Erschienen in Ausgabe: No 41 (7/2009) | Letzte Änderung: 31.08.11 |
von Günter Schabowski
Wenn Bürger gegen die eigene Regierung aufbegehren, so
hat es im Vorfeld meist ernste wirtschaftliche Probleme gegeben. Wussten Sie
1989, wie schlecht es um die Wirtschaft der DDR bestellt war?
Wie prekär die Lage war, erfuhren wir erst nach der Absetzung
Honeckers. Der Planungschef Gerhard Schürer teilte im Politbüro mit, dass die
DDR im Frühjahr 1990 zahlungsunfähig sein würde, weil sie die Zinsen für die
ausländischen Kredite nicht mehr begleichen konnte. Bis dahin war dieser heikle
Umstand nur Thema zwischen Schürer und dem Generalsekretär gewesen.
Sechs Jahre zuvor hatte die Bundesrepublik auf Drängen von Franz Josef Strauß
für einen Zwei-Milliarden-DM-Kredit der Bayerischen Landesbank für die DDR
gebürgt. Gestützt auf die Bundesbürgschaft konnte der Außenhandelsbankchef
der DDR bei ausländischen Banken unter Hinweis auf die von Bonn verbürgte
Bonität wieder neue Kredite einsammeln. 1989 betrug die
Bruttoauslandsverschuldung der DDR nahezu 50 Milliarden Valutamark. Die
Valutaeinnahmen, also die Einnahmen von Westwährung durch Exporte, lagen
niedriger als die Zinsbelastungen im Westen. Damit wären sowohl wichtige
Importe von Rohstoffen und Halbfabrikaten als auch Konsumgütern wie Apfelsinen
und Bananen oder notwendigen Medikamenten nicht mehr gesichert gewesen. Ein
Schuldenerlass oder ein Aufschub der Rückzahlung hätte dann zur
Machteinschränkung und früher oder später gleichfalls zum Machtverlust der SED
geführt.
Warum hat die DDR keine Gewinne erwirtschaftet wie China heute?
In einem Satz: Weil wir nicht so gewieft waren und den Kapitalisten
wieder die Wirtschaft überlassen haben. Auch der chinesische Sozialismus hat
wirtschaftlich so wenig reüssiert wie der in der DDR. Deshalb zog die
chinesische Partei den Schluss, besser wieder die wirtschaften zu lassen, die
davon mehr verstehen. Die Diktatur der Partei über China bleibt natürlich
bestehen. Sie und der Staat finanzieren sich heute nur anders, nämlich durch
die Steuern und Abgaben, mit denen die sprießenden Profite der kapitalistischen
Unternehmen belegt werden. Von den Summen, die in die Taschen bestechlicher und
treuer Parteifunktionäre fließen, ganz zu schweigen. Die Ineffizienz der
DDR-Wirtschaft beruhte auf der totalen Enteignung und Verstaatlichung der
Unternehmen – damit wurde die Regulierung über Märkte durch eine
Planwirtschaftsbürokratie ersetzt. 50 000 Schreibtische konnten nicht die
Intelligenz, Initiative und Risikobereitschaft von Unternehmern und die
Impulse einer Marktwirtschaft ersetzen. Die Diktatur der Partei mit ihrem
Primat der Politik über die Ökonomie führte dazu, dass taktische Momente und
Parteibeschlüsse über die ökonomische Vernunft obsiegten. Dazu trug wesentlich
das schon erwähnte sozialpolitische Programm bei, mit dem sich Honecker nach
seinem Machtantritt von seinem Vorgänger Ulbricht positiv unterscheiden
wollte. Dies, so hoffte er, würde sich in mehr Leistungsbereitschaft und
volkswirtschaftlich in höhere Produktivität umsetzen. Aber der Effekt trat
nicht ein. Stattdessen nahm die Verschuldung zu, mit der die bescheidenen
sozialpolitischen Verbesserungen finanziert werden mussten. Die Partei schien
nach der Devise zu verfahren: Auf Schulden reitet das Genie zum Erfolg.
Das kommt einem bekannt vor, wenn man gegenwärtig in die USA schaut.
Immerhin wird es aufgedeckt. Bei unserem politischen Leben
auf Pump spielte unausgesprochen auch eine Rolle, dass wir Kommunisten daran
glaubten, durch westliche Kredite Kapitalisten für unsere Errungenschaften zu
schröpfen. Früher oder später würde die Revolution auch über sie hereinbrechen,
und damit wären dann alle Schulden auf einen Schlag getilgt. Die ökonomische
Schwäche der DDR wurzelte also in der verfassungsgemäßen Führungsrolle der SED
– und wohl auch in diesem Kinderglauben.
