Erschienen in Ausgabe: No 118 (12/2015) | Letzte Änderung: 01.12.15 |
von Stefan Groß
Während auf der einen Seite die CSU an einer
Obergrenze festhält und diese von Bundeskanzlerin Merkel erwartet, ja fast
schon gebetsmühlenhaft einklagt, ist die Kanzlerin der Herzen, der
internationalen Herzlichkeit, nicht bereit, diesen Terminus, auch auf dem CSU-Parteitag am 20. November 2015 nicht, in ihr politisches
Vokabular aufzunehmen. Höchst interessant und fast ein Bühnenauftritt mit
Symbolkraft war Seehofers erneutes Plädoyer für eine Obergrenze. Die Kanzlerin,
danebenstehend, wirkte wie eine Primanerin, die vor versammelter Mannschaft die
Leviten zu lesen bekam. Deutlich der Hinweis des Partei-Chefs, dass in diesem
Punkt die CSU weiter an ihrem Kurs festhalten wird,
strikt, absolut und rigoros. Merkels Gestik hingegen, die Raute war kleiner,
gedrungener als sonst, musste bei der Belehrung hart mit sich ringen, um die
Contenance zu wahren; nur dann und wann, spürte man doch einen merklichen Unmut
der Weltpolitikern, eine gewissen Demütigung, die einer Autoritäts- und
„Majestätsbeleidigung“ gleichkam. Die von der CSU
erhoffte Stunde der Angela Merkel blieb in München aus. Das Resümee: Merkel
blieb hart: „Es gibt keine Obergrenze“ und Seehofer konterte: „Wir sprechen uns
noch.“
Auch in der Beliebtheitsskala rutscht die Kanzlerin mittlerweile, aber dafür
kontinuierlich, lawinenartig in den Keller – dies nicht nur in Bayern. Der
Abtritt von der Bühne in München war dann auch mehr als eilig, fast übereilig.
Merkel wirkte gekränkt, ihre stoische Gelassenheit – zumindest in ihrer Mimik –
dahin! Merkel und die Obergrenze wollen nicht zusammenkommen – vielleicht, weil
die Kanzlerin als ehemalige ostdeutsche Bürgerin mit Grenzen einfach etwas
anderes assoziiert, oder eben als Weltpolitikern die Grenzen für obsolet
erklärt.
Immerhin aber, so ein Minimalkonsens in der Union, konnte man sich in den
letzten Tagen darauf einigen, die Außengrenzen Europas intensiver zu sichern.
Soweit ein Erfolg – geschuldet mit Sicherheit den Terrorakten von Paris! Das
Thema der Stunde, zumindest in München, war aber wieder nicht das konkrete Wie,
wie die aktuelle Flüchtlingssituation gelöst werden kann, sondern nur eine in
Aussicht gestellte Lösung auf europäischer und internationaler Ebene, die aber
Zeit braucht, die derzeit keiner hat.
Für Bismarck muss ein guter Politiker ein
gutes Grenzverständnis haben
Ein Blick in die Geschichte zeigt, und vielleicht orientiert sich hieran
Merkels historisches Verständnis, dass es im 11. Jahrhundert noch gar keine
Grenzen im heutigen Sinne gegeben hat. Es gab nur den Begriff der „Marken“,
wenn es darum ging, Orte zu bezeichnen, wo sich einzelne Völker begegneten, um
im Sinne der christlichen Kultur in friedlicher Gemeinschaft zu leben. Das
altslawische Gegenwort dafür war „Granica“. Damit verbunden war keineswegs
friedliche Koexistenz, sondern der ausdrückliche Hinweis auf die Be-Wahrung der
jeweiligen Volksidentität, Religion, Sprache sowie Ritualen und Gebräuchen. So
hatte es auch noch Bismarck gesehen und dafür plädiert, dass ein guter
Politiker ein gutes Grenzverständnis haben müsse. Für ihn war klar: Grenzen
müssen sein!
So sah es nicht nur Bismarck, so sehen es derzeit viele Bundesbürger, deren
Status quo auf der Grenzziehung sowohl im privaten wie im öffentlichen Raum
beruht. Grenzen sichern die Freiheit, eben die begrenzte, aber damit rechtlich
legitimierte Freiheit. Ohne Grenzen oder Gesetze, gäbe es keine
Rechtssicherheit, sondern blanke Willkür. Wer Grenzen überschreitet, Gesetze
bricht, wird verklagt, so zumindest der Kern der demokratischen
Rechtssprechung.
