Erschienen in Ausgabe: Ohne Ausgabe | Letzte Änderung: 05.10.15 |
von Joachim Gauck
Der Tag der Deutschen Einheit. Das ist für unser Land seit 25 Jahren ein
Datum der starken Erinnerungen, ein Anlass für dankbaren Rückblick auf mutige
Menschen. Auf Menschen, deren Freiheitswille Diktaturen ins Wanken brachte, in
Danzig, Prag und Budapest. Auf Menschen auch in Leipzig, Plauen und so vielen
anderen Orten der DDR, die mit der Friedlichen Revolution die Vereinigung
beider deutscher Staaten überhaupt erst vorstellbar werden ließen. Ich begrüße
mit besonderer Freude diejenigen unter uns, die damals dabei waren. Wir wären
heute nicht hier, wenn Sie damals nicht aufgestanden wären!
Am 3. Oktober denken viele von uns an den Klang der Freiheitsglocke, an die
Freudentränen nicht nur vor dem Reichstag, an die Aufbruchsstimmung, ja: an
großes Glück.
Aber in diesem Jahr ist etwas anders. So mancher fragt: Warum zurückblicken?
Hat die Bundesrepublik momentan nicht drängendere Themen als dieses Jubiläum?
Was können wir feiern in einer Zeit, in der hunderttausende Männer, Frauen und
Kinder bei uns Zuflucht suchen? Einer Zeit, in der wir vor so immensen Aufgaben
für unsere Gesellschaft stehen?
Meine Antwort darauf lautet: Es gibt etwas zu feiern. Die Einheit ist aus
der Friedlichen Revolution erwachsen. Damit haben die Ostdeutschen den
Westdeutschen und der ganzen Nation ein großes Geschenk gemacht. Sie hatten
ihre Ängste überwunden und in einer kraftvollen Volksbewegung ihre Unterdrücker
besiegt. Sie hatten Freiheit errungen. Das erste Mal in der deutschen
Nationalgeschichte war das Aufbegehren der Unterdrückten wirklich von Erfolg
gekrönt. Die Friedliche Revolution zeigt: Wir Deutschen können Freiheit.
Und so feiern wir heute den Mut und das Selbstvertrauen von damals. Nutzen
wir diese Erinnerung als Brücke. Sie verbindet uns mit einem Erfahrungsschatz,
der uns gerade jetzt bestärken kann. Innere Einheit entsteht, wo wir sie
wirklich wollen und uns dann ganz bewusst darum bemühen. Innere Einheit
entsteht, wenn wir uns auf das Machbare konzentrieren, statt uns Zweifeln oder
Phantastereien hinzugeben. Und innere Einheit lebt davon, dass wir im Gespräch
darüber bleiben, was uns verbindet und verbinden soll.
Auch 1990 gab es die berechtigte Frage: "Sind wir der Herausforderung
gewachsen?" Auch damals gab es kein historisches Vorbild, an dem wir uns
orientieren konnten. Und trotzdem haben Millionen Menschen die große nationale
Aufgabe der Vereinigung angenommen und Deutschland zu einem Land gemacht, das
mehr wurde als die Summe seiner Teile.
Für mich steht die positive Bilanz im 25. Jahr der Deutschen Einheit außer
Frage. Auch wenn es zuweilen Enttäuschungen gab, wenn Wirtschaftskraft und
Löhne nicht so schnell gewachsen sind, wie die meisten Ostdeutschen hofften,
und wenn die finanzielle Förderung länger währt, als die meisten Westdeutschen
wünschten, so ist doch gewiss:
Die große Mehrheit der Deutschen, gleichgültig woher sie stammen, fühlt sich
in diesem vereinten Land angekommen und zuhause. Die Unterschiede sind kleiner
geworden und besonders in der jungen Generation fast gänzlich verschwunden.
Deutschland hat in Freiheit zur Einheit gefunden – politisch, gesellschaftlich,
langsamer auch wirtschaftlich und mit verständlicher Verzögerung auch mental.
Es ist wieder zusammengewachsen, was zusammengehörte – Willy Brandt hat
Recht behalten. Allerdings war der Prozess der Vereinigung deutlich
schwieriger, als die meisten in der Euphorie der Jahre 1989 und 1990 glaubten.
Beide Seiten hatten sich ihre Eindrücke vom "Drüben" ja lange nur aus
der Ferne gemacht. Als wir einander schließlich direkt in Augenschein nehmen
konnten, waren viele Menschen überrascht, zuweilen erschrocken. "Alles
marode", sagten die einen. "Alles Show", fanden die anderen.