Wie wirkte das sozialistische Korsett auf die Wirtschaft?
Die DDR-Wirtschaft konnte nur durch Exporte ins westliche
Ausland überleben. Doch Rohstoffmangel, Innovationsschwäche und
Schwerfälligkeit der Planwirtschaft führten dazu, dass über den Außenhandel
stets ein kleineres Ergebnis erbracht wurde, als notwendig gewesen wäre. Die
Gewinne der Betriebe zu zentralisieren war die Regel. Jegliches erwirtschaftetes
Plus floss auf das zentrale Staatskonto. Die Plankommission entschied dann auf
Geheiß der Partei, wie viel welchem Betrieb im folgenden Jahr zugestanden
wurde, damit dieser seine Planziele erfüllen konnte. Demnach musste ein
erfolgreicher Betrieb die von ihm erwirtschafteten Valutabeträge zum größten
Teil an unprofitablere Betriebe abführen, deren Erzeugnisse aus politischen
oder strategischen Gründen Vorrang hatten.
Zudem musste jede Neuentwicklung oder Erfindung von der Plankommission als
nützlich oder ertragbringend bestätigt werden. Daran gebunden war die
Genehmigung von Mitteln oder gar von partiellen Rohstoffimporten aus dem
Westen. Dieses Procedere erforderte viel Zeit, und bis die Genehmigungen
vorlagen, beherrschten längst schon westliche Innovationen den Weltmarkt. So
fehlten zunehmend die Mittel, die zu einer Steigerung der Produktivität nötig
gewesen wären. Damit wurde die Absicherung der Sozialpolitik immer
schwieriger. Infolgedessen mussten immer mehr Kredite aufgenommen werden.
Die Ölpreisexplosion und Kreditboykotte vergrößerten die Schwierigkeiten.
Probleme wurden »operativ«, also von Fall zu Fall, bewältigt. Man riss Löcher
auf, um andere Löcher zu stopfen. In unseren Plänen klafften von Jahr zu Jahr
größere Bilanzlücken, die von den Produzenten ausgeglichen werden mussten. Der
Plan sah folglich zum Jahresbeginn hohe Steigerungsraten vor – das machte sich
gut für die Öffentlichkeit. Seitenlang wurden alljährlich in den Zeitungen die
Planziele ausgebreitet. Im Laufe des ersten Quartals wurde der Plan jedoch
»präzisiert«, also an die unzureichenden Materialzulieferungen und an die
mangelhafte Grundfondsausstattung angepasst und damit heruntergefahren. Davon
erfuhr die Öffentlichkeit jedoch nichts. Am Jahresende gab es dann erfüllte und
übererfüllte Pläne, ohne dass ein wesentliches Wachstum gegenüber dem Vorjahr
erzielt worden wäre.
Wie erlebten Sie als Funktionär den wirtschaftlichen Alltag in der DDR?
Hinter der monolithischen Fassade des SED-Politbüros wurden
auch Intrigen gesponnen. Zur Pflicht der Ersten Bezirkssekretäre, also auch zu
meiner Pflicht, gehörte es, dem Generalsekretär jeden Monat die
Wirtschaftslage zu schildern. Wir hatten in Berlin wiederholt in unseren
Berichten auf brüchige Zulieferketten hingewiesen, die den Berliner Betrieben
die Planerfüllung erschwerten. Das Politbüromitglied Günter Mittag, Honeckers
Vertrauter und Kommandeur der volkseigenen Wirtschaft, witterte darin einen
Angriff auf seine Kompetenz. Er revanchierte sich in einer Politbürositzung
und machte Berlin für die mangelhafte Versorgung der Bezirke mit Zwieback
verantwortlich. Berlin verfüge doch über die modernste Fertigungsstraße für
Zwieback, meinte er, aber bringe nicht genügend Leistung. Da sei Schlamperei im
Spiel. Mit anderen Worten: Die Bezirksparteileitung habe sich nicht darum
gekümmert.
Doch ich hatte aus Mittags Apparat vorab von seiner beabsichtigten Attacke
Wind bekommen und war gewappnet. Ich sagte, dass die zitierte »modernste
Fertigungsstraße« ein DDR-Eigenbau sei, der vom ersten Tag an seinen Widerwillen
gegen Zwieback offenbart habe. Die Maschine sei weder imstande, den Teig
angemessen zu rösten, noch die Produkte einwandfrei zu verpacken. Die Kollegen
hätten sich unablässig bemüht, das Ding zu reparieren, aber ohne Erfolg.
