Erschienen in Ausgabe: No 112 (06/2015) | Letzte Änderung: 13.07.15 |
von Stefan Groß
Er war ein Ausnahmeathlet, ein
Solitär, unter den Philosophen, schon rein äußerlich unterschied er sich vom
aristokratisch-intellektuellen Großmut vieler seiner Kollegen, und er hatte
ihnen etwas voraus: eine tief fundierte Skepsis gegenüber der Wahrheitsfrage,
war selbstironisch und stand für eine kritisch-polemische Einschätzung der
Gegenwart. Äußerlich fiel er kaum auf, aber was er sagte, hatte die Studenten
der Jenaer Universität in Bann gezogen – nach der Wende endlich einer, dem man
den professoralen Gestus nicht ansah, der verständnisvoll war und in der
Offenheit des Denkens stand – ganz getreu der Maxime, dass die Wahrheit nur die
halbe sei. Nun ist der Philosoph Odo Marquard, geboren in Pommern, am 9. Mai
2015 in Celle gestorben. Er selbst nannte sich „einen in Hinterpommern
geborenen Zwangsostfriesen, der am Fuße des Vogelsbergs sein bedenkliches Leben
verbringt und darum ja auch sowieso eher zuständig ist für nonkonformistische
Teile der südhessischen Grundlagenfolklore.“ Und wie er eingesteht, sei er
„kein philosophischer Missionar“ und hat auch „keine Weltbeglückungspläne, die
die Menschheit nur ja nicht vergessen soll.“ Skeptisch ist er bis zum Schluß
geblieben, getreu der Maxime: „Skepsis ist der Entschluss zu einem vorläufigen
Denken. Wenn die Erfahrung anderes lehrt, soll sie es tun. Aber bis dahin
[...].“
Selbst die Titel vieler seiner Bücher und Essays wie „Apologie des Zufälligen“,
„Skepsis und Zustimmung“, „Abschied vom Prinzipiellen“, „Philosophie des
Stattdessen“, „Zukunft braucht Herkunft“, „Individuum und Gewaltenteilung“,
„Skepsis in der Moderne“ sind eindrucksvolle Bonmonts, einprägsame
philosophische Belletristik, in denen sich der Stilist und Humorist verewigte,
er war – wie er sich selbst nannte – ein „Transzendentalbelletrist“. Auch der
spektakuläre Begriff der „Inkompetenzkompensationskompetenz“ wurde seit 1973
zum geflügelten Wort im marquardschen Jargon der Uneigentlichkeit. Nicht müde
wurde er, die Philosophiegeschichte als einen sukzessiven Verlust von Kompetenz
zu charakterisieren. Anstelle von apodiktischen Geltungs- und
Wahrheitsansprüchen tritt der unausweichliche und auch unleidliche „Abschied
vom Prinzipiellen“ und damit einher geht der antike Mythos der
Universalisierbarkeit – er verliert seine Geltungshoheit. Einst war die
Philosophie kompetent, heute, so der kritisch-skeptische Befund Marquards, der
manch jungen Philosophiestudenten sowie die Etablierten des Fachs mit dieser
provokanten These verstörte, sei sie nur noch kompetent für eines: „nämlich für das Eingeständnis der eigenen
Inkompetenz.“ Auch soteriologisch sei sie gescheitert, weil sie von der
christlichen Heilsperspektive überboten wurde und nur als „Magd der Theologie“
ihr Überleben sichern konnte. Technologisch habe sie ebenso versagt, ein Blick
in die moderne Medizin, künstliche Intelligenzforschung, Gentechnik,
Neurobiologie genügt, um zu sehen, daß der von der Philosophie versprochene
Nutzwert oder Hoheitsanspruch, so Marquard, von den Naturwissenschaften
überboten wurde. Und politisch ist sie ebenfalls gescheitert, weil der Mensch,
so wie es jüngst Norbert Bolz am Beispiel des staatlichen Paternalismus
beklagte, seine Selbstzufriedenheit und Glückssuchezugunsten des
„An-der-langen-Leine-gehalten-Seins der politischen Praxis übergeben habe, also
auch hier Inkompetenz der Philosophie, was Marquard zum Schluß nötigt, der
einstigen Leitwissenschaft eine düstere Prognose auszustellen: „Die Philosophie: sie ist zu Ende; wir
betreiben Philosophie nach dem Ende der Philosophie.“ Oder anders
formuliert: Die Restkompetenz der Philosophie ist die Verwaltung der
Inkompetenz, also Inkompetenzkompensationskompetenz.
Im Blick hatte Marquard auch immer die Endlichkeit des Subjekts, vielzitierte
der moderne Stoiker Seneca und dessen „vita brevis est“, „Das Leben ist kurz“
und: Marquard folgerte konsequenzlogisch „carpe diem“, „Nutze den Tag“. Nun
kann man sich der philosophischen Frage nach der eigenen Sterblichkeit stellen
oder nicht: Sartre, die Existentialisten und die 68er gingen ihr aus dem Weg,
sie verdecke das Sein, relativiere die Spaßkultur, Heidegger verabsolutierte
diese derart, daß er das Leben vom Tod her durchreflektierte. Hatte Heidegger
die Zeitlichkeit im Blick, so Marquard die Vergangenheit, denn weil wir wissen,
daß wir sterben müssen, sind wir auf unsere Vergangenheit verwiesen.