Eins stimmt natürlich: Noch hat der Osten das wirtschaftliche Niveau des
Westens nicht erreicht. Gleichwohl, das Bild vom maroden Osten ist inzwischen
Vergangenheit. Der äußere Wandel ist überdeutlich in Vorher-Nachher-Bildern
darstellbar: hunderttausende von Eigenheimen, sanierte Straßen, Dörfer und Städte,
gerettete Baudenkmäler und Kulturstätten, saubere Flüsse und Seen. All die
runderneuerten Landstriche, sie geben Anlass zur Freude. Sie sind Zeugnisse
einer großen gemeinsamen Anstrengung und Belege dafür, dass auch die
Westdeutschen die Einheit als gesamtdeutsche Aufgabe angenommen haben, zeigten
sie sich doch von Anbeginn solidarisch mit jenen, von denen sie jahrzehntelang
getrennt waren. Ich kann und will dies am heutigen Festtag nicht für
selbstverständlich nehmen, sondern ich will es würdigen, ausdrücklich und
dankbar.
Wir sollten uns außerdem bewusst machen, dass auch die Westdeutschen den
Ostdeutschen ein Geschenk gemacht haben: mit dem Grundgesetz, das die Würde des
Menschen in den Mittelpunkt stellt, die Grundrechte sichert, mit einer funktionierenden
Demokratie, einer unabhängigen Justiz und einem sozialen System, das die
Schwachen auffängt.
Allerdings hat die Einheit den meisten Westdeutschen im täglichen Leben
wenig abverlangt, den Ostdeutschen dagegen mit einem enormen Transformationsdruck
sehr viel. Das neue Leben im Osten brachte ja nicht nur volle Einkaufsregale,
schnelle Autos und bunte Reisekataloge. Es brachte auch die massenhafte
"Abwicklung" sogenannter volkseigener Betriebe, brachte
Massenarbeitslosigkeit und Massenabwanderung. Leere Werksgelände, leere
Plattenbauten, leere Schulklassen – all das hinterließ seelische Spuren. Selbst
den Jüngsten von damals, die sich heute "Wendekinder" nennen, sind
sie als prägende Erinnerung im Gedächtnis geblieben.
Für 16 Millionen Menschen änderte sich in kürzester Zeit fast alles. Aber
manches – gemessen an den großen Hoffnungen – nicht schnell genug. Erst
allmählich wurde klar, dass die Angleichung der Lebensverhältnisse und
Mentalitäten in Ost und West eine Aufgabe, ein Prozess für Generationen – ja:
Plural! – sein würde.
Schmerzlich mussten wir im Osten erfahren, dass wir Demokratie 1989/90 zwar
über Nacht erkämpfen, nicht aber über Nacht erlernen konnten. Gestern Untertan,
heute Citoyen: was für ein Irrtum! Ohnmacht hatte sich in vielen Köpfen
eingenistet. Ohnmacht nach Jahrzehnten totalitärer Herrschaft, in denen die
Grundrechte der Menschen beschnitten und eigenverantwortliches Tun gelähmt
worden war, in denen freie Wahlen ein ferner Traum bleiben mussten. So erklärt
sich die wohl größte Herausforderung der Ostdeutschen im vereinten Land. Es
galt, jahrzehntelange Selbstentfremdung zu überwinden, möglichst im Zeitraffer.
Es galt, genau das zu tun, was vorher alles andere als erwünscht war:
selbständig zu denken und zu handeln. Von Freiheit nicht nur zu träumen,
sondern Freiheit in der Freiheit tatsächlich zu gestalten.
Trotz aller Schwierigkeiten: Millionen Ostdeutsche haben den persönlichen
Neuanfang gewagt und bewältigt, unter neuen Prämissen, in neuen Berufen oder an
neuen Orten. Millionen haben die Brüche ihrer Biografien in Zukunft verwandelt:
haben Unternehmen gegründet und Verwaltungen demokratisiert, haben an
Universitäten die freie Lehre und Forschung eingeführt, haben Vereine ins Leben
gerufen, wo sich vorher der Staat für allzuständig hielt. Millionen Menschen
haben sich einer fundamentalen Einsicht geöffnet: Neue Freiheit bietet neue
Möglichkeiten, aber sie verlangt zugleich die Übernahme neuer Verantwortung,
auch Selbstverantwortung. Besonders diese Veränderungsleistung der Ostdeutschen
war enorm. Sie wirkt bis heute nach. An dieser Stelle sagen wir auch einmal
denen Dank, die angepackt haben, was sie zuvor nie gelernt hatten: als ehren-
oder hauptamtlicher Bürgermeister, Abgeordneter, Sekretär einer freien
Gewerkschaft, Verantwortlicher einer demokratischen Partei, als Minister,
Ministerpräsident, gar als Bundeskanzlerin – sie alle hatten niemals erwartet,
zu tun, was sie dann taten. Wir schauen heute einmal auf sie alle – und sagen
"Danke".
