Erschienen in Ausgabe: No 116 (10/2015) | Letzte Änderung: 07.10.15 |
Für Walter Kardinal Kasper spielt der Begriff der eine zentrale Rolle in seinem Denken – Für Papst Franziskus ist die Forderung Barmherzigkeit zu übern, von eine Grundlage für seine Theologie für die Armen
von Walter Kardinal Kasper
Für
Papst Franziskus ist die Zukunft der Kirche eine arme Kirche für die Armen. Das
ist für ihn mehr als ein sozialethisches und sozialpolitisches Anliegen; ihm
geht es vor allem um ein biblisches, besonders ein christologisches Thema. Jesus
ist gekommen um den Armen das Evangelium zu verkünden. Die erste Seligpreisung
der Bergpredigt lautet: „Selig die arm sind vor Gott, denn ihnen gehört das Himmelreich“.
In einem der ältesten Texte des Neuen Testaments, in dem vorpaulinischen Hymnus
im Philipperbrief, heißt es von Jesus Christus: „Er war Gott gleich …
entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich“. Paulus nahm
dieses Motiv auf: „Er, der reich war, wurde euretwegen arm, um euch durch seine
Armut reich zu machen“.
Es bedurfte nicht des Marxismus und des
Sozialismus, um auf das Thema der Armen zu stoßen. Es hat schon in der
bisherigen Kirchengeschichte immer wieder eine wichtige Rolle gespielt,
angefangen mit der Jerusalemer Urgemeinde, in der alle alles gemeinsam hatten,
und dem altkirchliche Mönchtum, das eine bis heute fortdauernde Armutsbewegung
einleitete. Der Mönchsvater Antonius hörte das Wort „wenn du vollkommen sein
willst, geh, verkaufe deinen Besitz und gib das Geld den Armen … dann komm und
folge mir nach“, er hörte es und tat es. Im Mittelalter gab es verschiedene
Gegenbewegungen zu einer mächtigen und reichen Kirche, auch eines mächtig und
reich gewordenen Mönchtums. Am bekanntesten und bis heute fruchtbar ist die von
Franz von Assisi ausgelöste Armutsbewegung, deren Spiritualität in den
sogenannten dritten Orden auch auf die Laien ausstrahlte. Schließlich darf man
selbstverständlich die katholische Sozialbewegung des 19. Jahrhunderts und die
Sozialenzykliken der Päpste seit Leo XIII. nicht vergessen.
Auch auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil
spielte das Motiv der armen Kirche eine Rolle. Der grundlegende Text findet
sich in der Kirchenkonstitution: „Wie aber Christus das Werk der Erlösung in
Armut und Verfolgung vollbrachte, so ist auch die Kirche berufen, den gleichen
Weg einzuschlagen … So ist die Kirche, auch wenn sie ihrer Sendung menschlicher
Mittel bedarf, nicht gegründet um irdische Herrlichkeit zu suchen, sondern um
Demut, Selbstverleugnung, auch durch ihr Beispiel auszubreiten“. Am
bekanntesten ist die Aussage der Pastoralkonstitution, die Kirche teile „Freude
und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und
Bedrängten aller Art“.
In diesem Geist schlossen einige Wochen vor dem
Ende des Konzils 40 Bischöfe den sogenannten Katakomben-Pakt „Für eine dienende
und arme Kirche“. Sie bekannten sich zu einer Reihe von Selbstverpflichtungen
hinsichtlich des Lebensstils, der Titel, des Einsatzes für die Armen u. a. Zu
den Erstunterzeichnern gehörten bekannte Bischöfe wie Helder Camara und Aloiso
Lorscheider. Ein anderer bekannter Zeuge war Erzbischof Oscar Romero von San
Salvador, der am 14. März 1980 während der Eucharistie von einer bestelltem
Soldateska niedergeschossen wurde, weil er sich für die Rechte der Campesinos
eingesetzt hatte. Papst Franziskus hat den in der Kurie lange Zeit blockierten
Seligsprechungsprozess wieder in Gang gesetzt.
