Erschienen in Ausgabe: No 117 (11/2015) | Letzte Änderung: 14.11.15 |
Bei der Unterstützung in der Flüchtlingskrise setzt Bundeskanzlerin Angela Merkel auf die Hilfe aus der Türkei. Doch der türkische Präsident Erdogan ist kein Garant für Merkels neue Strategie. Die Bundeskanzlerin hat sich ein neues Paradox geschaffen, das nun das gesamte Europa herausfordert. Selbst ein EU-Beitritt der Türkei wird nicht mehr ausgeschlossen.
von Stefan Groß
Wer dachte, die Willkommenskultur sei vorerst der letzte Schachzug in Sachen
merkelanischer Außenpolitik sieht sich getäuscht. Während sich in Deutschland
der Kampf zwischen Leitkultur und Selbstbewußtsein einerseits und
Multi-Kulti-Kultur andererseits nicht nur zu einem mentalen Guerillakrieg
ausweitet, Deutschland sich existentiell und emotional, ja körperlich
zerfleischt und die PEGIDA-Bewegung endgültig den
Rechtsruck vollzieht, gießt Angela Merkel, die Europäerin par excellence, neues
Öl in das lodernde Feuer und heizt die Stimmung im Land noch weiter auf.
Mit ihrer Osmanischen Reise wird sich Merkel nicht nur hierzulande, sondern
auch auf europäischer Ebene noch weniger Freunde machen. „Die Linke“ sprach
schon von „moralischer Bankrotterklärung“ und auch die „Grünen“ waren notorisch
empört. Gelinde erscheint da noch die Kritik aus den eigenen Reihen um CDU-Politiker Christian von Stetten, der offen gegen die
Kanzlerin rebelliert und dafür plädiert, das eine „Prüfung einer
Grenzbefestigung kein Tabu sein“ kann. Die Lage bleibt ernst. Ein Brandbrief
von 215 Bürgermeistern die ihren Unmut gegenüber der Flüchtlingspolitik äußern,
macht die Situation nicht einfacher. Auch der israelische Ministerpräsident
Benjamin Netanjahu hat Merkels türkische Liebeleien registriert und reagiert
mit irritierenden Äußerungen; er schiebt ausgerechnet den Palästinensern die
Schuld am Holocaust in die Schuhe.
Die CDU zerlegt sich
selbst
Fast unberührt von alledem hat die Kanzlerin ein neues Credo, das nun auch
substantiell die CDU aufzulösen droht und das Diktum,
die Türkei nicht in die EU aufzunehmen, persiflieren könnte. Beim CDU-Kürzel geht es nach 70 Jahren gewaltig rund: Das „C“ der
Adenauer-Ära ist schon weg – trotz neuer Willkommenskultur, das „D“ verliert
durch die Gespräche mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan an
Klarheit und Eindeutigkeit, droht zu verwischen und scheint korrumpierbarer
denn je, und über dem „U“ schwebt seit geraumer Zeit ein unruhiger Geist, den
der „Unruhestifter“ aus Bayern nährt. Kurzum: Merkels Ankara-Visite gleicht
einem politischen Hütchenspiel mit ungewissen Überraschungen, sei es
finanziell, politisch oder moralisch, nur mit dem Unterschied, dass Merkel die
Mitspielerin, der Hütchenspieler ein anderer ist. Wer beim Hütchenspiel
gewinnt, ist bekannt.