Die Kluft zwischen Wählervolk und Politik
wird größer
In der Flüchtlingskrise offenbart sich, dass die Meinungen zwischen
Politkern einerseits und vielen Bürgern andererseits auseinanderdriften, wenn
es darum geht, wie weit die Souveränität des Staates noch reicht. Für viele
unter ihnen bestimmt die Bundesrepublik derzeit nicht mehr, wer das Land
betreten darf und sehen darin (zurecht) einen Kontrollverlust des
Rechtsstaates, denn der deutsche Staat toleriert immer noch die massive und
massenhafte Missachtung seiner Gesetze. 900.000 Flüchtlinge sind dieses Jahr in
der Bundesrepublik angekommen. Mittlerweile fordert auch die Industrie, die
zuerst – aufgrund des demografischen Wandels – die Zuwanderung begrüßt hat,
weil man auf Fachkräfte hoffe, eine Obergrenze. Demographie hin oder her. Es
wird eine mindestens ebenso große Herausforderung sein, die zum Teil schlecht
ausgebildeten Arbeitskräfte aus dem Ausland in den deutschen Arbeitsmarkt zu
integrieren. Zur Jahrhundertaufgabe, zur größten Herausforderung nach der
Wiedervereinigung, wie die Kanzlerin in München hervorhob, tritt diese weitere
Mammutaufgabe dazu.
Hinzu kommt, dass die Politik derzeit übersieht, dass sie ein weiteres
Versprechen nicht einhalten konnte, das sie aber in Verbindung mit der
europäischen Einigung gab – das der sicheren Außengrenzen. Jeder, der jetzt
ruft, Europa dürfe nicht zu einer Festung werden, vergisst, dass genau das der
Plan von Schengen war: keine Kontrollen mehr an den Grenzen zu Frankreich,
Polen oder Österreich, dafür aber eine um so striktere an den Außengrenzen
dieser Gemeinschaft. Die wurden mit Schengen nicht abgeschafft, sie Grenzlinien
wurden nur verschoben, hier sind wir seit dieser Woche ein Stück weiter.
Was geschieht aber, so könnte man fragen, wenn der Gesetzesbruch seitens der
Bundesregierung gebilligt, ja, was zumindest den Schengen-Vertrag betrifft, zu
einer bloßen Marginalie verkommt? Dies könnte doch sekundär mit implizieren,
dass sich auch Bundesbürger demnächst ihre eigenen Gesetze machen und ganz
legitim Recht brechen. Wohin die eigene Rechtssprechung, Gewissenlosigkeit und
ein entgrenztes Rechtsverständnis – samt subjektivem Gerechtigkeitsverständnis
– führen, belegen linke und rechte Gewalt ja täglich in der gesamten
Bundesrepublik: Hetze, Pöbeleien, brennende Asylzentren, aufgestellte Galgen
für Politiker, die öffentlich zum Mord aufrufen. Dresden ist da leider keine
Ausnahme.
Grenzenlosigkeit eröffnet Freiräume, die mit
dem Recht kollidieren
Entgrenzung eröffnet Freiräume, die mit dem gesetzten Recht kollidieren.
Denn jeder nimmt sich dann sein Recht, wird Richter aus subjektiven Ermessens-
und Gewissensgründen. Damit aber wären wir faktisch im unbefriedeten, rohen
Naturzustand, samt dem Recht des Stärkeren, wieder angekommen. Alle Mühen um
Rechtsordnung, Legitimation und Legalität von Rechtstheoretikern à la Hobbes
bis Kirchhof würden substantiell entkleidet und der demokratische Rechtsstaat
letztendlich obsolet. Das Resultat wäre ein „Kontrollverlust“, wie der „Der
Spiegel“ titelte, der aber, und dies ist neu, kontrolliert vollzogen wird. Die
Überschreitung der Gesetze, der rechtlichen Demarkationslinie, impliziert die
Metapher vom Rubikon, den Cäsar einst überschritt und damit dem Römischen Senat
den Krieg erklärte.