Die innere Einheit Deutschlands konnte vor allem wachsen, weil wir uns als
zusammengehörig empfanden und weil wir in Respekt vor denselben politischen
Werten gemeinsam leben wollten. Doch nun, wo viele Flüchtlinge angesichts von
Kriegen, von autoritären Regimen und zerfallenden Staaten nach Europa und
besonders nach Deutschland getrieben werden, nun stellt sich die Aufgabe der
inneren Einheit neu. Wir spüren: Wir müssen Zusammenhalt wahren zwischen denen,
die hier sind, aber auch Zusammenhalt herstellen mit denen, die hinzukommen. Es
gilt, wiederum und neu, die innere Einheit zu erringen.
Diese Entwicklung hat vor 25 Jahren niemand ahnen können. Damals, nach dem
Zusammenbruch der kommunistischen Regime und dem Ende des Ost-West-Konflikts,
sahen wir sehr optimistisch in die Zukunft. Wir wähnten uns sogar am Beginn
einer neuen Epoche. Die Überlegenheit der Demokratie schien schlagend bewiesen,
ihr weltweiter Siegeszug nur noch eine Frage der Zeit. Der amerikanische
Politologe Francis Fukuyama verkündete das "Ende der Geschichte". Und
mit ihm glaubten viele – auch ich – an eine gerechtere, friedliche und
demokratische Zukunft.
Die Hoffnung auf eine solche Veränderung weltweit ist jedoch zerstoben.
Statt weiterer Siege von Freiheit und Demokratie erleben wir vielerorts das
Vordringen autoritärer Regime und islamistischer Fundamentalisten. Statt mit
größerer Friedfertigkeit sind wir konfrontiert mit Terrorismus, Bürgerkriegen,
imperialen Landnahmen und einer Renaissance der Geopolitik. Und die
Gemeinschaft der Europäer, die vor 25 Jahren begann, Ost- und Westeuropa
zusammen zu führen, sie findet sich nun mit der Euro-Rettung, auch
Austrittsdiskussionen und vor allem mit der Bewältigung der Fluchtbewegungen
mitten in einer Zerreißprobe wieder.
Aber was heißt es nun, die innere Einheit wiederum und neu zu erringen, wenn
sich die Zusammensetzung von Bevölkerungen in kurzer Zeit erheblich verändert?
Wie schaffen es Staaten, wie schaffen es Gesellschaften, ein inneres Band
zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen herzustellen? Und wie kann die
Europäische Union Einvernehmen erreichen, wenn die Haltungen gegenüber
Flüchtlingen so unterschiedlich sind?
Noch führt der Druck die europäischen Staaten nicht zusammen. Allerdings
zeigen die jüngsten Entscheidungen der Europäischen Union, dass die Einsicht
wächst: Es kann keine Lösung in der Flüchtlingsfrage geben – es sei denn, sie
ist europäisch. Wir werden den Zustrom von Flüchtlingen nicht verringern können
– es sein denn, wir erhöhen unsere gemeinsamen Anstrengungen zur Unterstützung
von Flüchtlingen in den Krisenregionen, sowie vor allem zur Bekämpfung von
Fluchtursachen. Und wir werden unsere heutige Offenheit nicht erhalten können –
es sei denn, wir entschließen uns alle gemeinsam zu einer besseren Sicherung
der europäischen Außengrenzen.
Die Gewissheit über diese gemeinsamen Aufgaben hebt jedoch die Differenzen
zwischen den Mitgliedstaaten nicht automatisch auf. In den aktuellen Debatten
offenbaren sich unterschiedliche Haltungen aufgrund unterschiedlicher
historischer Erfahrungen. Das erleben wir schon innerhalb der Bundesrepublik.