Merkels Plan zur Befriedung der Flüchtlingsströme ist zwar relativ einfach
gestrickt, aber ebenso riskant und indirekt auch nicht besonders ethisch. Denn:
Einerseits soll die Türkei, was Merkels Deutschland nicht schafft oder gelingen
will, die Flüchtlingsströme abhalten. Von drei Milliarden Euro ist die Rede,
diese Zahl ist bereits schon jetzt illusionär, aber diese sollen aufgebracht
werden, um die Flüchtlingssituation im Land zu verbessern und die rund 7000
Kilometer lange türkische Küste, die Landgrenzen sind davon ausgenommen, dicht
zu machen. Andererseits wird Ankara aus diesem Deal den größten Nutzen schlagen
– europäische Anerkennung, Aufmerksamkeit und Aufwertung inklusive. Zwar wird
Erdogan einen Teil des Geldes tatsächlich für die Abwehr von Flüchtlingen
einsetzen, was aber dennoch wahrscheinlicher ist: er wird viel Geld für seinen
harten Kurs gegenüber den Kurden ausgeben. Auf kurz oder lang gesehen, sind die
Leidtragenden von Merkels neuer Ankara-Politik die Kurden. Sie sind als
Spielbrett europäischer Befriedungspolitik. Die moralische Misere bei diesem
Szenario, die sich an Europas Grenzen abspielt, bleibt, qualitativ gesehen,
dieselbe. Allein quantitativ betrachtet, ergibt sich ein Nutzwert, denn die
Zahl der unter Erdogan leidenden Kurden ist gegenüber den weltweit
einströmenden Flüchtlingen zahlenmäßig begrenzt. Einem unethischen
Utilitarismus samt dessen Maxime: „den größten Nutzen für die größte Zahl“ ist damit
– zumindest für die Kurden – Tor und Tür geöffnet.
Merkel ignoriert den antieuropäischen Kurs
Erdogans
Was Merkel derzeit völlig ignoriert, ist die europäische Entfremdung der
Türkei in den vergangenen Jahren. Jenseits des Bosporus hält man nicht viel von
europäischen Werten und EU-Politikerin. Man sieht in ihnen eher elitäre
Spießbürger und Jammerlappen, denen man nicht mehr als eine höfische
Kaffeehauskultur zutraut. Auch dass die Türkei nicht den Islamischen Staat
bekämpft, sondern die kurdische PKK bombardiert und
darüber hinaus eine fragwürdige Rolle beim Syrienkonflikt spielt, scheint von
der politischen Tagesordnung verschwunden oder billigend in Kauf genommen zu
werden.
Der Preis, den Merkel zu zahlen bereit ist, ist bereits jetzt enorm groß.
Konkrete Versprechen aus Ankara gibt es nicht, allein dass illegal von der
Türkei in die EU eingereiste Flüchtlinge ab Juli 2016 wieder zurückgenommen
werden, bleibt ein schwacher Trost. Und Merkels emphatische Wahrnehmung, dass
sie gespürt habe, dass die Türkei an einem verstärkten Grenzschutz arbeite,
kann die Logikerin letztendlich doch wirklich nicht befriedigen.
Merkels Besuch, der dem innenpolitisch wie außenpolitisch angeschlagenen
türkischen Präsident Erdogan gebührenden Aufwind für die Parlamentswahlen am 1.
November verschafft, muss diesem wie ein Lottogewinn mit Blankoscheck
vorkommen. Die Europa-Kanzlerin bietet wie auf einem türkischen Basar den
Ausverkauf der europäischen Werte an, hofft, dass die Türkei die Versöhnung mit
den Kurden nach der Wahl anstrebe und will darüber hinaus das Land beim
EU-Beitritt kräftiger unterstützen. Lapidar, geradezu unbeholfen, wirkt da der
Satz: „Ich gehe davon aus, dass hier faire und freie Wahlen stattfinden […].“
Die deutsche Realpolitik hat ihre Schärfe verloren und ist ein Stück weit dem
Prinzip Hoffnung näher gerückt – Ernst Bloch und die Utopie lassen grüßen.
Das Abendland islamisiert sich von selbst
Paradoxer kann der Rettungsversuch einer deutschen Kanzlerin durch die
Türkei nicht sein. Das aufgeklärte Europa in Personalunion bittet um
Unterstützung bei einem Land, das erhebliche Defizite beim Umgang mit den
wesentlichen Grundrechten, insbesondere bei Meinungs- und Pressefreiheit auf
der Tagesordnung stehen hat. Und noch paradoxer erscheint es, dass ausgerechnet
Erdogan, weitaus kein freiheitlich-liberaler Demokrat von Gottes Gnaden, der
neue Retter Europas sein soll. Der träumt nun den schon nicht mehr absurden
Traum, dass seine Landsleute endlich in den Genuss der Visum-Freiheit kommen
und in den Schengen-Raum einreisen.