Grenzen bewahren vor Krieg, halten diesen zumindest zeitweise auf,
Terrorakte hingegen machen auch vor Grenzen bekanntlich keinen Halt. Dieser
Logik der Begrenzung widerspricht aber die Bundeskanzlerin, wenn sie glaubt,
dass offene Grenzen in Europa die Kriegsgefahr vermindern. „Den Rubikon
überschreiten“, also die Grenzlinie, steht auch heute noch dafür, sich
unwiderruflich auf eine riskante Handlung einzulassen – dem muss sich auch
Bundeskanzlerin Merkel bewußt sein, und sie ist sich dessen nach Paris auch ein
Stück weit bewußt geworden, selbst wenn sie mit ihrer Entgrenzungsstrategie bei
der Flüchtlingspolitik möglicherweise unserer Zeit weit voraus und bereit ist,
das Ende des Westens vorwegzunehmen und die Interkulturalität einzuläuten. Wenn
dies also ihr „historischer Weitblick ist, der sie antreibt, so „überfordert er
nicht nur Europa“, wie Jochen Buchsteiner in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung schrieb, sondern eben auch die Bundesbürger.
Während für die einen die Grenze Substanz bedeutet, die Souveränität,
Autonomie und Rechtsstaatlichkeit garantiert, ja zur Existenzfrage und
Gretchenfrage eines politischen, ökonomischen und moralischen machtvollen
Europas wird, sind Grenzen für die anderen obsolete Relikte vergangener Zeiten.
Sie stehen symbolhaft für einen überwundenen Nationalismus, für politische
Rückständigkeit und provinzielles Denken. Grenzen zu akzeptieren widerspricht
einem emanzipierten Lebensgefühl, dem Weltoffensein und dem
Selbstbestimmungsindividualismus. Sie sind und bleiben restriktive Zeichen von
Exklusion, und ihre Vertreter setzen die Prämisse auf die radikale Überwindung
der Inklusion als Prinzip.
Die postmoderne Entgrenzung
Ein Blick in die Geschichte der letzten hundert Jahre zeigt, wem diese
Denkschablonen der Entgrenzung ursächlich mit zu verdanken sind,
beziehungsweise, wo diese ihren Ursprung haben, was aber keinerseits bedeuten
soll, dass diese – oft philosophischen Denkmuster – ad absurdum zu führen sind.
Sie sind ein notwendiger Teil reflexiver Selbstbestimmung und damit freiheits-
und rechtskonform.
In diese Richtung gehen Strukturalismus und Postmoderne gleichermaßen.
Ferdinand de Saussure und seine Semiologie, Claude Lévi-Strauss mit seinen
ethno-soziologischen Studien und mit seiner Unterscheidung in kalte und heiße
Gesellschaften und – darüber hinausgehend – die Renaissance der Begriffe
Kontiguität, Similarität und Opposition. Sie sind es, die für einen
Strukturwandel mit Blick auf die Entgrenzung stehen. Noch deutlicher zeigt sich
diese Entwicklung bei den Postmodernisten, den Post-Aufklärern und den
Vertretern der Posthistoire. Sie postulieren, dass Grenzen, historische
Begrenzungen, aufzuheben sind, sei es in der Kunst, Philosophie, Politik und
Geopolitik. Für ihre Protagonisten sind sie nichts anderes als unsägliche
Beschränkungen der Meinungsfreiheit. Darüber hinaus inkludieren sie beklemmende
Denkmuster, die der offenen Gesellschaft diametral entgegenstehen. Gilles
Deleuzes „Differenz und Wiederholung“, Termini wie Heterogenität, Vielheit,
nomadische Wissenschaft und der organlose Körper sowie Jacques Derridas
différance-Schrift, wo das Subjekt entsubjektiviert und die die Schrift
verobjektiviert wird sowie die monochromatische Kunst und die
avantgardistischen Montagetechniken des Films – ihnen allen gemein ist die
Demarkierung, die Entgrenzung. Mehr noch: die Grenzenlosigkeit ihrerseits wird
zum Prinzip erklärt. Die Differenz als Prinzip, dies haben sich die 68er dann
zur Maxime gemacht und dabei das Reelle zugunsten des Virtuellen aufgegeben.
Platon und die Idee der Einheit
Der Platonismus samt seiner Begrifflichkeit vom All-Einen, die Totalität von
Allem im Einen wurde gekippt. Dabei wußte schon Platon, dass Vielheit ohne
Einheit, Grenze, nicht denkbar noch erkenntnistheoretisch bestimmbar war.