Westdeutschland konnte sich über mehrere Jahrzehnte daran gewöhnen, ein
Einwanderungsland zu werden – und das war mühsam genug: ein Land mit
Gastarbeitern, die später Einwanderer wurden, mit politischen Flüchtlingen,
Bürgerkriegsflüchtlingen, Spätaussiedlern. Anders war es für die Menschen im
Osten. Viele von ihnen hatten bis 1990 kaum Berührung mit Zuwanderern. Wir
haben erlebt: Die Veränderung von Haltungen gegenüber Flüchtlingen und
Zuwanderern kann immer nur das Ergebnis von langwierigen – auch konfliktreichen
– Lernprozessen sein. Diese Einsicht sollte uns den Respekt vor den Erfahrungen
anderer Nationen erleichtern.
Wenn wir Deutsche uns an die "Das Boot ist voll"-Debatten vor
zwanzig Jahren erinnern, dann erkennen wir, wie stark sich das Denken der
meisten Bürger inzwischen verändert hat. Der Empfang der Flüchtlinge im Sommer
dieses Jahres war und ist ein starkes Signal gegen Fremdenfeindlichkeit,
Ressentiments, Hassreden und Gewalt. Und was mich besonders freut: Ein neues,
ganz wunderbares Netzwerk ist entstanden – zwischen Ehren- und Hauptamtlichen,
zwischen Zivilgesellschaft und Staat. Es haben sich auch jene engagiert, die
selbst einmal fremd in Deutschland waren oder aus Einwandererfamilien stammen.
Auf Kommunal-, Landes- wie Bundesebene wurde und wird Außerordentliches
geleistet. Darauf kann dieses Land zu Recht stolz sein und sich freuen. Ich
sage: Danke Deutschland!
Und dennoch spürt wohl fast jeder, wie sich in diese Freude Sorge schleicht,
wie das menschliche Bedürfnis, Bedrängten zu helfen, von der Angst vor der
Größe der Aufgabe begleitet wird. Dies ist unser Dilemma: Wir wollen helfen.
Unser Herz ist weit. Aber unsere Möglichkeiten sind endlich.
Tatsache ist: Wir tun viel, sehr viel, um die augenblickliche Notlage zu überwinden.
Aber wir werden weiter darüber diskutieren müssen: Was wird in Zukunft? Wie
wollen wir den Zuzug von Flüchtlingen, wie weitere Formen der Einwanderung
steuern – nächstes Jahr, in zwei, in drei, in zehn Jahren? Wie wollen wir die
Integration von Neuankömmlingen in unsere Gesellschaft verbessern?
Wie 1990 erwartet uns eine Herausforderung, die Generationen beschäftigen
wird. Doch anders als damals soll nun zusammenwachsen, was bisher nicht
zusammen gehörte. Ost- und Westdeutsche hatten ja dieselbe Sprache, blickten
auf dieselbe nationale Kultur und Geschichte zurück. Ost- und Westdeutsche
standen selbst in Zeiten der Mauer durch Kirchengemeinden, Verwandte oder
Freunde in direktem Kontakt miteinander und wussten über die Medien voneinander
Bescheid. Wie viel größere Distanzen dagegen sind zu überwinden in einem Land,
das zum Einwanderungsland geworden ist. Zu diesem Land gehören heute Menschen
verschiedener Herkunftsländer, Religionen, Hautfarben, Kulturen – Menschen, die
vor Jahrzehnten eingewandert sind, und zunehmend auch jene, die augenblicklich
und in Zukunft kommen, hier leben wollen und auch eine Bleibeperspektive haben.
Ähnlich wie bei den Zuwanderern seit den 1960er Jahren, aber wohl in
größerem Ausmaß werden wir erleben: Es braucht Zeit, bis Einheimische sich an
ein Land gewöhnen, in dem Vertrautes zuweilen verloren geht. Es braucht Zeit,
bis Neuankömmlinge sich an eine Gesellschaftsordnung gewöhnen, die sie nicht
selten in Konflikt mit ihren traditionellen Normen bringt. Und es braucht Zeit,
bis alte und neue Bürger Verantwortung in einem Staat übernehmen, den alle
gemeinsam als ihren Staat empfinden.
Wir befinden uns aktuell in einem großen Verständigungsprozess über das Ziel
und das Ausmaß der neuen Integrationsaufgabe. So etwas ist in Demokratien auch
verbunden mit Kontroversen – das ist normal. Aber meine dringende Bitte an
alle, die mitdebattieren, ist: Lassen Sie aus Kontroversen keine Feindschaft
entstehen. Jeder soll merken, wir debattieren, weil es uns um Zusammenhalt
geht, um ein Miteinander, auch in der Zukunft.
