Erschienen in Ausgabe: No. 36 (2/2009) | Letzte Änderung: 27.03.09 |
von Peter Scholl-Latour
Die öffentliche Meinung und die Medien in Europa, mehr noch
als in Amerika, haben es sich mit den Krawallen in Tibet etwas leicht gemacht.
So wurden nepalesische Polizisten, die Mönche und Lamas verprügelten, als
chinesische Ordnungshüter dargestellt. Dass die Unruhen in der Hauptstadt Lhasa
mit Plünderungen und Verwüstungen durch tibetische Randalierer begannen, die
sich auf den Dalai Lama beriefen, und dass auch die muslimische Minderheit der
Hui unter diesen Ausschreitungen zu leiden hatte, wurde wohlweislich
verschwiegen. Die tätlichen Angriffe gegen die olympischen Fackelträger, zumal
in London und Paris, waren so präzise organisiert, dass sich der Eindruck einer
langfristigen Planung aufdrängte.
Bei den stets misstrauischen Chinesen wurde der Verdacht geweckt, eine
internationale Verschwörung sei im Gang, als der tibetische Gott-König von
Präsident Bush in Washington mit einer hohen Auszeichnung geehrt wurde, nachdem
ihn Angela Merkel in Berlin empfangen hatte. Die Drohung des französischen Staatschefs
Sarkozy, er werde der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele nur unter der
Bedingung beiwohnen, dass die Volksrepublik sich auf dem »Dach der Welt« zu
Konzessionen bereitfände, erinnerte eine Bevölkerungsmasse von immerhin 1,3
Milliarden Menschen an die gar nicht so ferne Epoche des westlichen Imperialismus,
als die europäischen Mächte im Begriff standen, das Reich der Mitte
aufzuteilen.
Inzwischen haben sich die Dinge zumindest oberflächlich beruhigt. Die
Schmähung einer behinderten chinesischen Fackelträgerin in Paris und wohl auch
die Boykottdrohungen Pekings gegen jede Form der Zusammenarbeit mit Frankreich
haben Nicolas Sarkozy bewogen, drei hohe Emissäre nach Peking zu entsenden, um
sich für diesen Übergriff zu entschuldigen. Schon die Ankunft der Fackel in
Australien vollzog sich unter ganz anderen Umständen. Dort leben 60 000
Chinesen. Bei der Ankunft des olympischen Symbols wogte ein Meer roter Fahnen,
und die relativ geringe Zahl der Tibet-Protestler wurde vom Schauplatz
abgedrängt.
In China selbst hatte die patriotische Entrüstung über die vermeintlichen
Demütigungen einen solchen nationalistischen Überschwang ausgelöst, dass die
hohen Gremien der Kommunistischen Partei, die seit der maoistischen
Kulturrevolution und dem Studentenaufruhr am Platz des Himmlischen Friedens
unkontrollierbare Massenkundgebungen mit Vorsicht genießen, sich sehr schnell
bemühten, die fremdenfeindlichen Exzesse in Grenzen zu halten. Um die
bevorstehenden sportlichen Wettkämpfe, denen das eigene Volk entgegenfiebert,
trotz allen Turbulenzen mit gewaltigem Pomp und in einer Atmosphäre der
Brüderlichkeit durchführen zu können, hat sich Staatspräsident Hu Jintao sogar
bereit erklärt, Sendboten jenes Dalai Lama zu empfangen, den man vor kurzem
noch als »reißenden Wolf in der Mönchskutte« beschimpfte.
Der Westen zeigt sich über diese unerwartete Konzession hoch befriedigt. Dass
hier ein Täuschungs- und Hinhaltemanöver praktiziert wird, ist keineswegs
auszuschließen. Im Ernst dürften die Entscheidungsträger der Volksrepublik gar
nicht daran denken, den Tibetern, deren große Mehrzahl den Dalai Lama weiterhin
als quasi göttliche Inkarnation ihrer ethischen und religiösen Identität
verehrt, eine reale Autonomie zuzugestehen. Das chinesische Staatsvolk der Han,
das selbst in dem Jahrhundert seiner Knechtung und Ausbeutung durch den Westen
ein tief verwurzeltes Gefühl eigener kultureller Überlegenheit bewahrte,
empfindet die diversen Fremdvölker, die dem Reich der Mitte einverleibt
wurden, immer noch als rückständige Barbaren. Was Tibet betrifft, so haben die
roten Mandarine von Peking sich seit den grauenhaften Verwüstungen, die die
Rotgardisten Mao Zedongs in den Lama-Klöstern anrichteten, mit gewaltigem
Aufwand bemüht, dieses unzugängliche Hochland mit einer modernen Infrastruktur
auszustatten. Überall entstehen heute Autobahnen. Die Bahnlinie aus Xian
erklettert sogar die Höhe von mehr als 5000 Metern. Die Aufforstung der
endlosen, kahlen Flächen ist in vollem Gang. Überall entstehen Fabriken. Das
Lebensniveau der Tibeter hat sich unter der Okkupation der Han erheblich
verbessert, was nicht sonderlich verwundert, lebte doch die Masse der
Untertanen des Dalai Lama zur Zeit ihrer prekären Unabhängigkeit als bettelarme
Leibeigene unter der strengen Fuchtel ihrer Lamas und Feudalherren. Die Theokratie
von Lhasa war alles andere als ein paradiesisches Shangri-La.
Den Chinesen ist es dennoch nicht gelungen, die im tibetischen Buddhismus
verankerte Renitenz der Tibeter gegen die hochmütige Bevormundung aus Peking
zu überwinden. Doch am Ende wird die Demographie, das erdrückende Übergewicht
der Han, den Ausschlag geben. In der Autonomen Region Mongolei ist die Zahl der
Einheimischen auf 10 Prozent gefallen. Den Tibetern, deren Hauptstadt Lhasa
bereits zu 60 Prozent von Chinesen bewohnt ist, droht ein ähnliches Schicksal
der Überfremdung, auch wenn in ihren Klöstern – zur Erbauung des anschwellenden
Touristen-Stroms – weiterhin die Buddha-Anrufung »om mani padme hom« erklingen
wird.
(c) Mit freundlicher Genehmigung der Ullstein-Buchverlage GmbH. Der Text ist
ein Auszug aus: Peter Scholl-Latour, Der Weg in den neuen kalten Krieg,
Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2008.
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