Einheit und Vielheit bedingen sich, ohne Einheit keine Vielheit, aber eine
bloße Vielheit, eine Unbestimmtheit oder Grenzenlosigkeit an sich, läßt sich
weder denken noch realpolitisch, im Staatsgebilde, umsetzen. Selbst für den
deutschen Idealisten Johann Gottlieb Fichte war die Unbestimmtheit nur Grund
zur Bestimmtheit und damit zur Selbstbestimmung sowohl in
erkenntnistheoretischer als auch praktischer Hinsicht. Immanuel Kant
seinerseits forderte 1794 eine „Religion innerhalb der Grenzen der bloßen
Vernunft“, eine philosophische Religionslehre, die auf der Vernunft beruht, die
sogenannte Vernunftreligion. Nur zu gut wußte Kant, wohin es führt, wenn die
Vernunft von der Religion verführt wird. Kant leitete somit das Recht nicht aus
der Natur des Menschen ab, sondern verstand dieses als ein von Menschen
konstituiertes Vernunftrecht, das unabhängig von allen historischen,
kulturellen, sozialen und religiösen Umständen Gültigkeit besitzt. Gott,
Freiheit und Unsterblichkeit bleiben dann eben nur regulative Ideen. Dass er
die Religion dabei in die Grenze zwang, dazu war ihm der Terror der Französischen
Revolution Grund genug.
Kants Postulat des Sittengesetzes als Grenze
Moralisches Handeln ist für den Königsberger Philosophen nur aus Pflicht
möglich, sofern sich der Mensch aus Freiheit für das moralische Gesetz, die
Grenze, Selbstbegrenzung, das Sittengesetz, entscheidet. Das Freiheitsrecht
bleibt dann das einzige Menschenrecht, von dem sich alle anderen Menschenrechte
– einschließlich der allgemeinen Gleichheit aller Menschen in einem Staat und
der Selbständigkeit – deduzieren lassen. Und demgemäß sieht Kant die
Legitimation und vorrangige Aufgabe des Rechtsstaates genau in dieser Sicherung
und Erhal-tung des Freiheitsrechts durch das begrenzte Sittengesetz. Die
Wahrung des Freiheitsrechts wird somit für den Philosophen der Aufklärung zur
Legitimation des Staates. Verletzt der Staat die Freiheitsrechte, so tastet er
damit seine eigene Legitimation an.
Nochmals: Freiheitsrechte haben Gesetzescharakter, sind nicht willkürlich,
entgrenzt. Später wird Georg Wilhelm Friedrich Hegel betonen: „Freiheit ist
Einsicht in die Notwendigkeit“. Freiheit und Notwendigkeit widersprechen sich
bei Hegel nicht.
Karl Lamers, der ehemalige Vizepräsident der Europäischen Volkspartei (EVP), betonte schon vor Jahren mit Blick auf Europa: „Diese
Notwendigkeit ist die in Europa extrem dichte transnationale Wirklichkeit,
welche ja das Grundprinzip der nationalstaatlichen Organisationsform von
Politik aufhebt, nämlich die Grenzen.“ Dies darf aber im Umkehrschluß nicht
bedeuten, dass Europa seine Grenzen aufgeben darf – Schengen muss verbindlich
bleiben. Nationale Einheit und Notwendigkeit und transnationale Freiheit und
Differenz sind nur zusammen denkbar.
Eine unbegrenzte Inklusion bleibt eine naive Illusion, selbst wenn sie eine
Hoffnung, eine Utopie wäre. Oder anders formuliert: Entgrenzung kann nicht das
Ende einer politischen Kultur sein, selbst um der Humanität, die geboten und
wichtig ist, willen. Grenzen sind Schutzwälle, die Identität definieren, sie
bewahren uns vor jeglicher Form von Beliebigkeit und Gleichmacherei, sie
definieren die Nationalstaaten wie die Europäische Union, wie aber auch jedes
andere Land dieser Erde. Kein Land kann seine Grenzen aufgeben, ohne sich
selbst zu verlieren. Dies gilt nach den Terroranschlägen von Paris umso mehr,
denn hier zeigt sich die Entgrenzung in ihrer barbarischen Fratze, jeglicher
Kultur, moralischer Grenze entkleidet.
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