Nach dem Konzil wurde dieses Thema besonders in
der Befreiungstheologie in Lateinamerika aktuell. Die 2. Vollversammlung des
lateinamerikanischen Episkopats hat 1968 in Medellin (Kolumbien) die Option für
Armen formuliert; die Versammlung in Puebla (Mexiko) hat 1979 von der
vorrangigen Option für die Armen gesprochen, was die 7. Generalversammlung in
Aparecida (Brasilien) 2007 wiederholt und durch die Option für die
Ausgeschlossenen ergänzt hat. Der Architekt des Dokuments von Aparecida war der
damalige Vorsitzende der argentinischen Bischofskonferenz, Kardinal Jorge
Bergoglio. An vielen Stellen ist das Dokument von Aparecida in das Apostolische
Schreiben Evangelii Gaudium
eingegangen.
So steht Papst Franziskus mit seiner vorrangigen
Option für die Armen in einer großen Tradition. Er nimmt ein wichtiges Anliegen
des Konzils und der nachkonziliaren Entwicklung auf und setzt den
himmelschreienden Skandal der Armut und des Elends in der südlichen Hemisphäre
auf die Tagesordnung der universalen Kirche. Damit leitet er eine neue Phase
der Rezeptionsgeschichten des Zweiten Vatikanischen Konzils ein. Im Hintergrund
steht nicht unser westlicher Modernisierungsdiskurs sondern der
Dritte-Welt-Diskurs, der die negativen Folgen der Modernisierung und
Globalisierung für die südliche Hemisphäre bedenkt. Er sieht darin die Folgen
der anthropologischen Krise der Individualismus und Konsumismus.
Für seine deutlichen Worte ist der Papst auch in
Deutschland kritisiert worden. Vor allem der Satz „Diese Wirtschaft tötet“ hat
für Widerspruch gesorgt. Man muss freilich genau lesen. Es heißt nicht „Die
Wirtschaft tötet“ sondern „Diese Wirtschaft tötet.“ Der Papst kritisiert eine ganz bestimmte Art des
Wirtschaftens, nämlich den Trend – so Kardinal
Reinhard Marx – zur Ökonomisierung aller Lebensbereiche, die den Rhythmus der
Gesellschaft von den Verwertungsinteressen des Kapitals abhängig macht. In
der Tat, wenn 1,4 Milliarden Menschen in extremer Armut leben und jährlich 5,6
Millionen Kinder an Unterernährung sterben, dann kann mit dem globalen
Weltwirtschaftssystem etwas nicht in Ordnung sein. Gegen die Globalisierung der
Gleichgültigkeit will Franziskus seine Stimme erheben. Es geht ihm nicht um
eine wirtschaftswissenschaftliche Analyse, nicht um irgendein System, nicht um
irgendeinen „Ismus“. Das Wort Kapitalismus kommt gar nicht vor. Es geht um
einen prophetischen Aufschrei angesichts von Millionen von Menschen, welche nur
noch als Abfall (scarto) betrachtet
werden.
Die Antwort der Kirche können nach Papst
Franziskus nicht nur kirchliche Hilfsorganisationen sein, so sehr sie
Anerkennenswertes leisten. Franziskus geht weiter. Die Kirche ist keine
wohltätige „Nichtregierungsorganisation (NGO)“. Es geht darum, in den Armen
Christus zu begegnen, ja Christus zu berühren. Die Kirche ist der Leib Christi;
in den Wunden der anderen berühren wir die Wunden Christi. „Was ihr für einen
der Geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“. Das ist eine
zutiefst mystische Sicht. Sie erinnert an Franz von Assisi, der einen
Aussätzigen umarmte, und an die Berufungserfahrung der Mutter Teresa, die einen
Sterbenden in ihr Kloster trug und dabei die Erfahrung machte, Christus in den
Armen zu tragen. Ähnlich geht es Papst Franziskus mit der Option für eine arme
Kirche für die Armen um mehr als soziale Gerechtigkeit, es geht um
Barmherzigkeit.
Im
Zentrum des Evangeliums steht für Papst Franziskus die Botschaft von der
Barmherzigkeit Gottes. Sie ist zum Thema seines Pontifikats geworden, das sich
inzwischen in zahllosen Ansprachen findet und seither viele Menschen innerhalb
wie außerhalb der Kirche ins Herz getroffen, angesprochen und bewegt hat.
