Erschienen in Ausgabe: No. 36 (2/2009) | Letzte Änderung: 26.03.09 |
von Angela Merkel
Das Jahr 2008 begann überaus positiv: Die starke
wirtschaftliche Belebung seit dem Jahr 2006, die bis ins Frühjahr reichte, hat
vielen Menschen in Deutschland neue Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt eröffnet.
In den vergangenen drei Jahren hat die Wirtschaft mehr als 1,5 Millionen neue
Arbeitsplätze geschaffen – die Mehrzahl davon voll
sozialversicherungspflichtig. Die Arbeitslosigkeit lag erstmals seit 16 Jahren
für einige Zeit wieder unter der Marke von 3 Millionen.
Hierzu haben neben der allgemeinen wirtschaftlichen Dynamik
auch kluge Entscheidungen der Vergangenheit beigetragen. Verantwortungsvolle
Tarifabschlüsse, flexible Arbeitszeitgestaltung und neue Beschäftigungsformen
wie zum Beispiel die Zeitarbeit haben den Arbeitsmarkt gestärkt. Sie haben dazu
beigetragen, dass die deutsche Wirtschaft ihre Wettbewerbsfähigkeit auf den
internationalen Märkten ausbauen und ihre Position als Exportweltmeister halten
konnte.
Seit Mitte des Jahres jedoch dominieren die negativen
wirtschaftlichen Nachrichten. Die globale Finanzkrise, die 2007 ihren Ursprung
auf dem amerikanischen Immobilienmarkt hatte, hat auch Deutschland erfasst. Es
ist dem entschlossenen Eingreifen von Zentralbanken und der Finanzpolitik in
allen großen Industrieländern zu verdanken, dass nach der Insolvenz der
US-Investmentbank Lehman Brothers Mitte September keine weiteren großen Banken
zusammen gebrochen sind. Die Bundesregierung hat mit dem
Finanzmarktstabilisierungsgesetz innerhalb weniger Tage einen Schutzschirm für
den Finanzsektor gespannt. Dabei geht der Staat nicht unwesentliche finanzielle
Risiken ein. Dies ist jedoch unabdingbar, um weiteren Schaden von unserem Land
abzuwenden. Die Rettungsaktion zielte im Kern auch nicht auf die Finanzbranche
an sich; sondern sie diente und dient dem Zweck, die Kreditversorgung der
Wirtschaft und vor allem der vielen mittelständischen Unternehmen sicher zu
stellen. Denn ohne ein funktionierendes Bankwesen ist eine moderne Wirtschaft
nicht überlebensfähig. Bisher haben die Sicherungsmaßnahmen der Bundesregierung
gut funktioniert und den Finanzsektor stabilisiert. Die Bundesregierung wird
die Entwicklung auf dem Kreditmarkt sehr aufmerksam beobachten und hat bereits
einen zusätzlichen Kreditrahmen von 15 Milliarden Euro speziell für den
Mittelstand über die Kreditanstalt für Wiederaufbau bereitgestellt.
In Folge der internationalen Finanzmarktkrise haben sich
inzwischen die konjunkturellen Aussichten drastisch verschlechtert. Alle
Experten gehen davon aus, dass für Deutschland ebenso wie für alle anderen
großen Industrieländer im kommenden Jahr von einer Rezession auszugehen ist.
Die Bundesregierung hat auf den scharfen Abschwung bereits schnell und
entschlossen reagiert. Sie setzt dabei auf Entlastungen der Bürger und mehr
Investitionen. Das schafft kurzfristig mehr Nachfrage und Aufträge, stärkt
langfristig aber auch Innovationen und Wachstum. Bereits im Oktober haben wir
ein Paket verabschiedet, das die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland – und
insbesondere Familien mit Kindern – in den kommenden zwei Jahren um insgesamt
rund 20 Milliarden Euro entlastet, zum Beispiel durch die Erhöhung von
Kindergeld und Kinderfreibetrag. Im November haben wir dann ein Investitionspaket
im Umfang von weiteren 11 Milliarden Euro geschnürt. Unter anderem sind darin
verbesserte Abschreibungsbedingungen und Investitionsanreize für Unternehmen
enthalten. Ebenso inbegriffen sind jeweils 1 Milliarde Euro in den beiden kommenden
Jahren für Investitionen in die Verkehrswege. Damit können zahlreiche bereits
geplante Projekte wie Autobahnen und Eisenbahnstrecken schneller fertiggestellt
werden.