Honecker blickte fragend zu Mittag. Die Fakten waren so überzeugend, dass Mittag
und Regierungschef Stoph den Auftrag erhielten, einschlägige Technik aus dem
»KA«, dem kapitalistischen Ausland, zu beschaffen. Ob es dazu dann noch
gekommen ist, weiß ich nicht. Aber ich war um die Erfahrung reicher, dass auch
im Zwieback politische Brisanz stecken konnte – zumindest in der DDR. Dieser
Vorgang aus dem Politbüro illustriert die Absurdität einer Volkswirtschaft
unter dem Diktat einer Partei. Ein Staatschef muss über die Zwiebackproduktion
der Hauptstadt entscheiden. Das Politbüro muss die Beschaffung der Technik
veranlassen. Dadurch entsteht ein doppeltes Versorgungsdefizit: Der Betrieb
kann sich die notwendige Technik nicht beschaffen, die Bürger bleiben ohne
Zwieback. So sahen sie aus, die kümmerlichen Früchte einer enteigneten und dann
verstaatlichten Wirtschaft.
Sie haben sich als Berliner Parteisekretär ständig mit der unzureichenden
Planerfüllung befassen müssen. Bekamen Sie bei Ihren Betriebsbesuchen den Ärger
der Kollegen zu spüren, oder wurden Sie abgeschirmt?
Ja, natürlich traf mich der Ärger. Aber ich wollte mich
nicht abschirmen lassen. Ging ich in einen Betrieb, und das war nahezu täglich
der Fall, ließ ich deshalb deklamatorische Großveranstaltungen mit geschönten
Rechenschaftsberichten nicht mehr zu. In kleineren Diskussionsrunden erzielte
ich Zustimmung in den Betriebsabteilungen, wenn ich sagte: »Halten wir uns
nicht mit Sprüchen auf. Sagt, wo es hapert. Wir, die Bezirksleitung, wollen
versuchen zu helfen. Wenn wir von zehn eurer Probleme nur drei oder vier
bewältigen, hat es sich für beide Seiten schon gelohnt.« Im Ergebnis der
Debatte wurde ein Protokoll über die einzuleitenden Schritte verfasst. Meist
ging es um bessere Arbeitsorganisation, versackte Zulieferungen oder um
Plankorrekturen. Die Methode fand Anklang. Ich lud stets den zuständigen
Minister zu solchen Zusammenkünften mit ein. Er verpflichtete sich,
Zulieferungen zu besorgen, die den jeweiligen Betrieb in die Lage versetzen
sollten, den Plan zu erfüllen. Die Kollegen meinten, sie bekämen Hilfe statt Besserwisserei
oder Phrasengeknatter. Und ich wiegte mich in der Illusion, einen optimalen
Arbeitsstil gefunden zu haben.
Illusion? Es hat also nichts gebracht?
Einige Tage später erreichten mich erregte Anrufe von Bezirkssekretären
aus Cottbus oder aus Dresden, dass ihren Betrieben Mittel entzogen und nach
Berlin umgelenkt worden seien. Der Minister hatte so entschieden, weil ich als
Berliner Sekretär und Politbüromitglied für ihn mehr Gewicht hatte als ein
SED-Bezirkssekretär, der nur ZK-Mitglied war. Die Praxis verriet die Misere des
Systems. Die Betriebe funktionierten in den wenigsten Fällen von alleine. Die
meisten bedurften ständig der Hilfe, die wir, die Partei, unzulänglich genug zu
leisten versuchten.
Nach einem Dreivierteljahrhundert des Experimentierens sind die
sozialistischen Volkswirtschaften in sich zusammengefallen. Wie kam es dazu?
Manche Ihrer Genossen sind noch heute überzeugt, dass dies nur eine
kurzfristige Schwäche war, die mit dem Ölpreis und der Hochrüstung zu tun
hatte.
Es war die unabwendbare Folge ihrer Lebensuntauglichkeit.
Die sozialistischen Volkswirtschaften waren dem Wirtschaftssystem unterlegen,
das sie herausgefordert hatten. Ein kommunistischer Glaubenssatz von Lenin
lautet: Die höhere Arbeitsproduktivität entscheidet in letzter Instanz über den
Sieg der neuen Gesellschaftsordnung. Damit war dem System schon früh das Ende
prophezeit. Es hat den eigenen Kriterien nicht standgehalten. Die Ineffizienz
der sozialistischen Volkswirtschaften ist keine temporäre oder nationale
Erscheinung, die durch spezifische Ursachen – wie technologische Rückständigkeit,
Bildungsdefizite und Erfahrungsmangel, administrative Inkompetenz und andere
Faktoren – zu erklären wäre.