Barmherzigkeit ist ein zentrales biblisches
Thema. Schon im Alten Testament ist Gott nicht etwa ein bloß strafender und
rächender Gott. Vielmehr heißt es bei der Offenbarung an Mose: „Jhwh ist ein
barmherziger und gnädiger Gott“. Die Propheten und die Psalmen wiederholen
diese Aussage immer wieder „Der Herr ist barmherzig und gnädig, langmütig und
reich an Gnade“. Vollends grundlegend ist die Barmherzigkeit Gottes in der
Botschaft Jesu. Denken wir nur an das Gleichnis vom verlorenen Sohn, das man
besser als Gleichnis vom Barmherzigen Vater bezeichnen sollte, an das Gleichnis
vom Barmherzigen Samariteroder an die
Aussage im Epheserbrief: „Gott voll an Erbarmen“. Denken wir weiter an die
Seligpreisungen der Bergpredigt: „Selig sind die Barmherzigkeit tun“, die
Aussage „Barmherzigkeit will ich nicht Opfer“ oder an die Gerichtsrede Jesu,
nach der beim letzten Gericht allein die Werke der Barmherzigkeit zählen.
Die Tradition kennt nicht nur die leiblichen,
sondern auch die geistlichen Werke der Barmherzigkeit: Neben leiblichen Werken
wie die Hungrigen zu speisen und die Durstigen zu tränken stehen geistliche
Werke wie die Unwissenden belehren, die Zweifelnden beraten, die Traurigen
trösten. Viele Heilige haben das Thema der Barmherzigkeit weit besser
verstanden als die Schultheologie. Immerhin finden sich bei Thomas von Aquin
großartige Ansätze, die zum Weiterdenken einladen. Die Barmherzigkeit ist die
nach außen gewandte Seite des Wesens Gottes als Liebe. Die Barmherzigkeit ist
die Treue Gottes zu sich selbst und damit die grundlegendste aller Eigenschaften
Gottes. Ihr kommt der Primat vor der Gerechtigkeit zu. Letztlich ist sie der
Spiegel der Trinität. So wird mit der Barmherzigkeit die grundlegendste aller
theologischen Fragen, die Gottesfrage, neu gestellt.
Für Johannes XXIII. war die Barmherzigkeit die
schönste aller Eigenschaften Gottes. In seiner Rede zur Eröffnung des Zweiten
Vatikanischen Konzils am 11. Oktober 1962 mahnte er, heute nicht mehr die
Waffen der Strenge, sondern die Arznei der Barmherzigkeit anzuwenden. Damit hat
er den Grundton für die pastorale Orientierung des Konzils angeschlagen.
Johannes Paul II. ist die Bedeutung der Botschaft von der Barmherzigkeit
angesichts der Schrecken des Zweiten Weltkriegs, der Schoa und der
kommunistischen Zeit in Polen aufgegangen; diesem Thema hat er seine zweite
Enzyklika Dives in misericordia
(1980) gewidmet. Später hat er die Anregungen der Schwester Faustina Kowalska
aufgegriffen, den Sonntag nach Ostern zum Barmherzigkeitssonntag gemacht und
Schwester Faustina als Erste im Jubiläumsjahr 2000 programmatisch zur Ehre der
Altäre erhoben. Benedikt XVI. hat das Thema in seiner ersten Enzyklika Deus caritas est (2005) weitergeführt
und vertieft.
In dieser großen Tradition hat Jorge Bergoglio
als sein bischöfliches Leitwort das von Beda Venerabilis (7./8. Jahrhundert)
stammende Wort Miserando et eligendo
(„indem er mit den Augen seiner Barmherzigkeit auf mich geschaut hat, hat er
mich erwählt“) ausgesucht. Als Papst steht er dafür ein, das Thema der
Barmherzigkeit in unserer Situation neu fruchtbar zu machen. Immer wieder sagt
er: Gottes Barmherzigkeit ist unendlich; Gott wird nie müde, barmherzig zu
jedem zu sein, der danach verlangt. Gott gibt keinen Menschen auf, der auf
seine Barmherzigkeit vertraut. Ein bisschen Barmherzigkeit kann die Welt verändern.