Viele fordern, die Bundesregierung solle schnell weitere
Maßnahmen ergreifen, um die Konjunktur zu stützen. Es kann aber nicht dem
Vertrauen der Menschen dienen, im Wochenrhythmus neue Maßnahmen zu diskutieren.
Gerade in der Krise sind nüchterne Analyse und Besonnenheit besonders wichtig.
Wir werden daher im Januar in der Koalition erneut beraten, was zusätzlich
getan werden kann und muss. Ich bin der Meinung, dass insbesondere bei
staatlichen Infrastrukturinvestitionen noch Handlungsspielraum besteht. Dies
werden wir uns, auch in Abstimmung mit den Ländern, genauer ansehen. Im Kern geht
es darum, Arbeitsplätze zu erhalten und zu sichern. Darauf müssen wir uns
konzentrieren.
Bei allem Handlungsdruck in Anbetracht der Krise bleibt die
notwendige Konsolidierung der Staatsfinanzen auf der Tagesordnung. Das Ziel
eines ausgeglichenen Bundeshaushalts ist angesichts des unerwarteten
konjunkturellen Abschwungs nicht mehr so wie ursprünglich geplant zu
realisieren. Dennoch dürfen wir das Ziel der Konsolidierung nicht aufgeben. Wir
dürfen kommenden Generationen nicht eine erdrückende Schuldenlast hinterlassen.
In diesem Jahr hat Deutschland aller Voraussicht nach erstmals seit 1989
gesamtstaatlich wieder einen leichten Budgetüberschuss erzielt. Das ist gerade
jetzt von unschätzbarem Wert. So sind wir besser in der Lage
konjunkturpolitisch gegenzusteuern, ohne den europäischen Stabilitäts- und
Wachstumspakt aufs Spiel zu setzen. Damit ist Deutschland in einer wesentlich
günstigeren Position als viele andere Länder in Europa. Jede Milliarde neuer
Schulden schränkt unseren Handlungsspielraum in Zukunft weiter ein. Bereits
heute müssen wir jeden siebten Euro im Bundeshaushalt für Zinsen ausgeben.
Dieses Geld fehlt uns für wichtige Zukunftsinvestitionen. Aus diesem
Teufelskreis müssen wir in der längeren Perspektive unbedingt heraus. Die der
Konjunktur geschuldete Erhöhung der Neuverschuldung im kommenden Jahr steht
hierzu nicht im Widerspruch. Für die dauerhafte Rückkehr auf den
Konsolidierungspfad ist eine moderne, effektive Verschuldungsregel für Bund und
Länder wichtig. Hierüber diskutieren wir mit den Ländern in der
Föderalismuskommission. An der Neuregelung der Schuldenbegrenzung hält die
Bundesregierung eindeutig fest. Eine Vereinbarung hierzu wäre gerade jetzt von
allergrößter Bedeutung.
Deutschland gehört mit seinen die Konjunktur stützenden Maßnahmen
in Europa zur Spitzengruppe – und zwar sowohl was Umfang als auch Umsetzung der
Maßnahmen betrifft. Ich unterstütze die Ideen der Europäischen Kommission für
ein europaweit abgestimmtes Vorgehen in der Krise. Das haben wir bei den
Rettungsaktionen für den Finanzsektor so gemacht, und wir werden es auch in der
Konjunkturkrise so halten. Wichtig ist aber, dass jedes Land die Instrumente
selbst wählen kann. Das ergibt sich schon aus der sehr unterschiedlichen
wirtschaftlichen Struktur in den einzelnen Ländern. Das haben wir beim
Europäischen Rat auch so beschlossen.
