Erschienen in Ausgabe: No 110 (04/2015) | Letzte Änderung: 15.03.16 |
von Eckart Löhr
Nun ist aber Mechanismus allein bei weitem nicht das, was
die Natur ausmacht. Denn sobald wir ins Gebiet der organischen Natur
übertreten, hört für uns alle mechanische Verknüpfung von Ursache und Wirkung auf.
Jedes organische Produkt besteht für sich selbst,
sein Daseyn ist von keinem andern Daseyn abhängig.
(Friedrich Wilhelm Josef Schelling)
Der Ursprung des Lebens, oder besser, die Entstehung erster replikationsfähiger
Organismen, liegt immer noch weitestgehend im Dunkeln. Ausgehend von den
ältesten Fossilien, den sogenannten Stromatolithen (durch Mikroorganismen
gebildete Sedimentgesteine), lassen sich erste Lebensformen vor circa 3,6
Milliarden Jahren nachweisen. Man geht allerdings davon aus, dass die
Entstehung der ersten einzelligen Organismen sehr viel weiter zurückliegt.
Möglicherweise bildeten sich die ersten Prokaryonten bereits vor circa 3,9 bzw.
4,2 Milliarden Jahren. Dass lebendige Organismen somit relativ schnell
entstanden, sobald es die Bedingungen auf der circa 4,6 Milliarden Jahre alten
Erde ermöglichten, kann kaum Zufall gewesen sein und ist somit ein starkes
Indiz für die Zwangsläufigkeit der Entstehung des Lebens. Die moderne Biologie
kennt somit in etwa den zeitlichen Beginn des Lebens im Sinne der Definition
replikationsfähiger Organismen, wie sich diese Organismen aber gebildet haben,
darüber weiß sie so gut wie nichts. Lockert man noch dazu die Definition
dessen, was unter Leben zu verstehen ist (wie das hier noch geschehen wird), so
verliert sich auch der Beginn des Lebens im Dunkel der Geschichte. Somit ist
sowohl eine klare zeitliche Eingrenzung als auch eine Erklärung der zu
lebendigen Strukturen führenden Prozesse nicht möglich. Das wiederum hat seine
Ursache in der völligen Unkenntnis des ontologischen Status von Leben bzw. Lebendigkeit.
Was Leben seinem Wesen nach ist, wird
auch dieses Essay nicht klären und so kann es nur darum gehen zu versuchen,
etwas Licht in den äußerst schwierigen Themenkomplex zu bringen.
Das Problem der Spontanzeugung
Von der Antike bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ging man davon aus, dass
Leben auch ohne Fortpflanzung spontan entstehen kann. Dieser Spontanzeugung oder auch
(missverständlich) Urzeugung genannte
Prozess wurde vielfach beschrieben und bereits in babylonischen
Keilschrifttexten finden sich dazu erste Hinweise. Man glaubte, Leben könne aus
faulender Erde entstehen oder beispielsweise Mäuse aus Getreide und dreckigen
Lumpen. Aus heutiger Sicht mag das etwas seltsam anmuten, doch darf man nicht
vergessen, dass das Mikroskop erst Ende des 17. Jahrhunderts erfunden wurde.
Die Menschen beschrieben lediglich, was sie täglich sahen und das war nun mal
die Tatsache, dass unter speziellen Bedingungen Leben entstand. Es war nicht
zuletzt auch eine Autorität wie Aristoteles, der ganz klar zwischen sexueller
Fortpflanzung und Urzeugung unterschied und damit den Glauben an eine spontane
Entstehung des Lebens für viele Jahrhunderte unangreifbar gemacht hat.
Allerdings war das aristotelische Verständnis der Urzeugung noch ein anderes,
da der griechische Philosoph und Schüler Platons noch nicht klar zwischen
organischer und anorganischer Materie unterschied, wie wir das heute tun.
Mit der fortwährenden technischen Verbesserung der Mikroskope im 18.