Aber man darf das niedrige wirtschaftliche Niveau des Ostens als
Ausgangsniveau nicht vergessen. Der Westen und der Osten hatten nicht die
gleichen Startbedingungen.
Das niedrige wirtschaftliche Ausgangsniveau, das entgegen
der Marx'schen Annahmen die sozialistische Umwälzung in einer Reihe von Ländern
begleitet hatte, sprach eine Zeit lang scheinbar sogar für die Kommunisten. Die
Bewirtschaftung und Verteilung des Mangels ist mit Kommandostrukturen besser
zu bewerkstelligen als durch Selbstregulation. Eine Exekutive, deren Macht
nicht durch Gewaltenteilung reguliert ist, kann sogar Spitzenleistungen
hervorbringen, indem sie die begrenzten gesellschaftlichen Mittel rücksichtslos
auf ein Ziel wie beispielsweise die Entwicklung des Sputniks konzentriert. Es
waren ja die Sowjets, denen es noch vor den Amerikanern gelungen ist, im
Oktober 1957 den ersten künstlichen Erdsatelliten in eine Umlaufbahn zu
schießen. Selbst ein eingefleischter Schöngeist wird nicht in Abrede stellen
können, dass profane Ökonomie die wichtigs te Lebensgrundlage jeder
Gesellschaft ist. Banal scheint auch die Feststellung, dass die Produktion nur
dann sinnvoll ist, wenn damit ein Plus erzielt, wenn also mehr erwirtschaftet
wird, als an Kosten für Material und Arbeitskraft hineingesteckt wurde. Auch
die kommunistische Zukunftsvision, in der Ökologie aus historisch begrenzter
Einsicht keine Rolle spielte, baute auf Wachstum.
Können Sie noch einmal kurz die wirtschaftliche Hoffnung umreißen, die Marx
in die Welt gesetzt hat?
Die Annahme von Marx besagt in groben Zügen: Der private
Besitz an den wichtigsten Gütern und an den Produktionsmitteln macht deren
Eigentümer zur einflussreichsten oder gar herrschenden gesellschaftlichen
Gruppe oder Klasse. Sie wird durch ihre Dominanz permanent die ihr gemäßen Verhältnisse
sichern und die ökonomisch abhängige Mehrheit ausbeuten. Auch der
gesellschaftliche Überbau richtet sich nach den Interessen der ökonomischen
Klasse. Alle Übel dieser Welt, ihre Krisen und Kriege, ihr Elend und ihr Verbrechen
entstammen der einen Büchse der Pandora mit dem Etikett »Privateigentum«.
In dem Maße, in dem die Produktion arbeitsteiliger würde und die Erträge
steigen würden, verschärfe sich zwangsläufig der Widerspruch zwischen der
besitzlosen arbeitenden Mehrheit und dem Kapital. Das führe letztlich zur
sozialen Revolution. Erst wenn die besitzlose Mehrheit die Minderheit der
Eigentümer enteignet und die Produktionsmittel vergesellschaftet, wird allen
negativen Einflüssen des Privateigentums ein Ende gesetzt sein. Die
»Expropriation der Expropriateure« schafft gesellschaftliche Vernunft. Die
wirtschaftlichen Möglichkeiten können fortan zum Nutzen aller planmäßig
eingesetzt, ihre Erträge in Harmonie zwischen Akkumulation und Konsum verwendet
werden.
Im Unterschied zu den wolkigen Träumen von einer besseren Welt, wie sie etwa Thomas
Morus oder Rousseau hattten, setzte Marx die gesellschaftliche Veränderung im
verachteten Milieu der Warenproduzenten an. Der Marxismus hat konkret die
Mängel benannt, die in den Eigentumsverhältnissen der
bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft oder in ihren Warenbeziehungen
steckten. Aber Marx wie Lenin verstießen gegen ihre eigene dialektische Räson,
indem sie jede Möglichkeit zur Veränderung der von ihnen entschlüsselten und
zugleich dämonisierten Eigentumsverhältnisse leugneten. Sie konnten die enorme
technische Entwicklung nicht voraussehen. Sie sahen in der Demokratie keinen eigenständigen
politischen und sozialen Wert – auch nicht zur Kontrolle der Wirtschaft. Sie
werteten Demokratie ab als Mittel der Verschleierung der wahren Machtverhältnisse
zum Nutzen der unumschränkten Macht des Kapitals. Im Kommunistischen Manifest
verkündet Marx die Vision eines neuen Arkadien, das Reich des homo ludens,
bevölkert von materiell sorgenfreien, denkenden und dichtenden Individuen, die
einander solidarisch zugetan sind. Nach jahrzehntelangem globalem Experiment
ist heute offenkundiger denn je, dass die Vergesellschaftung des
wirtschaftlichen Besitzes kein Allheilmittel ist.