Das zweite wichtige Thema beim Europäischen Rat war das
Klimaschutzprogramm der EU. Mit dem beschlossenen EU-Klimapaket wurden die
Grundlagen gelegt, um die im Jahr 2007 unter deutscher Präsidentschaftvereinbarten
Klima- und Energieziele für das Jahr 2020 zu erreichen: eine Verringerung der
Treibhausgase um mindestens 20%, den Ausbau der erneuerbaren Energien auf 20%
am Endenergieverbrauch und die Senkung des Energieverbrauchs um ebenfalls 20%.
Die Bundesregierung hat sich in den Verhandlungen für eine Balance von
Klimaschutz und Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie eingesetzt.
Industriebranchen, die in einem internationalen Wettbewerb stehen, werden ihre
Emissionsrechte weiterhin kostenlos erhalten. Besonders stromintensive
Industrien können ab 2013 eine Kompensation für steigende Strompreise erhalten.
Wir entlassen die Unternehmen damit weder aus dem Emissionshandel noch aus
ihrer Verpflichtung zur Verringerung der Treibhausgase, denn die maximal
zulässigen Gesamtemissionen werden jedes Jahr verringert. Wir vermeiden aber zusätzliche
Kosten, die die europäische Industrie im globalen Wettbewerb einseitig
belasten. Eine Verlagerung der Produktion in Länder mit niedrigeren Klimaschutzstandards
würde nicht nur dem Klima schaden, sondern zudem Arbeitsplätze in Europa
kosten. Darüber hinaus ermöglicht das Klimapaket eine Förderung neuer,
hocheffizienter Kraftwerke. Damit können wir die dringend notwendige
Modernisierung des Kraftwerkparks in Deutschland unterstützen.
Die Herausforderungen sind ebenso groß wie die Chancen. Der
Emissionshandel erfordert mehr Effizienz sowie innovative Prozesse und
Produkte. Die deutsche Industrie ist mit hohen Effizienzstandards, ausgeprägtem
Know-How und hohem Innovationspotential sehr gut aufgestellt. Vom weiteren
Ausbau der erneuerbaren Energien werden gerade deutsche Hersteller profitieren.
Im nächsten Jahr wollen wir bei der Klimakonferenz in Kopenhagen ein
umfassendes und anspruchsvolles Folgeabkommen für das Kyoto-Protokoll
erreichen. Die EU geht mit der Verabschiedung des EU-Klimapakets gestärkt und
glaubwürdig in die entscheidende Phase der internationalen
Klimaschutzverhandlungen. So können wir im nächsten Jahr mit aller
Entschiedenheit für ein Anschlussabkommen an das Kyoto-Protokoll eintreten,
hoffentlich gemeinsam mit dem neuen US-Präsidenten Barack Obama.
Vertrauen ist das wichtigste Fundament der Sozialen
Marktwirtschaft und ihrem Versprechen von Chancen und Wohlstand für alle Bürger.
Heute, in Zeiten von Globalisierung und internationaler Arbeitsteilung,
bedeutet dies für Deutschland und seine Zukunft vor allem eines: Bildung für
alle. Bildung und Qualifizierung sind der Schlüssel für die persönlichen
Chancen jedes Einzelnen und für die Zukunft unseres Landes. Sie sind die
Voraussetzung für wirtschaftliche Stärke, gesellschaftlichen Zusammenhalt und
soziale Stabilität. Deshalb brauchen wir in Deutschland möglichst viele gut
qualifizierte Fachkräfte und kluge Köpfe in Wissenschaft und Wirtschaft, die
aus kreativen Ideen innovative und marktfähige Produkte machen. Die
Bundesrepublik muss eine Bildungsrepublik werden. Dazu haben Bund und Länder am
22. Oktober in Dresden wichtige Entscheidungen getroffen. An erster Stelle der
Vereinbarung steht das Ziel, bis zum Jahr 2015 zehn Prozent des
Bruttoinlandsprodukts in Bildung und Forschung zu investieren. Die
Bundesregierung nimmt ihre Verantwortung sehr ernst. So haben wir in dieser
Wahlperiode die Ausgaben zur Forschungsförderung um mehr als 7 Milliarden Euro
erhöht. Für Qualifizierungsmaßnahmen und -programme stellen wir in den Jahren
2008 bis 2012 rund 4 Milliarden Euro und für den Ausbau der Kinderbetreuung bis
2013 4 Milliarden Euro zur Verfügung. Auch die Länder haben wichtige
Weichenstellungen vorgenommen.