Jahrhundert, begann man allerdings zunehmend an der Theorie der Generatio spontanea zu zweifeln. William Harvey, der Entdecker des Blutkreislaufs, prägte in
seiner 1651 veröffentlichten ArbeitExercitationes
de generatione animalium(Schriften zur Entwicklung der Tiere) das Schlagwort
„ex ovo omnia“ („Alles Leben aus dem Ei“). Einige Jahre später beobachtete der
italienische Arzt Francesco Redi die eigenständige Entwicklung parasitischer
Würmer und Insekten und bewies die Entstehung von Fliegenmaden aus Eiern. Damit
war der Theorie der Spontanzeugung bereits ein schwerer Schlag versetzt. Es war
schließlich der französische Chemiker und Mitbegründer der Mikrobiologe Louis
Pasteur, der diese Theorie, an die bis dahin ohnehin kaum mehr jemand glaubte,
endgültig begrub. Seine Experimente zeigten zweifelsfrei, dass sich kein Leben
bildet, wenn man die betreffende Substanz, in seinem Fall Milch bzw.
Zuckerwasser, vorher kochte und damit sterilisierte. Seitdem weiß man zwar, dass die spontane und jederzeit mögliche
Erzeugung von lebenden Organismen aus Unbelebtem, auch Abiogenese genannt, nicht möglich ist, aber die Frage der
wirklichen Urzeugung, das heißt der erstmaligen
Entstehung des Lebens, war damit nicht berührt. Diese Frage beschäftigt die
Wissenschaft im Rahmen der chemischen Evolution bis heute, ohne dass sie
allerdings behaupten könnte, das Rätsel gelöst zu haben.
Mechanismus und Emergenz
Bis zur Zeit der Renaissance glaubten die Menschen an ein beseeltes und
lebendiges Universum und das Problem bestand eher darin, innerhalb dieses
Weltbildes den Tod zu verstehen. Mit Beginn des naturwissenschaftlichen und
damit mechanistischen Denkens begann die Problematik sich umzukehren. Jetzt
ging man von einem toten Universum aus, bestehend aus Materie, die sich
lediglich durch Druck und Stoß immer neu konfiguriert. Von René Descartes`
Maschinentheorie des Lebendigen über La Mettries L´homme machine (von 1748) bis zu heutigen Vertretern der
synthetischen Biologie zieht sich der rote Faden dieses Denkens. Der Physiker
Hermann von Helmholtz fasste 1869 in seiner Rede Über das Ziel und die Fortschritte der Naturwissenschaft, gehalten
für die Naturforscherversammlung zu Innsbruck, das Programm der Wissenschaften
exemplarisch zusammen:
„Ist aber Bewegung die Urveränderung, welche allen anderen Bewegungen in der
Welt zu Grunde liegt, so sind alle elementaren Kräfte Bewegungskräfte, und das
Endziel der Naturwissenschaften ist, die allen anderen Veränderungen zugrunde
liegenden Bewegungen und deren Triebkräfte zu finden, also sich in Mechanik
aufzulösen.“ (Hermann von Helmholtz, 1896: Über das Ziel und die Fortschritte
der Naturwissenschaft. Eröffnungsrede für die Naturforscherversammlung zu
Innsbruck 1869. In: Hermann von Helmholtz: Vorträge und Reden. 4. Aufl.
Braunschweig: Vieweg, S. 369–398.)
Obwohl sich mit der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik durch Niels Bohr
und Werner Heisenberg im Jahre 1927 das Verständnis der Materie grundlegend
geändert hat und wohl nur noch wenige Wissenschaftler an das von Helmholtz
beschriebene „Endziel der Naturwissenschaften“ glauben, können sich viele noch
immer nicht vom mechanistischen Denken lösen und versuchen, aus vermeintlich
toter, inerter Materie nach den Gesetzen der Physik und Chemie das Leben
hervorgehen zu lassen.
Da die spontane Entstehung von Leben aus „Unbelebtem“ seit
Pasteur vom Tisch war, geht man jetzt, was die erste Entstehung des Lebens
anbelangt, genau wie bei der Theorie der Spontanzeugung, zwar ebenfalls von
einer abiotischen Genese des Lebens aus, verändert aber den zeitlichen Rahmen, in
dem diese Vorgänge sich abgespielt haben sollen. Grob gesagt wird die
Entstehung lebendiger Organismen heute in vier Stufen (Vgl.: Neil A.
Campbell/Jane B. Reece, 2009: Biologie. 8. Auflage. München: Pearson, S. 680
ff.) unterteilt, von denen jede sich
in Jahrmillionen dauernden Zeitspannen vollzogen haben soll.