„Jedermanns Zukunft ist ‚eigentlich‘ sein Tod.“ Oder: „Das Prinzipielle ist
lang, das Leben kurz.“
Bei allem Zufall, oder stoisch gesprochen – Schicksal, der bzw. das sich
ereignet und unberechenbar ist, bleibt dies zumindest eine anthropologische
Konstante, die zum einen impliziert, sich seiner Herkunft zu versichern, zum
anderen den Mut erfordert, diese Zumutung der Herkunft, die sich weder
verleugnen noch abstreifen läßt, zu ertragen. Kierkegaard hatte – allerdings mit
einer theologischen Attitüde als der bekennende Polytheist Marquard – Ähnliches im Blick, wenn er in seiner
„Die Krankheit zum Tode“ die fatale Diagnose der Verzweiflung darin sah: „Verzweifelt nicht man selbst sein wollen“. Was Kierkegaard noch Verzweiflung
nennen wird, könnte man mit Marquard als Selbstermächtigung des Menschen
beschreiben, der gegen sein Schicksal rebelliert und die Veränderungsmaxime zum
Paradigma seiner künftigen Lebensplanung erklärt. Mit anderen Worten: Die
Rebellion gegen die Herkunft verstellt die Zukunft. Der
emanzipierte Mensch der Moderne, ihn hat Marquard im Blick, will permanente
Veränderung und die damit einhergehenden Selbstversteigungen, die Hybris des
Ich, das mehr sein will, als seine Herkunft ihm erlaubt, bringt ihn dann auch
in einer globalisierten und schnell sich verändernden und auf Anpassung und
Mainstream abstellenden Welt in genau jenes Dilemma, sich neu erschaffen, zu
definieren, um den Preis des Sich-selbst-und-seiner-Herkunft-Verleugnens.
Familie, Sprache, Institutionen, Religion, Staat, Tradition, Kultur und
Religion werden im Selbstmechanisierungswahn zugunsten innerlich erkaufter
Leere und Adaptionsfähigkeit ausgetauscht. Was bleibt ist der sich
selbstenttäuschende Mensch, der irritiert sich selbst aufreibt und entweder in
die Arme der Ideologen fällt oder sich auf die Couch des Dr. Freud begibt.
„Weil sie einem alten Mythos der Moderne aufsitzen, der den schnellen Wandel
von allem und jedem – nach dem Vorbild des technischen Fortschritts – zu
fordern scheint. Aber da ist eine Schwierigkeit: das wachsende Veraltungstempo.
Je schneller das Neueste zum Alten wird, desto schneller veraltet auch das
Veralten selbst, und umso schneller kann Altes wieder zum Neuesten werden.
Rascher Wandel schafft Vertrautheitsdefizite. Kinder, für die die Wirklichkeit
unermesslich neu und fremd ist, tragen ihre eiserne Ration an Vertrautem
überall bei sich – ihre Teddybären. Mein Teddybär ist ein Plüschlöwe, den ich
mir irgendwann in Polen gekauft habe.“
Wie jüngst Hartmut Rosa plädiert Marquard für Entschleunigung, die rasante
Wirklichkeit eines Paul Virillo zu kompensieren, gelingt nur über die
Langsamkeit, die Marquard aber nicht als Müßigkeit oder einen Aufruf zur
Langeweile versteht – das Leben ist ja kurz und wir sind immer schon unsere
Vergangenheit mehr als wir unsere Zukunft sein können. Und wie der Gießener
Professor und Ehrendoktor der Friedrich-Schiller-Universität Jena bekennt:
„Unser Tod ist stets schneller als die meisten unserer Änderungen.“ Als Bürger,
so das Plädoyer für die Bürgerlichkeit, plädiert Marquard im liberalen Staat
für einen Ausgleich, für das aristotelische Maß, zwischen einerseits Erneuerung
und Schicksal, andererseits Beschleunigung und Langsamkeit, Globalisierung und
Herkommen. Hierin sieht er seinen Widerstand in einer Welt der totalen Globalisierung
und Modernisierung.