Gleichwohl muss unser Bildungssystem insgesamt durchlässiger
werden. Es darf nicht aus Sackgassen bestehen, sondern muss Türen öffnen. Auch
junge Menschen mit Migrationshintergrund sollen gleiche Bildungschancen in
unserem Land haben. Schlüssel dafür sind die Sprachkenntnisse. In Zukunft
werden alle Länder vor der Einschulung eine Sprachstandserhebung vornehmen, um
diejenigen zu fördern, bei denen es notwendig ist. Außerdem müssen wir es
schaffen, mehr junge Menschen für naturwissenschaftlich-technische Studiengänge
zu gewinnen und die Universitäten in die Lage zu versetzen, Nachwuchskräfte für
zukunftsträchtige Berufe bestmöglich auszubilden. Gemeinsames Ziel von Bund und
Ländern ist es, die Studienanfängerquote auf 40 Prozent eines Jahrgangs zu
steigern. Das BAföG hat die Bundesregierung in diesem Herbst um zehn Prozent
erhöht. Wir werden den Hochschulpakt 2020 konsequent fortsetzen. Bund und
Länder werden außerdem die Exzellenzinitiative sowie den Pakt für Forschung und
Innovation über das Jahr 2010 hinaus weiterführen und entwickeln. Der Nachwuchs
in Deutschland braucht international konkurrenzfähige Bedingungen.
Das Jahr 2009 bringt für die Bürger in Deutschland eine
Reihe von Neuerungen, die Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat beschlossen
haben, um mehr wirtschaftliche Leistungskraft und soziale Sicherheit zu
erreichen. Zum Jahreswechsel tritt eine neue Erbschaftsteuerregelung in Kraft.
Mit ihr werden vor allem Erben begünstigt, die ein Unternehmen fortführen und
so die Arbeitsplätze sichern. Ebenfalls zum 1. Januar startet der
Gesundheitsfonds. Mit ihm werden die Finanzströme der gesetzlichen
Krankenversicherung grundlegend umgestellt. Für die Versicherten wird es
zukünftig einfacher, Preis und Leistung der Kassen miteinander zu vergleichen.
Jede Kasse erhält für ihre Versicherten gleich viel Geld. Die unterschiedliche
Verteilung von Gesunden und Kranken auf die Kassen wird finanziell
ausgeglichen. Ab 1. April 2009 verbessern wir die steuerliche Förderung der
Mitarbeiterkapitalbeteiligung. Damit wird es für Arbeitgeber und Arbeitnehmer
noch attraktiver, dieses wichtige Instrument der Vermögensbildung und
Mitarbeiteridentifikation zu nutzen.
2009 ist zudem das Jahr, in dem wir den 60. Geburtstag der
Bundesrepublik Deutschland und den 20. Jahrestag des Mauerfalls feiern. Beide
Ereignisse erinnern uns daran, dass es die Soziale Marktwirtschaft war, die
unser Land bis heute stark gemacht hat und deren Erfolg die Menschen in der
ehemaligen DDR zusätzlich bestärkte, das dortige Unrechtsregime zu überwinden.
Ich bin davon überzeugt, dass unsere Soziale Marktwirtschaft aus der
gegenwärtigen Wirtschaftskrise gestärkt hervorgehen wird, weil sie schon immer
den Exzessen der Märkte eine faire Balance von Freiheit und solidarischem
Ausgleich entgegengestellt hat. Deshalb werden wir bei uns im Land die Weichen
in diesem Sinne weiter stellen und international für die Durchsetzung der
Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft kämpfen.
©-Vermerk: REGIERUNGonline (www.bundesregierung.de.)
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