Aber, was war dann im Kern der Denkfehler?
Die Vokabel »Vergesellschaftung« macht dies deutlich. Mit
diesem Begriff geriet Marx in eine Reihe mit den frühen Utopisten, die er als
unwissenschaftliche Schwärmer abgetan hatte. Zwangsläufig stellte sich die
Frage, wer den vergesellschafteten Wirtschaftsorganismus führen sollte, wer
also das permanente Reproduktionsbedürfnis, das zudem unablässig wachsen würde,
gewährleisten sollte. Aber genau das war nicht definiert. An die Stelle der
vielen marktnahen, miteinander konkurrierenden Autoritäten trat nach der
Revolution, nach der Enteignung, das Superunternehmen sozialistischer Staat. Im
Gegensatz zur Marx'schen Voraussage zeigte der sozialistische Staat keine
Neigung zum Absterben, sondern wuchs sich zu einem bürokratischen Golem aus.
Vergesellschaftung im Sinne wirklicher gesellschaftlicher Kontrolle der
Produktionsmittel fand nicht statt, weil die Partei, genauer das Politbüro,
sich Gesellschaft genug dünkte. So geriet mit der »Vergesellschaftung« eine
ungleich extremere Art von Subjektivismus ans Steuer der Wirtschaft als in der
»alten« Gesellschaft. Und so konnte schließlich ein Mann wie Günter Mittag
durch die ihm eingeräumte Machtfülle weitgehend alleine über Wohl und Wehe der
Volkswirtschaft der DDR befinden.
Wie sah diese Vergesellschaftung dann im Alltag tatsächlich aus?
Das organische Regulierungs- und Stimulierungsmedium Markt
wurde durch zentrale Planung und Leitung der Wirtschaft ersetzt. Die
Planwirtschaft sollte von nun an verlustfrei den Bedarf vorausahnen und durch
Prämiensysteme den Markt überflüssig machen. Der Bankrott wurde abgeschafft.
Die Zentrale glich die Gewinne und Verluste der Hersteller aus und hielt damit
das Leistungsniveau der Wirtschaft insgesamt niedrig. Die neuen Regulatoren
der Volkswirtschaft konnten sich auf kein Vorbild, auf keinen praktischen Beleg
stützen. Sie nahmen die Marx'sche Hypothese als gesicherte Erkenntnis.
Schließlich war sie ihr wissenschaftlich begründeter Anspruch darauf, dass sie
die Macht übernehmen würden. Aus derselben intellektuellen Anmaßung heraus
wurde die Hypothese auch nie auf ihren Realitätsgehalt überprüft. Damit hätten
sich die Machthaber nur selbst in Frage gestellt. Stattdessen gingen sie
entschlossen ans Werk, die Bedürfnisse und ihre Befriedigung vom Zentrum aus zu
regulieren.
Was aber, wie sich schnell herausstellte, nicht funktionierte. Was hatten
Sie gegen die Selbstregulierungskräfte des Marktes?
Die Geringschätzung des Marktes hat ihre Wurzeln in der für
den Sozialismus charakteristischen niedrigen Veranschlagung der Rolle des
Individuums. Marxistische Theoretiker sahen im Markt mit seinen vielen
Angeboten eine völlig überflüssige Vielfalt. Dadurch würden Ressourcen nur unnötig
vergeudet. Und die Praktiker stimmten ihnen hinterher zu, wenn auch aus einem
anderen Grund: Die sozialistische Wirtschaft konnte nicht mit dem freien Markt
konkurrieren. Es blieb ihnen daher nichts anderes übrig, als aus der Not eine
Tugend zu machen. Beide, Theoretiker und Praktiker, nährten die Hoffnung, dass
die Gleichheit in der entwickelten sozialistischen Zukunftsgesellschaft die
Interessen und den Geschmack der Menge nivellieren würde. Für Mode zum
Beispiel, also für Erzeugnisse, die aus nicht planbarer Kreativität sprießen,
bleibt in den endlichen, marktlosen Gefilden des Sozialismus kein Platz.
Schöne Aussichten!