Manche misstrauen inzwischen der Rede von der
Barmherzigkeit. Selbstverständlich kann man sie wie alles in der Welt
missverstehen und missbrauchen. Richtig verstanden ist Barmherzigkeit keine
billige Gnade, die es sozusagen zum Schleuderpreis gibt. Sie ist kein
Weichspüler, welcher die Dogmen und Gebote Gottes aushöhlt oder gar außer Kraft
setzt. Die Barmherzigkeit ist ja selbst eine Offenbarungswahrheit und kann
schon darum nicht gegen die Wahrheit ausgespielt werden. Sie ist selbst ein
Gebot Gottes. Sie überbietet Gerechtigkeit, hebt sie aber nicht auf; die
Gerechtigkeit ist vielmehr das Minimum der Barmherzigkeit, das wir dem anderen
Menschen schulden.
Barmherzigkeit ist weder bloßes Gutmenschentum
noch eine schwächliche pastorale Nachsichtigkeit und Nachgiebigkeit, sondern
Ausdruck der Souveränität und ungeschuldeten Großzügigkeit der göttlichen
Liebe, welche über alle noch so tiefen Gräben von Sünde und Schuld hinweg
jedem, der umkehrbereit ist, eine neue Chance schenkt. Sie lässt keinen, der danach
verlangt, endgültig fallen. Die Kirche, die sich als Sakrament der
Barmherzigkeit Gottes versteht, sollte daran Maß nehmen. Sie wir in Zukunft
daran noch mehr als bisher gemessen werden.
Die Botschaft von der Barmherzigkeit, die
aufatmen und immer wieder neu anfangen lässt, ist der Grund für die Freude des
Evangeliums. Sie ist die Botschaft von der je größeren Liebe Gottes, die der
wir bejaht und angenommen sind. In die selige Gemeinschaft mit Gott sind wir
berufen, durch die Taufe schon jetzt aufgenommen sind, sie steht uns wenn wir
gefallen sind immer wieder neu offen, und in sie dürfen wir einmal endgültig
eingehen. Die Freude als ganzheitliche Erfüllung und ganzheitliches Glück des
Menschen finden wir letztlich nur in der Gemeinschaft mit Gott. Die
Gemeinschaft und der Friede mit Gott machen uns zu den im Evangelium glücklich
gepriesenen Friedensstiftern, die ihre Freude nicht für sich behalten, sondern
mit allen Menschen teilen. In diesem Sinn, der den ganzen Menschen in seiner
Emotionalität wie seiner Spontaneität und Aktivität umfasst, ist das Reich
Gottes Friede und Freude im Heiligen Geist.
Mit der Botschaft von der Freude des Evangeliums
versteht sich die Kirche nicht länger als uneinnehmbare Festung im Zustand
permanenter Verteidigung gegenüber einer ihr fremd und oft feindlich
gegenüberstehenden Welt. Sie will Weggefährtin sein, welche Gaudium und spes, Freude und Hoffnung,
Trauer und Angst der Menschen, besonders Armen und Bedrängten aller Art teilt
(GS 1). Als Botin des Evangeliums will sie nicht Herrin des Glaubens, sondern
Dienerin der Freude sein.
Darum die Aufmunterung des Papstes, für die er sich auf das Apostolische
Schreiben von Paul VI. „Freut euch im Herrn“ (1975) bezieht: „Die Welt von
heute, die sowohl in Angst wie in Hoffnung auf der Suche ist, möge die
Frohbotschaft nicht aus dem Munde trauriger und mutlos gemachter Verkünder
hören, die keine Geduld haben und ängstlich sind, sondern von Dienern des
Evangeliums, deren Leben voller Glut erstrahlt, die als erste die Freude Christi
in sich aufgenommen haben“.
Literaturhinweis:
Walter
Kardinal Kasper, Papst Franziskus, Revolution der Zärtlichkeit und der
Liebe, Verlag Bibelwerk, Stuttgart 2015. € 14,30.
Walter
Kardinal Kasper
war als deutscher Kardinal viele Jahre Mitglied der römischen Kurie. Er
fungierte als Präsident des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der
Christen und war zehnter Bischof des Bistums Rottenburg-Stuttgart. Sein Buch
zur Barmherzigkeit hatte auf die Theologie von Papst Franziskus einen nicht zu
unterschätzenden Einfluß.
Der Text erschien im Bayernkurier, Heft 3
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