Erschienen in Ausgabe: No 111 (05/2015) | Letzte Änderung: 14.05.15 |
von Hans Gärtner
Ein „kleines“ Lexikon? Damit kann nicht das Format gemeint
sein; denn das ist ungewöhnlich groß. „Klein“ kann höchstens die Auswahl
betreffen. Denn von den -zig Kinderbuchautoren, die es gibt – exklusive derer,
die längst nicht mehr am Leben sind, aber immer noch gelesen werden – hat die
Autorin 31 ausgewählt. Warum gerade so viele und keine anderen? Dazu sucht man
vergeblich eine Erklärung. Die aber eigentlich gar nicht wichtig ist. Waltraud
Seidel schätzt halt und kennt, so kann man annehmen, gerade diese recht gut.
Nicht alle „Geschichtenerzähler“ dieses Buches leben noch
(und manche Namen gehören nicht von Haus aus in den Kinderliteratur-Bereich).
Hans Christian Andersen, Wilhelm Busch, Michael Ende, die Brüder Grimm, Wilhelm
Hauff, Erich Kästner, Irina Korschunow, Christa Kozik, James Krüss, Astrid
Lindgren, Benno Pludra, Otfried Preußler, Fred Rodrian, Elizabeth Shaw und
Ursula Wölfel sind schon im „Geschichtenerzähler“-Himmel. Also so gut wie die
Hälfte. Und diese Menge kann sich – da es sich durchwegs um schon im höheren
Alter befindliche Schriftstellerinnen und Schriftsteller handelt, sozusagen
schon morgen ändern. Wer noch lebt (und auch schon nicht mehr zu den Jüngsten
oder Jüngeren der Branche zählt, die leider ganz und gar außen vor blieben),
ist, wie die schon Toten, renommiert: Kirsten Boie, Achim Bröger, Cornelia
Funke, Peter Härtling, Janosch, Knister, Paul Maar, Manfred Mai, die Nöstlinger
und die Pausewang, Mirjam Pressler, Joanne K. Rowling, Wolf Spillner, Uwe Timm,
Renate Welsh und Sigrid Zeevaert.
Jedem dieser Autoren – mit drei Ausnahmen gehören sie in den
deutschsprachigen Raum – hat Seidel zwei Seiten Text samt Illustration und
Porträtfoto gewidmet. Man erfährt jeweils auf der linken Seite ein wenig über den
Lebensgang der Ausgewählten, liest einiges zum Selbstverständnis als
Textproduzent(in) und kriegt unter dem Label „Lesetipps“ Buchtitel (leider ohne
Erscheinungs-Jahr und Verlag) der betreffenden Person genannt. Die rechte Seite
variiert: mal bringt sie Texte aus der Feder der Kinderbuchautor(inn)en –
Quellenangaben: s. Anhang – und mal Texte von insgesamt sieben „Mitautorinnen
der Geschichten über Geschichten“. Sie werden anfangs namentlich aufgelistet.
Es sind bemerkenswerter Weise ausschließlich Mädchen, wobei die Schwestern
Georgiadis als recht schreibfreudig auffallen.
Vermutlich sah Waltraud Seidel in den sieben Mädchen eines
ihrer unverkennbar lesepädagogischen Absichten realisiert: Kinder zum Buch zu
führen, zum Lesen anzuregen. Und zum Schreiben. Zum Selber-Schreiben von
Geschichten. Die Orientierung an „großen“ Vorbildern ist ja nicht zu übersehen
und nur zu unterstützen. „Praxisnähe und Freude am Lesen“, so teilt Waltraud
Seidel mit, war „ihr erklärtes Ziel als Schulbuchautorin.“ Sie stammt aus
Breslau, wurde im thüringischen Altenburg ansässig, studierte und promovierte
in Leipzig und war Dozentin für Jugendliteratur. Für „vielseitige
Unterstützung“ dieser ungewöhnlichen Publikation danken Autorin und Verlag der
Firma Metallbau Maltitz aus Gersdorf.
Ganz besonderen Anteil an der Wirkung dieser schönen,
wohldurchdachten und liebevoll erstellten Publikation haben die für Typographie
und Layout Verantwortlichen, nicht zuletzt der Illustrator Marian Kretschmer.
Seine meist den Texten der schreibenden Schülerinnen beigegebenen Bilder wirken
suggestiv, lassen die im Buch nur Blätternden oder Querlesenden einen Moment
verweilen, machen neugierig auf den Textinhalt. Das ausgefallene Buchformat
könnte Buchhändler davon abhalten, es ins Regal zu stellen. Das wäre
bedauerlich; hat es doch hohe ästhetische und vielfach animierende Wirkung.
Gerade der Teil „Geschichten über Geschichten“, den die
Autorin ihren mitschreibenden Schülerinnen zu danken hat, unterscheidet sich
von der reinen, hier allerdings schön verpackten lexikalischen Information (die
auch anderen, vielleicht ausführlicher informierenden Nachschlagewerken zu
entnehmen ist) wesentlich. In der Tat sind einige dieser Texte „erstaunlich“ zu
nennen. Beispiel: der Anfang des Textes zum Kinderbuchautor Michael Ende. „Vom
Zuhören“ von Victoria Georgiadis, 11 Jahre (Seite 19):
Das Wetter verordnete Hausarrest. –In Opas grünem Wintergarten lässt sich auch
das aushalten. „Film oder Buch?“ Großvater fragte gut gelaunt, nachdem er sie
dreimal beim Mühlespiel besiegt hatte. „Nix mit Enkelbonus! Besiegt ist
besiegt!“ Leider! Dafür aber erklärte er dann immer umfangreich, warum sie
verloren hatte. Sie konterte: „Du wirst sehen, Opa, eines Tages hab` ich`s
drauf, aber dann!“ – „Film“, entschied sie, denn die Großelternbibliothek ist
unüberschaubar. Schon die Abteilung Kinderbuch ist riesig. Die Videothek
dagegen fällt bescheiden aus. – „Momo“ wählen sie aus, das Buch fand sie
spitze. Mal sehen, was die Filmis draus gemacht haben aus der seltsamen
Geschichte von den Zeitdieben. Diese Kerle von der Zeitsparkasse klauen den
Menschen ihre Zeit. Aber da hatten sie die Rechnung ohne Momo gemacht und ohne
Meister Hora, der die Zeit anhalten kann. Spitzenmäßig, dass Momo im
Amphitheater wohnen darf und wie ihr alle helfen. „Sieht dir ein bissel
ähnlich, das Momo“, meinte Großvater. „Opa, das ist eine DIE. Und ähnlich, nee!
Guck mal, wie die rumläuft! Höchstens der Wuschelkopf. Vielleicht hat sie ja
auch einen Papa aus dem Süden!“ – „Guckt ihr Film oder quatscht ihr?“ Oma
setzte sich dazu: „Guck mal, der Nikola, das ist Mario Adorf, den mag ich.“ Na
ja, Oma ist über siebzig! Mag sie den alten Herrn ruhig cool finden oder mögen.
Und irgendwo soll auch der Michael Ende als Statist mit rumlaufen, das muss man
sich mal vorstellen, der Buchautor hat mitgespielt! Der Film wurde in Rom
gedreht und Michael Ende hatte dort in der Nähe gewohnt (…)
Waltraud Seidel: „Geschichtenerzähler von A bis Z“. Ein
kleines Lexikon der Kinderbuchautoren mit Illustrationen von Marian Kretschmer,
76 Seiten im Format ca. 30 x 35 cm, 24,90 Euro, edition zweihorn, Neureichenau
2015, ISBN 978-3-943199-29-1
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