Am Beginn steht demnach die abiotische Synthese organischer Moleküle. Als 1953
der Student Stanley Miller zusammen mit dem Chemiker Harold Urey in einem
vergleichsweise einfachen Experiment zeigte, dass sich bereits in der
Uratmosphäre der Erde durch elektrische Entladungen (Blitze) spontan organische
Substanzen, wie zum Beispiel Aminosäuren, bilden konnten, war das Wasser auf
die mechanistischen Mühlen. Man übersah dabei, dass die Entstehung organischer
Substanzen das Eine, die Entstehung von Leben (nach heutiger Definition) aus
diesen Substanzen das gänzlich Andere
ist. Darüber hinaus ist noch nicht hinreichend klar, ob die damalige Atmosphäre
der Erde über genug Methan bzw. Ammoniak (wie in Millers Versuch) verfügte, um
die Bildung organischer Moleküle zu ermöglichen. Denn sehr wahrscheinlich
bestand sie in erster Linie aus Kohlendioxid und Stickstoff. Wie auch immer,
Millers und viele andere, ähnliche Versuche haben gezeigt, dass die abiotische Synthese organischer Moleküle
grundsätzlich möglich ist.
Im nächsten Schritt haben sich diese Moleküle zu Makromolekülen, wie Proteine
und Nukleinsäuren, zusammengeschlossen. Anschließend legten sich diese Moleküle
eine schützende Membran zu, die sie von der Umgebung bis zu einem gewissen
Grade abtrennt, um in diesem geschützten Innenraum spezielle chemische Prozesse
auf höherem energetischem Niveau (geringerer Entropie) ablaufen lassen zu
können. Zuletzt dann die Entstehung selbstreplizierender Moleküle, mit der
Fähigkeit der Vererbung. Geht man von dieser graduellen Entwicklung aus, sieht
man bereits sehr gut, wo das Problem liegt. Nirgendwo lässt sich eine sichere
Grenze ziehen, nach dem Motto: Gerade war diese Struktur noch tot und plötzlich
ist sie lebendig. Die moderne, mechanistisch orientierte Biologie, die versucht
Lebendiges aus vermeintlich Unlebendigem hervorgehen zu lassen, hat somit
naturgemäß das Problem, die einzelnen Übergänge zu beschreiben (was ihr nicht
gelingt), anstatt sich endlich der Erkenntnis zu öffnen, dass es wahrhaft
Unlebendiges in dieser Welt nicht gibt.
Hält man aber am Glauben an ein totes Universums fest und
soll nun erklären, wie in diesem Universum das Leben auftauchte, ist die
einzige Antwort, die der Biologie seitdem noch bleibt, das Allheilmittel Emergenz. Das Wort Emergenz leitet sich
vom lateinischen Verb emergo (emporkommen) ab und kann in seiner
transitiven Form etwa mit auftauchen
lassen übersetzt werden. Dahinter steht der Glaube, dass materielle
Strukturen ab einem gewissen Grad von Komplexität spezielle Systemeigenschaften
entwickeln. Leben wäre demnach – übrigens genau wie der Geist – eine
Systemeigenschaft hochkomplexer organischer Strukturen. Der österreichische
Verhaltensforscher Konrad Lorenz nannte dieses Phänomen, „daß immer wieder
etwas völlig Neues in Existenz tritt, etwas das vorher einfach nicht da war“, Fulguration (Konrad
Lorenz, 1973: Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte
menschlichen Erkennens. 2. Aufl. München: Piper. S. 47).Das Leben sollte
demnach wie ein Blitz (lat. fulgur) in die Materie eingeschlagen sein.
Natürlich ist die Einführung dieses Begriffes keine Erklärung, sondern eher
eine wissenschaftliche Bankrotterklärung, „mit dem Evolutionsprogramm
inkompatibel; er hat dort den Rang einer puren Ad-hoc-Hypothese; er stellt eine
spezial-kreationistische Theorie ohne Gott dar.“ (Robert Spaemann; Reinhard
Löw, 2005: Natürliche Ziele. Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen
Denkens. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 225).
Leben aus dem Labor?