Und wir nehmen aus unserer jüngeren Geschichte etwas mit, was wir nie
aufgeben dürfen: den Geist der Zuversicht. Wir haben nicht nur davon geträumt,
unser Leben selbstbestimmt gestalten zu können, wir haben es getan! Wir sind
die, die sich etwas zutrauen.
So gestimmt fragen wir uns jetzt:
Was aber ist das innere Band, das ein Einwanderungsland zusammenhält? Was
ist es, was uns verbindet und verbinden soll?
In einer offenen Gesellschaft kommt es nicht darauf an, ob diese Gesellschaft
ethnisch homogen ist, sondern ob sie eine gemeinsame Wertegrundlage hat. Es
kommt nicht darauf an, woher jemand stammt, sondern wohin er gehen will, mit
welcher politischen Ordnung er sich identifiziert.
Gerade weil in Deutschland unterschiedliche Kulturen, Religionen und
Lebensstile zuhause sind, gerade weil Deutschland immer mehr ein Land der
Verschiedenen wird, braucht es die Rückbindung aller an unumstößliche Werte.
Einen Kodex, der allgemein als gültig akzeptiert ist.
Ich erinnere mich noch gut, welche Ausstrahlung die westlichen Werte bei uns
in der DDR und in anderen Staaten des ehemaligen Sowjetblocks besaßen. Wir
sehnten uns nach Freiheit und Menschenrechten, nach Rechtsstaat und Demokratie.
Diese Werte, obwohl entstanden im Westen, sind zur Hoffnung für Unterdrückte
und Benachteiligte auf allen Kontinenten geworden. Die Demokratie hat seit 1990
zwar keinen weltweiten Siegeszug angetreten, aber ihre Werte sind weltweit
präsent, werden zunehmend nicht mehr als westlich, sondern als universell
bezeichnet und verstanden.
Doch nicht immer und nicht überall vermögen sie jeden zu überzeugen, auch
nicht bei uns. Wir wissen, dass selbst im Westen die eigenen Werte verletzt
wurden und werden. Aber damit sind nicht die Werte an sich diskreditiert, sondern
diejenigen, die sie verraten.
Unsere Werte stehen nicht zur Disposition! Sie sind es, die uns verbinden
und verbinden sollen, hier in unserem Land. Hier ist die Würde des Menschen
unantastbar. Hier hindern religiöse Bindungen und Prägungen die Menschen nicht
daran, die Gesetze des säkularen Staates zu befolgen. Hier werden
Errungenschaften wie die Gleichberechtigung der Frau oder homosexueller
Menschen nicht in Frage gestellt und die unveräußerlichen Rechte des
Individuums nicht durch Kollektivnormen eingeschränkt – nicht die der Familie,
nicht der Volksgruppe, nicht der Religionsgemeinschaft. Toleranz für Intoleranz
wird es bei uns nicht geben. Und außerdem gibt es in unserem Land politische
Grundentscheidungen, die ebenfalls unumstößlich sind. Dazu zählt unsere
entschiedene Absage gegen jede Form von Antisemitismus und unser Bekenntnis zum
Existenzrecht von Israel.
Wir kennen keine andere Gesellschaftsordnung, die dem Individuum so viel
Freiheit, so viele Entfaltungsmöglichkeiten und so viele Rechte einräumt wie
die Demokratie. Wir kennen keine andere Gesellschaftsordnung, die im
Widerstreit von Lebensstilen, Meinungen und Interessen zu so weitgehender
Selbstkorrektur fähig ist. Wir kennen auch keine Gesellschaftsordnung, die sich
so schnell neuen Bedingungen anzupassen und zu reformieren vermag, weil sie –
wie der Philosoph Karl Popper einmal sagte – auf einen Menschen baut, "dem
mehr daran liegt zu lernen, als recht zu behalten".
Für eben diese Werte und für diese Gesellschaftsordnung steht die Bundesrepublik.
Dafür wollen wir auch unter den Neuankömmlingen werben – nicht selbstgefällig,
aber selbstbewusst, weil wir überzeugt sind: Dieses Verständnis, kodifiziert im
Grundgesetz, ist und bleibt die beste Voraussetzung für das Leben, nach dem
gerade auch Menschen auf der Flucht streben. Ein Leben – wie es unsere
Nationalhymne beschreibt – in Einigkeit und Recht und Freiheit.
Quelle: www.bundespraesident.de
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