Ein weiteres Manko der Vergesellschaftung besteht darin, dass kaum Mechanismen
zur Korrektur von Fehlern ausgebildet wurden. Rückkopplungen waren bestenfalls
schwach ausgeprägt. Die von der Partei gesetzten Richtlinien wurden nicht
hinterfragt. Die Unfähigkeit zur Selbstkorrektur war ein tödlicher
Systemfehler, eine zwangsläufige Folge des pluralistischen und demokratischen
Defizits. Bei dem mühseligen Versuch, sich den Leistungen westlicher
Industriegesellschaften anzunähern, entstand zwar auch in den sozialistischen
Ländern eine Eigendynamik. Sie kollidierte jedoch sofort mit dem statischen
Charakter des Systems. Jeder wirtschaftliche Fortschritt machte somit letztlich
die zentralistische Trägheit augenfälliger.
Konnte die Perestroika etwas an diesen Mängeln ändern?
Perestroika war der in sich widersinnige Versuch, die systemimmanenten
Fehler des Sozialismus zu beheben, ohne den Sozialismus abzuschaffen. Deswegen
hat die »Erneuerung« oder »Umgestaltung« die negativen Folgen der
Vergesellschaftung auch nicht beseitigen können. Der Sozialismus hatte das
Risiko des einzelnen Produzenten oder einer Produzentengruppe auf die
Gesellschaft verlagert. Nun musste die Zentrale die Defizite der Perestroika
abdecken. Der Hersteller hatte mehr Eigenständigkeit, aber haftete nicht für
seine Fehler. Das Risiko übernahm weiterhin die Zentrale, die gleichzeitig
eine überdimensionierte Sozialpolitik finanzieren musste. Sie geriet immer
tiefer in die Schuldenfalle. Im Endeffekt betrieb sie auf diese Weise ihren
eigenen Ruin.
Alles mündete zwangsläufig in mehr Mangelwirtschaft und erbrachte infolge
bürokratischer Schwerfälligkeit, unzureichender Innovationskraft und
verbreiteter Unrentabilität der Betriebe stets weniger Waren und Devisen, als
Bevölkerung und Wirtschaft benötigten. Auch in Zeiten der Perestroika. Die zu
schmalen Fonds wurden »schwerpunktmäßig« eingesetzt, was zu wechselnden
partiellen Versorgungslücken führte, mit teilweise entwürdigenden Konsequenzen
für den Normalverbraucher. Mal gab es in einigen Teilen der Republik keine
Schlüpfer, mal keine Glühbirnen oder kein Toilettenpapier. Ein anderes Mal
beklagten sich Zahnärzte bei der Bezirksleitung der SED, dass sie keine
Kunststoffhandschuhe hatten, um ihre Patienten hygienisch einwandfrei behandeln
zu können.
Als Fazit bleibt: Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel als
Gegenentwurf zur Marktwirtschaft hat nie zu einer Gesellschaft geführt, die
mängelfrei oder weniger mangelhaft als die zu überwindende gewesen wäre. An die
Stelle des Gegensatzes von Arm und Reich setzte sie den Widerspruch zwischen
offiziellem und inoffiziellem Leben, zwischen der Nomenklatur und der Masse der
Bürger.
Welche Rolle spielen die Folgen der ruinösen DDR-Wirtschaft heute noch?
Ich bin nicht in der Lage zu analysieren, in welchem Maße
Probleme von Unternehmen im Westen von der gegenwärtigen Lage der Wirtschaft im
Osten verschärft wurden. Aber einige Spätfolgen bestimmten definitiv die
Entwicklung im Osten und belasten bis heute die vereinte Volkswirtschaft. Es
wirkt noch immer nach, dass durch Einheit und Währungsreform die einstigen
Staatsbetriebe der DDR noch schlechter als bisher auf dem Weltmarkt mithalten
konnten. Für ihre Erzeugnisse musste nun harte D-Mark bezahlt werden. Die
bisherigen, überwiegend aus der Dritten Welt stammenden Abnehmer der Produkte
aus der DDR aber wollten ihre DMark-Reserven nur für höherwertige Produkte aus
der BRD einsetzen. Die Alternative zum drohenden Konkurs der meisten
DDR-Betriebe bot die Treuhand. Bundesdeutsche und etliche ausländische
Unternehmen erwarben viele Betriebe, nicht selten für einen rein symbolischen
Preis, und sicherten damit wenigstens ein Minimum an Arbeitsplätzen. Gleichzeitig
mussten die Betriebe umstrukturiert und saniert werden. Die Kapazitäten der
Industrie in den alten Bundesländern reichten aus, um den gesamtdeutschen
Binnenmarkt wie die Außenmärkte zu bedienen. Daher ist nach wie vor die Mehrzahl
der Zentralen der deutschen Industrie in Westdeutschland angesiedelt, während
die dazugehörigen Industriebetriebe reine Tochtergesellschaften sind. In
diesen Unternehmen gibt es kein höheres und mittleres Management, keine Forschung,
Entwicklung, kein Controlling und Marketing. Als ein erster einsamer Leuchtturm
der Hoffnung ist mir das einstige Zeiss-Kombinat in Jena aufgefallen, das sich
unter Lothar Späth zum florierenden Großunternehmen Jenoptik gemausert hat.