Wenn man, wie das hier der Fall ist, die These aufstellt, Lebendigkeit wäre
eine integrale Eigenschaft von Materie, sollte es eigentlich möglich sein,
Leben auch im Labor erzeugen zu können. Das aber ist bis heute nicht gelungen
und hat zuallererst mit der Tatsache zu tun, dass bereits Materie immer schon
zwei Seiten hat. Eine Innen- und eine Außenseite, oder anders formuliert, eine
qualitative und eine quantitative. Die Außenseite ist der physikalischen,
quantenphysikalischen oder auch chemischen bzw. biochemischen Beschreibung
zugänglich. Die Innenseite ist es nicht. Wir wissen deshalb nicht, was Leben
eigentlich ist, weil sich die Innenseite, das heißt die subjektive Seite
materieller Strukturen, quantitativ nicht erfassen lässt. Wenn wir versuchen,
Leben zu erschaffen, so können wir das nur vor dem Hintergrund unseres Wissens
quantifizierbarer Eigenschaften der Materie. Wir könnten im besten Fall
vielleicht irgendwann aus einer Vielzahl von Elementen nach mechanistischen
Gesetzen ein „einfaches“ Bakterium nachbauen; aber dieses Artefakt wird niemals lebendig sein, da wir keinerlei Kontrolle
über die qualitative Seite der betreffenden Funktionselemente haben.
Die Entstehung sichtbarer lebendiger Strukturen spielte sich im Laufe vieler
Jahrmillionen ab. Die Strukturbildung (Morphogenese) vollzog sich dabei nach
chemischen und physikalischen Gesetzen. Diese Gesetze sind aber nur die
wissenschaftlich beschreibbare Außenseite eines inneren Bereichs, der sich
nicht zuletzt bereits durch subjektive und autonom vollzogene Prozesse
auszeichnet. Der Biochemiker und Nobelpreisträger Christian de Duve schreibt in
seinem Buch Aus Staub geboren, [d]ass
Leben in allen seinen Facetten von Molekülen abhängig [ist], die einander
‚erkennen‘“ (Christian de Duve, 1995: Aus Staub geboren. Leben als kosmische
Zwangsläufigkeit. Heidelberg, Berlin, Oxford: Spektrum Akademischer Verlag. S.
139). Gerade über dieses „Erkennen“ aber wissen wir nichts und werden niemals
etwas davon wissen. Da wir nicht in der Lage sind, auch diese subjektive,
innere Seite von Organismen zu verstehen und wissenschaftlich zu beschreiben,
werden wir auch nicht in der Lage sein, Leben künstlich zu erzeugen. Gerhard
Vollmer, studierter Physiker und Philosoph, bringt die ganze Problematik auf
den Punkt, wenn er schreibt, dass „[e]rste
Lebewesen offenbar nicht aus belebten Systemen entstehen (da sie sonst
nicht die ersten Lebewesen wären), sondern nur aus unbelebten. Und bei
unbelebten Systemen können biologische Gesetze naturgemäß noch gar nicht
greifen. Die Entstehung des Lebens kann also, wenn überhaupt, nur durch Physik
und Chemie erklärt werden.“ (Gerhard Vollmer, 2010: Biophilosophie. Stuttgart:
Reclam, S. 42). Eine rein mechanistisch gedachte Physik und Chemie soll demnach
die Entstehung lebendiger Organismen mit eigenen biologischen Gesetzen
begründen, die aber ihrerseits nicht auf Physik und Chemie reduziert werden
können. Letztlich bliebe auch hier nur die Wunderwaffe Emergenz als letzter
Erklärungsversuch übrig.
Die künstliche Schaffung von wie auch immer gearteten Lebensformen scheitert
aber nicht nur an der völligen Unmöglichkeit, eine spezifische Innenwelt zu
konstruieren, sondern ebenso am Fehlen einer für die Entwicklung des Organismus
unverzichtbaren Außenwelt. Die Morphogenese lebender Organismen ist eine, sich
über gewaltige Zeiträume erstreckende Auseinandersetzung mit der jeweiligen
Umwelt, auf die das Leben zum einen reagiert, und die zum anderen von dem
betreffenden Organismus aktiv mitgestaltet wird. Dabei handelt es sich um eine
korrelative Strukturveränderung, die Maturana und Varela als strukturelle Koppelung bezeichnet haben
(Humberto R. Maturana; Francisco J. Varela, 1987: Der Baum der Erkenntnis. Wie
wir die Welt durch unsere Wahrnehmung erschaffen - die biologischen Wurzeln des
menschlichen Erkennens. Bern, München, Wien: Scherz. S. 85). Da es naturgemäß
unmöglich ist, unter Laborverhältnissen diese wechselseitige Genese und
Modifikation struktureller Eigenschaften zu imitieren, die wiederum Einfluss
auf die Innenseite sowohl des Organismus als auch des spezifischen Milieus
haben, in dem sich der Organismus bewegt, ist jeder Versuch der Schaffung
lebender Strukturen auch aus dieser Perspektive von vornherein zum Scheitern
verurteilt.
