Erschienen in Ausgabe: No 116 (10/2015) | Letzte Änderung: 14.03.16 |
25 Jahre nach der Deutschen Einheit analysiert Hugo Müller-Vogg das Wunder der Wiedervereinigung. Ohne Helmut Kohl und Franz Josef Strauß wäre es nie dazu gekommen.
von Hugo Müller-Vogg
„Im Schatten der
Brandenburger Arkaden (…) kam es zu erschütternden Szenen. Wildfremde Menschen
fielen sich schluchzend in die Arme. Älteren Leuten, die an einen Eintritt
dieses Ereignisses zu ihrer Lebzeit nicht mehr geglaubt hatten, rannen die
Tränen über die Wangen.“
Das stammt nicht aus einem
Zeitungsbericht vom 10. November 1989. Das Zitat ist zehn Jahre älter und
stammt von dem japanischen Schriftsteller Masanori Nakamuri. Der beschrieb 1979
in seinem Polit-Reißer „Operation Heimkehr“ eine dramatische Zuspitzung des
Ost-West-Konflikts, in dessen Verlauf Ost-Berlin und Bonn sich einigen – und
vereinigen. Als der Autor gefragt wurde, weshalb er ein
derart wirklichkeitsfernes „happy end“ erfunden habe, gab er eine verblüffende
Antwort: „Ich wollte den Deutschen die Wiedervereinigung wenigstens als
Phantasieprodukt schenken, nachdem niemand mehr ernsthaft daran glaubt.“
Das wird heute
gerne vergessen: dass sich die Mehrheit der Deutschen vor 25 Jahren längst
darauf eingestellt hatte, für immer in zwei getrennten Staaten zu leben. Dass
führende Sozialdemokraten selbst nach dem Mauerfall über eine Wiedervereinigung
so urteilten: „reaktionär und hochgradig gefährlich“ (Gerhard Schröder),
„historischer Schwachsinn“ (Oskar Lafontaine), „illusionär“ (Hans-Jochen
Vogel). Dass die Grünen gar „Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter“
plakatierten.
Wie gut, dass
wenigstens Willy Brandt die SPD nach dem Mauerfall von ihrer Ablehnung der
Einheit abbrachte. Das war eine umso größere staatsmännische Leistung, als der
Ex-Kanzler noch 1988 der Meinung war, „die Hoffnung auf Wiedervereinigung wurde
geradezu zur Lebenslüge der zweiten deutschen Republik.“ Helmut Kohl zollte dem
einstigen Rivalen in seinen Memoiren dementsprechend Respekt – als „große
Ausnahme unter den Sozialdemokraten.“
Zu den
„Lebenslügen“ im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung gehört auch die These,
dies alles wäreeine quasi automatische
Konsequenz der „neuen Ostpolitik“ gewesen, die die Regierung Brandt/Scheel 1970
eingeleitet hatte. Vielmehr war es Helmut Kohl, der 1989/90 die historische
Chance ergriff und die Einheit herbeiführte – weil er die Einheit wollte. Ein
Bundeskanzler Oskar Lafontaine, dem die Fortsetzung sozialistischer Experimente
in einer selbständigen DDR sicher lieber gewesen wäre, hätte in jenen
Wendemonaten ganz anders gehandelt.
Selbstverständlich
haben die Moskauer Verträge zur Entspannung zwischen Bonn und Moskau
beigetragen und zu menschlichen Erleichterungen im geteilten Deutschland. Zur
ganzen Wahrheit gehört aber auch, dass der außenpolitische Vordenker der
sozialliberalen Koalition, Egon Bahr, die innerdeutsche Grenze lediglich
durchlässiger machen, aber keineswegs aufheben wollte. Alfred Grosser, der
deutsch-französische Publizist, hat die Strategie Bahrs nach dessen Tod so
beschrieben: „Er war nicht für die Wiedervereinigung. Er war für zwei deutsche
Staaten, die vereinigt und nicht in Europa eingebunden sind, sondern irgendwie
an ein Europa (…) angebunden sind.“
Noch etwas droht
aus dem Blickfeld zu geraten: der Beitrag von Franz Josef Strauß zur
Wiedervereinigung. Hätte der CSU-Vorsitzende 1973 die bayerische
Staatsregierung nicht quasi zu einer Klage gegen den Grundlagenvertrag
genötigt, hätte das Verfassungsgericht zwei wesentliche Feststellungen nicht
getroffen: dass das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes alle Verfassungsorgane
– ungeachtet der Moskauer Verträge – binde, und dass „Gesamtdeutschland“
unverändert existiere. Das wiederum war die Basis dafür, dass DDR-Bürger
„Deutsche im Sinne des Grundgesetzes“ blieben.
Auch wenn es kein
Ruhmesblatt für uns ist: Große Teile der politischen Klasse und mit ihnen die
Mehrheit der Westdeutschen hatten die Einheit längst abgeschrieben. Oder um es
in der Diktion des „Kanzlers der Einheit“ zu sagen: Sie hatten „die Einheit
verraten“. Daran jetzt zu erinnern, gebieten die Redlichkeit und nicht zuletzt
der Respekt vor der historischen Leistung Kohls und dem maßgeblichen Beitrag
von Strauß.
Der Publizist Dr.
Hugo Müller-Vogg ist Autor mehrerer Gesprächsbiografien, u. a. über Angela
Merkel („Mein Weg“), Christian Wulff („Besser die Wahrheit“) und Horst Köhler
(„Offen will ich sein und notfalls unbequem“). Sein neuestes Buch: „Jedes Volk
hat die Regierung, die es verdient! – Warum die Große Koalition keine großen
Ziele verfolgt“. Müller-Vogg ist u. a. Kolumnist der „Superillu“ sowie Kommentator
des Nachrichtensenders N24 und häufig Gast in politischen Talkrunden. Von 1988
bis 2001 war er Herausgeber der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“.
Den Text finden
Sie im neuen Bayernkurier, Heft 5
Jedes Volk hat die Regierung, die es
verdient!
Warum die Große Koalition keine großen Ziele
verfolgt
»War 2014 das Jahr, in dem Deutschland begonnen hat, seine Zukunft zu
verspielen? Gut möglich, dass wir das eines Tages sagen werden. Gut möglich,
dass wir das eines Tages sagen müssen. Jedenfalls dann, wenn die schwarz-rote
Kuschelkoalition weitere drei Jahre ›Wünsch dir was‹ spielt.«
(Hugo Müller-Vogg)
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