Nach wie vor jedoch gilt: Wir dürfen uns in Ostdeutschland nicht mit einer
Zweigwerk-Economy begnügen, sondern müssen in wachsender Zahl Stammbetriebe
schaffen, um die Aufholgeschwindigkeit zu beschleunigen.
Die DDR war stärker von der Landwirtschaft abhängig als die Bundesrepublik.
Erschwerte das die Transformation nach der Vereinigung?
Nur auf den ersten Blick sieht das so aus. Der inzwischen
verstorbene Fritz Schenk, langjähriger Sekretär des ersten Planungschefs der
DDR und ein hervorragender Kenner der DDR-Wirtschaft, machte auf einen
wichtigen Aspekt der Transformationsphase aufmerksam. Schenk war 1957 in die
Bundesrepublik geflüchtet und war später mit Gerhard Löwenthal Redakteur der
ZDF-Sendung »Mitteldeutsches Tagebuch«. Schenk korrigierte das Bild, das die
SED selbst verbreitete, um die augenfälligen Rückständigkeiten der DDR
gegenüber dem Westen zu rechtfertigen. Der SED zufolge war die DDR der
überwiegend agrarisch geprägte Teil Deutschlands. Dem widersprechen jedoch
einige Tatsachen, die allerdings in Vergessenheit geraten sind.
Zur Potsdamer Konferenz 1945 hatte ein Gremium internationaler Statistiker die
wirtschaftlichen Ist-Daten Deutschlands für das letzte Friedensjahr 1939
ermittelt und nach Besatzungszonen gegliedert. Danach gab es in der amerikanischen
Zone (Bayern, Württemberg, Hessen) 433 000 Betriebe mit rund 3 Millionen
Beschäftigten, in der britischen Zone (Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Schleswig-Holstein,
Hamburg und Bremen) 453 000 Betriebe mit 4,2 Millionen Beschäftigten, in der
französischen Zone (Baden, Rheinland-Pfalz, ohne Saarland) 164 000 Betriebe mit
einer Million Beschäftigten und in der sowjetischen Zone 488 000 Betriebe mit 3,6
Millionen Beschäftigten. Diese hohe Zahl der Betriebe bei niedrigerer
Beschäftigtenquote gegenüber der britischen Zone drückte den für damalige
Verhältnisse fortgeschrittenen Rationalisierungsgrad in Mitteldeutschland aus.
Man baute schon mehr mit Maschinen. Laut Analyse hatte sich dieses Verhältnis
bis Kriegsende sogar noch zugunsten der sowjetischen Zone verbessert, die erst
gegen Kriegsende stark bombardiert wurde – davor war jedoch noch kräftig
investiert worden.
Stärker noch schlug zu Buche, dass sich in Ostdeutschland vor allem für eine
Friedenswirtschaft geeignete Wirtschaftszweige befanden: die Autounion (DKV,
Horch, Audi, Wanderer) in Sachsen, BMW in Eisenach und das hochmoderne
Opelwerk in Brandenburg, sowie entsprechende Zulieferer; die weltweit
modernsten Zweige der Elektrotechnik, Feinmechanik und Optik; graphische
Industrie, Verpackungstechii ik; der modernste Teil der Chemie, Pharmazie,
Film- und Kunststoffproduktion; die Textil- und Bekleidungsindustrie, die
Glas-, Keramik- und Möbelindustrie und Ausrüster für Einzelhandel, Gastronomie
und Handwerk. Die Liste der damals weltbekannten Produkte, Hersteller und
Standorte wäre sehr lang, und es handelte sich hauptsächlich um leistungsstarke
Mittelstandsbetriebe mit weltweiten Kundenstämmen. Gewiss haben auch dort der
Bombenkrieg und sowjetische Demontage verheerende Schäden angerichtet. Doch
wenn der mitteldeutsche Wirtschaftsraum in seiner Grundstruktur erhalten
geblieben wäre und am Marshall-plan hätte teilnehmen können, wären die Lücken
im Osten womöglich schneller geschlossen worden als in den Westzonen.