Modifikation der Definition von Leben
Was bleibt also noch, wenn beide Erklärungsversuche, sowohl die spontane
Entstehung als auch die langsame, graduelle Entwicklung des Lebens aus
unbelebter Materie, scheitern? Möglicherweise liegt die Lösung des Problems
darin, die ontologischen Voraussetzungen zu verändern. Das beinhaltet zwei
Punkte: Zum einen muss die Definition von Leben, die ohnehin nicht klar ist,
weiter gefasst, oder besser ausgedrückt, nach unten hin erweitert werden. Zum
anderen muss die Biologie endlich die Tatsache anerkennen, dass Leben nur aus
Lebendigem hervorgehen kann. Versucht man das Leben aus toter Materie
aufzubauen, landet man am Ende bei einer hochkomplexen Maschine, aber eben
nicht bei einem lebendigen Organismus, so „daß der mechanische Weg der Biologie
zwangsläufig vom Leben fort statt zu ihm hin führt; darin liegt der Urwiderspruch und eine Tragödie dieser Wissenschaft.“
(Viktor von Weizsäcker, 1963): Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.
Grundfragen der Naturphilosophie. 6. Aufl. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
S. 67).
Die bisherige Definition von Leben umfasst in der Regel drei Eigenschaften,
nämlich Stoffwechsel, Reproduktion und Mutabilität (Die Eigenschaft von Genen mittels
Mutationen veränderbar zu sein) und ließe sich noch um die Punkte autonome
Morphogenese und Teleonomie erweitern.
[Teleonomie ist ein äußerst schwieriger Begriff, eingeführt um sich innerhalb
der Biologie von dem in vielerlei Hinsicht vorbelasteten Begriff Teleologie
abzugrenzen. Der Philosoph Andreas Bartels versteht hierunter „evolutionsbiologisch
reinterpretierte, nur scheinbar teleologische, Funktionen und Verhaltensweisen“
(Andreas Bartels, 1996: Grundprobleme der modernen Naturphilosophie. Paderborn:
Schöningh / UTB. S. 154). Für Ernst Mayr scheint es sinnvoll, „den Ausdruck
,teleonomisch“ strikt auf solche Systeme zu beschränken, die auf der Grundlage
eines Programms, eines Informationscodes, ablaufen.“ (E. Mayr, 1991: Eine neue
Philosophie der Biologie. S. 60/61)]. Das ist aber lediglich eine Beschreibung
von Eigenschaften des Lebens, wie wir es in Form von tierischen oder
pflanzlichen Organismen wahrnehmen. Ob beispielsweise ein Virus tot oder
lebendig ist, erweist sich somit als eine Frage der Definition. Fügen wir der
Definition von Leben noch die Eigenschaft Reizbarkeit (als Fähigkeit mit der Umwelt zu
interagieren) hinzu, verschwimmt die Grenze zum Unbelebten immer mehr, denn
das Virus verfügt sowohl über Reizbarkeit, Teleonomie als auch Erbinformation
(als Bedingung der Selbstreplikation).
Es besitzt lediglich keinen eigenen Stoffwechsel und ist, um sich reproduzieren
zu können, auf das Material, bzw. die Mechanismen einer fremden Zelle
angewiesen. Ein bereits so komplex gebautes Gebilde wie das Virus, das noch
dazu eine geniale Strategie entwickelt hat, sich zu vermehren (jeder der einmal
unter einer Influenza litt weiß, wie genial diese Strategie ist), als tot zu
bezeichnen, bedarf demnach einer sehr begrenzten Auffassung von Leben.
