, dass einige
den legitimen Anspruch haben, das Verhalten anderer Leute so zu beeinflussen,
dass diese länger, gesünder und besser leben. Konkret sieht das so aus, dass
ein allgemeiner Konsens mit dem politisch korrekten Verhalten unterstellt wird
und jedes abweichende Verhalten ausdrücklich deklariert werden muss: Ich will
nicht teilnehmen am vernünftigen Leben der Guten.
Das Problem des «Nudge» haben amerikanische
Organisationssoziologen bisher unter so kalten Begriffen wie «Propaganda» oder
so unübersetzbaren Begriffen wie «Social Engineering» diskutiert. Dabei geht es
um die Frage, wie man die Lebensführung von Menschen «zum Guten» verändern
kann. Wie kann man Männer dazu bringen, «fürsorglich» zu werden? Wie kann man
gebildete Frauen dazu bringen, Kinder zu bekommen? Wie kann man Menschen dazu
bringen, im Falle ihres Todes ihre Organe zu spenden? Die Antwort auf diese
Fragen ist – scheinbar – ganz einfach. Die Politik der Lüste funktioniert über
Veränderungen der Standardeinstellungen. Um bei dem letzten Beispiel zu
bleiben: Bisher musstest du deklarieren, dass du bereit bist, im Falle deines
Todes Organe zu spenden. In Zukunft musst du ausdrücklich erklären, dass du
gegen eine Organspende bist. Der alles sehende und alles besorgende Staat
entfaltet so eine sanfte Tyrannei des Wohlmeinens. Totale Wohlfahrt schliesst
heute nämlich eine Überwachung des Verhaltens der Bürger ein. Der Staat greift auf den ganzen Menschen zu, auf Leib und
Seele. So wird die staatliche Daseinsfürsorge präventiv. Geholfen wird auch
denen, die gar nicht hilfsbedürftig sind. Geholfen wird allen. Politik
pervertiert zum Glückanleitungsangebot.
Leider tun sich hier vor allem die Deutschen hervor – andere
Mitteleuropäer, Schweiz inklusive, tun es ihnen gleich. Sie alle sind nicht nur
die Weltmeister im Guten, sondern auch die Avantgarde der Angst. Wie die
spektakuläre «Energiewende» gezeigt hat, sind sie auf dem Rückweg vom Risiko
zum Tabu, das heisst von einem rationalen zu einem magischen Verhalten. Das
zeigt sich sehr deutlich am Vorsorgeprinzip, dem sogenannten Precautionary
Principle. Es geht hier um die Gefahr der noch unerkannten Gefahr. Das
Vorsorgeprinzip will sicherstellen, dass nur dann etwas Neues in die Welt
kommt, wenn bewiesen werden kann, dass es keine «Risiken und Nebenwirkungen»
hat. Damit rechtfertigt eine Politik der Angst den neuen Paternalismus.
Unterstützt wird sie dabei von einer medialen Angstindustrie, die in Fernsehen
und Nachrichtenmagazinen die Apokalypse als Ware verkauft.
Fassen wir noch einmal zusammen: Der Paternalismus des
vorsorgenden Sozialstaates hält «Nudge», die Politik der Lüste, für
gerechtfertigt, weil die Menschen vor der eigenen Willensschwäche geschützt
werden müssen. Bestimmte Menschen sind dann autorisiert, in unserem Namen zu
handeln und zu tun, was wir selbst tun würden, wenn wir rational denken und
entscheiden könnten. Der paternalistische Staat, der ja nichts von uns als
Personen wissen kann, versorgt uns dann mit den Dingen, die wir «vermutlich»
wünschen – ganz unabhängig davon, was wir uns wirklich wünschen. Der neue Paternalismus
behandelt die Bürger als Kinder, Patienten oder Heiminsassen und verwandelt sie
allmählich in fröhliche Roboter und glückliche Sklaven. An die Stelle von
Freiheit und Verantwortung treten Gleichheit und Fürsorge. Dieser demokratische
Despotismus ist die Herrschaft der Betreuer, eine gewaltige, bevormundende
Macht, die das Leben der vielen überwacht, sichert und komfortabel gestaltet.