Ausgerechnet der Türkei kommt nun als Sonderrolle eine Scharnierfunktion für
die hierzulande gescheiterte Flüchtlingspolitik zu, was im Umkehrschluss dazu
führt, dass nicht Berlin näher an Ankara rückt, sondern Ankara näher an Berlin.
Galt Wien während der Ersten Wiener Türkenbelagerung von 1529 bis zur zweiten
Belagerung 1683 als Bollwerk gegen die Islamisierung des Abendlandes, so
islamisiert sich das Abendland nun selbst – aus Freiheit natürlich! Schon Baron
von Münchhausen hatte sein türkisches Abenteuer, geriet in die Sklaverei und
katapultierte sich durch türkische Bohnen zum Mond – davon zurückgekommen fiel
er nicht nur in ein tiefes Loch, sondern schnitt sich bei seiner Rückkehr zur
Erde das Seil von oben her ab, um es unten wieder anzufügen. Vielleicht ist
Gottfried August Bürgers Münchhausen-Geschichte realitätsnaher, als man es
derzeit vermuten könnte. Wenn das der neue Kurs aus Berlin ist, dann darf man
gespannt sein!
Selbst die gemäßigte Vorsitzende der CSU-Landesgruppe
im Bundestag, Gerda Hasselfeldt, betonte gegenüber der „Die Welt“, dass eine
enge Kooperation bei der Flüchtlingskrise unbedingt erforderlich sei, man dürfe
der Türkei jedoch nicht zu viele Zugeständnisse machen, „ein EU-Beitritt steht
nicht auf der Tagesordnung.“
Droht uns der Ausverkauf der abendländischen
Aufklärung?
Die Türkeifrage polarisiert schon seit Jahrhunderten die Geister. Erasmus
von Rotterdam beispielsweise, ein Europäer von Weltrang, hatte bereits 1531 ein
Traktat zur „Türkenabwehr“ geschrieben. Auch Martin Luther, seine Antipode,
veröffentlichte 1529 eine „Heerpredigt wider die Türcken“. Vieles, von dem, was
gerade politisch geschieht, hätte der niederländische Humanist in seinem Buch:
das „Lob der Torheit“ sicherlich genial verarbeiten können, schon allein um
Merkels „Offenheit“ Erdogan gegenüber für eine vernünftige Sicht der Dinge zu
plädieren. Nur würde er heute ergänzen: Die Politik „steht einer gewissen
Torheit recht nahe; hingegen mit der Weisheit verträgt sie sich schlecht!“ Ein
weiser Regent , so argumentierte er in seinem „Fürstenspiegel“, der auch zur
Lektüre der Kanzlerin werden sollte, darf seine christlich-moralischen Maximen
nicht aufgeben, denn diese seien die Voraussetzung für eine friedliche Politik.
Nicht umsonst war der Renaissancegelehrte ein Wegbereiter der europäischen
Aufklärung, der wir viel verdanken, und die wir hoffentlich jetzt nicht
leichten Fußes über Bord werfen.
Auch die Alternative für Deutschland (AfD) hat Erasmus nun für sich entdeckt
und eine parteinahe Stiftung gegründet, die vom Publizisten Konrad Adam, der
dem rechtskonservativen AfD-Flügel zugerechnet wird, geleitet wird. Mit Erasmus
soll nun „die proeuropäische, aber Euro-kritische Haltung der Partei“
untermauert werden.
Nun kann man in Angesicht dieser Tatsache nur hoffen, das nicht die AfD Europa
rettet, sondern Angela Merkel sich an die Grundwerte europäischer Kultur und
Politik erinnert.
Quelle: http://www.theeuropean.de/
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