Wo Freiheit endet, dies hat Marquard immer wieder kritisch gegen den Geist der
68er und ihre Tribunalisierung der Wirklichkeit – samt dem darin innewohnenden
Entlarvungsgestus linker Ideologiekritik – vorgebracht, wird die Existenz des
Menschen in das Korsett einer Erlösungsideologie gepreßt und endet in einem
radikalen Totalitarismus. Freiheit, wie sie Marquard versteht, entsteht durch
ein Determinantengedrängel, eben durch Gewaltenteilung, durch den Pluralismus,
den er keineswegs nur in der Politik eingefordert wissen will, sondern zugleich
in der Religion, ein Lob des Polytheismus singt er dabei, dies aber nicht vor
dem Hintergrund einer alternativen Religionsbegründung, er ist protestantischer
Christ, sondern er verwehrt sich auch hier einer totalen Vereinnahmung des
Menschen durch ein So-und-nicht-anders-glauben-Dürfens. Freiheit heißt Einsicht
in die Notwendigkeit der „Herkunftshaut“, eröffnet aber die Perspektive, sich
mit dieser zu versöhnen und darüber frei zu werden. Und die Freiheit des
Skeptikers besteht darin, der allein selig machenden ideologischen
Vernunftregie die vielen Freiheiten verschiedener Lesarten und vieler
Geschichten“ entgegenzusetzen, getreu der Maxime: „Der Skeptiker redet mit
allen, der Diskursethiker letztlich nur mit Gleichgesinnten.“
„Auf die rechte Verweigerung der Bürgerlichkeit – bei den Nazis – folgte in
Deutschland nach 1968 die linke Verweigerung von Bürgerlichkeit. Ich plädiere
für die Verweigerung dieser Bürgerlichkeitsverweigerung. An Habermas kritisiere
ich den geschichtsphilosophischen Monotheismus, die These von der absoluten
Alleingeschichte der Emanzipation, von der Totalgeschichte der
Weltverbesserung, und ein Diskurs-Ideal, das die Vielfalt der Geschichten und
Meinungen nur als Anfangskonstellation gestattet. Das Diskurs-Ziel ist der
Konsens, als das Ende, an dem nur noch eine einzige Meinung, und damit ein
meinendes, total aufgeklärtes Über-Wir, herrscht. Das zerstört nicht nur die Vielfalt
der Meinungen, Geschichten, Sprachen, Sitten, Küchen, die doch unser kleines,
kurzes Leben durch andere Leben bereichert. Darin steckt auch ein autoritäres
Dissensverbot, die mythenfeindliche Ermächtigung durch eine Alleinvernunft, die
es stört, dass man erzählt, statt sich zu einigen. Dieser Diskurs ist die Rache
des Solipsismus an seiner Vertreibung. Nein, die Philosophie muss das Gespräch
fundamentaler bejahen und dabei wieder erzählen dürfen.“
Marquard blieb als Skeptiker Optimist, der die Endlichkeit des Menschen ernst
nimmt und anstelle einer Totalnegativierung der Wirklichkeit, die „stetig
steigende Jammerrate“ den Blick für das offenhält, was in der Welt eben
Nicht-Krise ist; genau diese Geisteshaltung motiviert letztendlich ein
stoisches Einüben in der Schicksal, erobert sich den Status des
Mit-der-Welt-Zufriedenseins, ermöglicht in der endlichen Welt den Mut zum
Glücklichsein; ja er plädiert für die liebevolle Annahme des Unvollkommenen,
diesem sich nicht zu verweigern, dieses nicht zu verdrängen und zu schmähen,
sondern dafür, sich diesem zustimmungsfähig gegenüber zu verhalten.
Wie Robert Spaemann formulierte – und Marquard wiederholt es – trägt die
Beweislast „nicht das Vorhandene und Überkommene, sondern der Veränderer“. Wer
also das Neue will, muß es begründen! Dabei wehrt sich Marquard gegen den
„Generalverdacht, alles Überkommene sei unvernünftig und müsse deshalb geändert
werden“, er begreift diese „Stimulierung des Außerordentlichkeitsbedarfs“
vielmehr als „deutsche Krankheit“ und glaubt nicht an die Allmachts- und
Erlösungsansprüche der Philosophie wie einst der Deutsche Systemidealismus à la
Fichte. Denn gerade das zeichnet ja den Skeptiker gegenüber jenen Philosophien
aus, die ein Alleinstellungsanspruch aufstellen, daß sich diese verweigert, ein
universelles Prinzip aufzustellen und damit zugleich noch den Anspruch der
Weltrettung zu verknüpfen, was, wie die Geschichte lehrt, so zumindest Marquard,
eher zu bösen Häusern und Enttäuschungen führt, für die der Mensch als
sensibles und zerbrechliches Wesen überhaupt nicht konstituiert ist. Für die
Abarbeitung am Absoluten, sei es das Ich oder Gott, ist der Mensch nicht
geschaffen.
Auf die Frage, was er an seinem letzten Lebenstag tun würde, hatte Marquard
lakonisch geantwortet: „Schlafen“, weil er nun mal sehr gern schläft. Nun hat
die Kürze des Lebens den Skeptiker des 21. Jahrhunderts selbst eingeholt, doch
Odo Marquard hat uns viel zum Denken aufgegeben.
Die Zitate stammen von einem Interview mit Odo Marquard aus dem "Spiegel"
DER SPIEGEL9/2003
Das Interview führten: Schmitter, Elke und Schreiber, Mathias
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