Alle sind gleich
hilflos
Wir können deshalb den vorsorgenden Sozialstaat als
Hoheitsverwaltung der Hilflosen definieren. Die Welt der Wohlfahrt zerfällt in
Betreute und Betreuer. Dabei entwickelt sich auf beiden Seiten eine unheilvolle
Eigendynamik. Die Betreuer, Verhaltensökonomen und Sozialarbeiter haben ein
Interesse an der Hilflosigkeit ihrer Klientel. Und auf der anderen Seite sind
diejenigen, die es gelernt haben, sich hilflos zu fühlen, nur noch mit «Gesellschaftskritik»
beschäftigt. Diese dürfen sie dann in Talkshows vortragen. Die
Entmündigungspolitik, die ihre Wähler durch Sozialtransfers ködert, kann
nämlich nur durch die sentimentale Begleitmusik der Massenmedien die nötige
Gefühlsstütze bekommen. Goethe hat einmal über die «Lazarettpoesie» gespottet –
heute wird sie vom Fernsehen verbreitet.
Leistungsfähig ist die Politik nur dann, wenn sie sich nicht
als Steuerungszentrum der Gesellschaft missversteht. Der starke Staat ist
gerade nicht der universale Problemlöser. Er darf gerade nicht die
Gesamtverantwortung für die Gesellschaft übernehmen wollen, denn damit würde er
sich übernehmen. Das bedeutet umgekehrt aber auch, dass die Erwartungen, die
die Menschen an die Politik richten, nur erfüllt werden können, wenn sie nicht
erwarten, dass die Politik die führende Rolle in der Gesellschaft übernimmt.
Ein starker Staat setzt also die Reduktion von Politik auf ihre eigentliche Funktion
voraus. Im Gegensatz zum Betreuungs- und Versorgungssozialismus des
Wohlfahrtsstaates, der sich nicht mehr mit dem Gemeinwohl begnügt, sondern
vorsorgend das Glück seiner Bürger garantieren möchte, weiss der starke Staat,
dass er zum guten Leben des einzelnen nichts Wesentliches beitragen kann.
Man kann den Sozialstaat also nur stärken, indem man ihn
begrenzt. Sobald der Sozialstaat aber den Rechtsstaat überformt, verwandelt er
sich in einen allumfassenden Wohlfahrtsstaat. Er schwächt den einzelnen, indem
er ihn durch wohlmeinende Betreuung entmündigt und seine Lebensführung
übernimmt. Meine Kritik des totalen Wohlfahrtsstaats zielt also auf die
Betreutenmentalität, die erlernte Hilflosigkeit. Dass einige zu wissen meinen,
was das Beste für die anderen wäre, ist die aktuellste Bedrohung der Freiheit –
die als Wohltat getarnte Tyrannei. Um das zu sehen, muss man kein Philosoph
sein; gesunder Menschenverstand und eine liberale Gesinnung genügen. Und sie
sagen uns: Wenn jeder seines Glückes Schmied sein darf, muss er auch seines
Unglücks Schmied sein können. Man darf niemanden zu einem bestimmten Verhalten
zwingen, nur weil es angeblich besser für ihn wäre – zum Beispiel nicht rauchen
oder Diät halten. Letztlich profitieren wir nämlich alle mehr davon, dass wir
es ertragen, dass die anderen leben, wie es ihnen gefällt, statt dass wir sie
zwingen, so zu leben, wie wir es für richtig halten.
Mut zur
Bürgerlichkeit
Allerdings ist es heute nicht mehr selbstverständlich, dass
es Menschen gibt, die leben, wie sie es für richtig halten. Das ist keine Frage
der Intelligenz oder des Geldes, sondern des Muts. Denn die Propaganda des
neuen Paternalismus stempelt jeden zum Aussenseiter, der die
wohlfahrtsstaatlichen Glückszwangsangebote ablehnt. Diesen sozialen Druck
ertragen die wenigsten. Vor allem die Linksintellektuellen erweisen sich hier
als besonders konformistisch – und beweisen damit, dass der Sozialismus immer
schon der Götzendienst des Staates war. Menschen aber, die nicht zu Haustieren
des totalen Wohlfahrtsstaates werden wollen, brauchen den Mut zur
Bürgerlichkeit.
Dieser Essay ist zuerst im liberalen Autoren- und
Debattenmagazin Schweizer Monat erschienen. www.schweizermonat.ch
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