Demnach hat neben der Demontage für Reparationen die SED-Politik die
entscheidenden und längerfristigen Schäden an der industriellen Entwicklung in
der DDR angerichtet.
Ja. Hunderttausende Unternehmer wurden enteignet und
systematisch vertrieben, die Betriebe wurden in sozialistische Kombinate
eingegliedert und die zentrale Planwirtschaft sowjetischen Typs eingeführt.
Diese Maßnahmen wurden allen Satellitenstaaten der Sowjetunion aufgezwungen.
Die Politik Ulbrichts erhöhte zusätzlich den wirtschaftlichen Schaden der DDR.
Der SED-Chef war sich der geostrategischen Lage seines Landes bewusst. Er ging
davon aus, dass Moskau, um nicht den gesamten Satellitengürtel zu verlieren,
seine westlichste Bastion nie preisgeben würde. Doch der Kreml sollte neben
dem geostrategischen auch ein handfestes ökonomisches Interesse am Verbleib
der DDR im Sowjetbereich haben. Daher machte Ulbricht die DDR zum wichtigsten
Zulieferer für die sowjetische Schwer- und Rüstungsindustrie und zerstörte
damit den Rest der mitteldeutschen Betriebe.
Ende Oktober 1989 wurde für das Politbüro in einem Expertenbericht das
wirtschaftliche Endergebnis dieses unsäglichen Experiments beschrieben. Jenem
Bericht zufolge erbrachte die DDR nur noch ein Drittel der Produktivität des
Westens, was einen Überhang an Arbeitskräften von etwa 2 Millionen
Beschäftigten bedeutete. Mehr als sechzig Prozent der Industrieanlagen waren
verschlissen und mehr als dreißig Prozent älter als sechzig Jahre. Das
Gesamtvolumen des Investitionsplanes für 1989 lag unter 60 Milliarden Ostmark,
was nicht einmal mehr dringende Reparaturen deckte und Neuinvestitionen nahezu
ausschloss. Die DDR stand mit rund 200 Milliarden Ostmark in der Kreide, wodurch
praktisch alle Sparguthaben der DDR-Bürger wertlos waren. Die DDR war
außenwirtschaftlich mit 50 Milliarden Valuta überschuldet. 1990 hätte sie, wie
erwähnt, den Schuldendienst, also die Zinszahlungen für Kredite, die in
Devisen zu erstatten waren, nicht mehr erfüllen können. Die DDR hätte also
gegenüber dem Internationalen Währungsfonds Zahlungsunfähigkeit erklären
müssen. Da die DDR-Bürger 6 Milliarden Ostmark gespart hatten, hätten die
Einkünfte aller DDR-Bürger verringert und ihre Sparguthaben gesperrt werden
müssen. Der Bericht enthielt sich konkreter politischer Empfehlungen, machte
aber deutlich, dass die Überwindung der wirtschaftlichen Schwierigkeiten aus eigener
Kraft »die DDR unregierbar« machen würde. Daher empfahl er die umgehende Aufnahme
von Verhandlungen mit der Bundesregierung zur »Herstellung konföderativer
Strukturen zwischen DDR und BRD «.
Welcher Schluss hätte aus dieser Situation gezogen werden sollen?
Nur einer, von dem wir nach Honeckers Sturz noch weit
entfernt waren. Nämlich die schnelle und großzügige Rückgabe von Eigentum, das
die SED rund einer Million früherer Besitzer geraubt hatte. Man hätte die
Erfahrungen dieser Eigentümer nutzen können, ihre Marktkenntnisse
internationales Standing. Das hätte nachhaltiger gewirkt und die öffentliche
Hand weniger gekostet als alle Verkaufs- und Subventionsbemühungen der 3000
überwiegend aus dem Westen stammenden Juristen der Treuhandanstalt. Fritz
Schenk nannte es ein großes Versäumnis des deutschen Parlaments, dass es den
Einigungsvertrag nicht in der ersten Legislaturperiode nachgebessert hat. Damit
wurden die sozialistischen Hypotheken konserviert.
(c)-Vermerk: Günter Schabowski im Gespräch mit Frank Sieren, Wir haben fast
alles flasch gemacht. Die letzten Tage der DDR, 2009 Econ Verlag in der
Ullstein Bucherverlage GmbH, Berlin.
>> Kommentar zu diesem Artikel schreiben. <<
Um diesen Artikel zu kommentieren, melden Sie sich bitte hier an.