Die Ubiquität des Lebens
Wenn aber, wie hier behauptet, ein Virus lebendig ist, wo lässt sich dann die
Grenze zum Unbelebten ziehen? Die Antwort ist: Gar nicht! Das Leben ist sowohl
morphologisch als auch seinen ontologischen Status betreffend ins Unendliche
strukturiert. Leben ist nichts, was plötzlich ab einem bestimmten Grad von
Komplexität auftritt, sondern es ist schon immer da. Somit zeigt diese
Ubiquität des Lebens, dass die Frage danach, wie Leben entsteht letztlich eine
Scheinfrage ist. Allerdings ist es nicht so, dass man sich ein einzelnes
Teilchen, bzw. – quantenphysikalisch gesprochen – eine Welle, als lebendig
vorstellen muss. Leben ist immer ein ganzheitliches Phänomen, aber nicht in dem
Sinne, dass es erst ab einem gewissen Grad von Komplexität entsteht. Es ist ein
ganzheitliches Phänomen, da die Materie selbst ganzheitlich (Arthur Koestler
prägte dafür den Begriff holarchisch) strukturiert ist. Es gibt keine homogenen, isolierten Teile, denn
jedes scheinbar Ganze (Holon) ist wieder nur ein Teil (Subholon) eines weiteren
Holons und so weiter, ad infinitum. Das, was wir als lebendig bezeichnen, wird
von uns aber erst ab einem gewissen Punkt erfahrbar. Diesen Punkt des
vermeintlichen Umschlags von scheinbar Leblosem in Lebendiges wird mit dem
Begriff Emergenz bezeichnet. Leben ist aber nichts, was plötzlich in – oder
besser unter Zuhilfenahme von – organischen Strukturen entsteht, sondern das
vermeintliche Emergieren von Leben ist eben lediglich der Moment, in dem Leben
für uns sichtbar wird, weil „trotz der in die Augen fallenden Ganzheit
lebendiger Organismen eine scharfe Unterscheidung zwischen belebter und
unbelebter Materie wahrscheinlich nicht gemacht werden [kann].“ (Werner
Heisenberg, 2000: Physik und Philosophie. 6. Aufl. Stuttgart: Hirzel. S. 216).
Materie, auch auf primordialer Ebene, ist bereits Bewegung, ist Energie und
darüber hinaus ist sie kreativ, schöpferisch und damit lebendig. Die Fähigkeit,
aus dem ursprünglichen Element Wasserstoff all das hervorzubringen, was heute
existiert ist ein Akt des Lebens, genauso wie die Erzeugung der schwereren
Elemente durch Fusionsprozesse innerhalb der Sterne. Die Entstehung organischen
Lebens ist nur ein weiterer Schritt auf dem Weg, den das Leben seit circa 13,7
Milliarden Jahren, seit der Entstehung des Universums, macht. Der sogenannte
Big Bang war somit weniger eine große Explosion als vielmehr eine Geburt. Da
Geburt immer bereits etwas Lebendiges voraussetzt, aus dem etwas geboren werden
kann, ist der tiefste Grund der Existenz unserer und aller anderen Welten das
Leben selbst. Der Ursprung dieses Universums, das ist sicher, ist kein
physikalisch, quantenphysikalisch oder überhaupt naturwissenschaftlich
beschreibbarer Zustand, sondern zuallererst Lebendigkeit in seiner
fundamentalsten Form. Wenn das Wort vom Ewigen Leben einen Sinn hat, dann hier, am Beginn dieser
Welt.
Leben ist also nicht nur ein integraler Bestandteil dieses Universums, sondern
mehr noch ist das Universum selbst, mit allem, was wir darin vorfinden,
Ausdruck des Lebens schlechthin. „Denn wenn es überhaupt Lebendiges in der Welt
gibt, […] dann muß sie als solche auch lebendig sein. Wäre die Welt als Ganzes
tot, könnte Lebendiges in ihr auch als Glied nicht bestehen.“ (Weg zur Synthese
der Naturwissenschaften. In: Adolf Meyer-Abich, 1949 (Hg.): Physis. Beiträge
zur naturwissenschaftlichen Synthese. Band 2/3. Stuttgart: Hippokrates-Verlag
Marquardt & Cie., S. 82–105. S. 98).
Uns dieser Erkenntnis der Lebendigkeit des Universums zu öffnen ist dringend
nötig, um endlich den ganzheitlichen Charakter des Lebens mit allen daraus
resultierenden Folgen zu begreifen. Es wäre zudem ein erster und wichtiger
Schritt, um dieser Welt endlich unabhängig von uns eigene Würde und eigenen
Wert zuzugestehen und sie dementsprechend zu behandeln. Gerade weil Leben etwas
ist, was sich unserem Zugriff zur Gänze entzieht und nicht wieder hergestellt
werden kann, wenn es einmal zerstört ist, haben wir die moralische Pflicht,
dieses Leben zu bewahren. Nicht – anthropozentrisch missverstanden – im
Hinblick auf uns, als vermeintlich wertsetzender Instanz, sondern in
Anerkennung der Unverfügbarkeit des Lebens, und seinem damit verbundenen
intrinsischen Wert, im Hinblick auf das Leben selbst als autonomem Subjekt.
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